Dass Deutschland in Gefahr war, bestritt keiner. Das gesunde Nationalgefühl wurde zusehends durch innere Unsicherheit bedroht. Die europäische Berufung der Bundesrepublik stand auf dem Spiel. Patriotismus und Bewusstsein, per Geburt zur Elite unter den Völkern zu gehören, beides bröckelte. Mit verbalen Keulenschlägen war nichts auszurichten. Ein Volk stand am Scheideweg. Ungeführt.
Noch hielt Dr. Wolfgang Schäuble die Wacht an der Spree. Aber nichts half. Nach wie vor weigerten sich Sicherheitsbehörden, Aussagen zu verwenden, die unter Folter entstanden waren. Es war der Polizei einfach nicht beizubringen, dass sie mehr sei als ein Exekutivorgan. Arbeitsscheue ließen die Sitten verrohen. Die Kriminalitätsstatistik bewegte sich auf einem viel zu hohen Niveau. Und zu hohes Niveau ließ sich Schäuble nur ungern nachsagen.
Selbst das Kriegsrecht ließ sich nicht erweichen. Monolithisch stand es vor den Toren, die die Bundeswehr als Schutztruppe auf die Deutschen hätten loslassen können. Auch die Kampagne Integration ja – Doppelte Aufgaben nein brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Die Bürger stimmten mit überwältigender Mehrheit gegen die geplante Verfassungsänderung. Es blieb dem Bundesminister zuletzt nichts mehr übrig, als eine Bürgerwehr ins Leben zu rufen. Rein präventiv natürlich. Denn ein Staat, in dem Terroristen oder solche, die es eventuell werden wollen würden, den gleichen Schutz genießen wie der gesunde Teil des Volkskörpers, ein solcher Staat gerät von alleine in übergesetzlichen Notstand.
Das Inkrafttreten der neuen Regelung fand gemischte Resonanz. Während die Demokratische Volksrepublik Korea die Deutschen als ein Volk von Tatkraft und Eigeninitiative in ihren Medien aufzubauen versuchte, kritisierte der Berlin-Korrespondent der Washington Post den Fackelzug durch das Brandenburger Tor als unangenehm pompös überinszeniert. Seine Ausreise verlief problemlos.
Die Rekrutierung der Schutztruppe hatte sich als schwierig erwiesen. Obschon die Werbeflyer mit dem Slogan Du bist Sicherheit in einer Millionenauflage hergestellt wurde, fanden sich zu wenige Bewerber. Man erleichterte die Einstellung, da 87% der Interessenten beim probehalber durchgeführten Einbürgerungstest durchfielen. Ganze NPD-Ortsverbände traten geschlossen in die Truppe über. Wer ein Drittel seiner Freiheitsstrafe von mindestens sieben Jahren verbüßt hatte, konnte zur Bewährung ein zweites Drittel in der Bürgerwehr ableisten und bekam den Rest erlassen. Und noch immer waren die Reihen alles andere als fest geschlossen. Das Konzept 2.0 musste her.
In einem flammenden Appell fragte nun Schäuble das deutsche Volk, ob es von nun an bereit sei, seine ganze Kraft einzusetzen und die Menschen und Waffen zur Verfügung zu stellen, die es bräuchte, um der geistig-moralischen Wende in Deutschland wieder gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen. Als auch dieser Appell zwischen Spots für Höschenwindeln und Textildiscounter absoff, wurden Ein-Euro-Jobber zwangsverpflichtet.
Schon Stunden nach dem ersten Gelöbnis wurde das erste Sicherheitsrisiko ausgemacht. Zwölf Mann überwältigten auf dem Kasseler Bahnhof einen gefährlich aussehenden Mann in Jeansjacke, der einen Rollkoffer mitführte. Das Gepäckstück war, wie die sofort angeordnete Sprengung ergab, lediglich mit Leibwäsche, Sportschuhen und einem Kulturbeutel gefüllt. Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Ajay Ghodujali, Ordinarius für Angewandte Mathematik und seit seiner Geburt in Mönchengladbach deutscher Staatsbürger, gab auf der Pressekonferenz zu Protokoll, einen Ruf nach Princeton annehmen zu wollen. Wolfgang Schäuble ließ es sich nicht nehmen, dem international bekannten Denker eine gute Reise zu wünschen. Doch die Lage spitzte sich mehr und mehr zu.
Zunächst genügte es, einen Nachbarn zu haben, der im Ruf stand, einen Button mit dem nun so beliebten Spruch Jedermann an jedem Ort – mehrmals in der Woche Mord an der Innenseite seiner Jacke zu tragen. Dann wurden die Durchführungsbestimmungen verschärft. Was im offiziellen Sprachgebrauch freilich als Lockerung derselben bezeichnet wurde.
Die Gegenöffentlichkeit war besser organisiert. T-Shirts mit Aufdrucken wie Gefährder oder Raubkopierer fehlten in keinem Kleiderschrank. Sie brachten die Sicherheitskräfte in Schwierigkeiten. Denn nicht nur die eigenen Kinder hätten sie nun vorschriftsmäßig anschreien, kampfunfähig machen und schließlich nach ihren Personalien fragen müssen, sie selbst waren als Verwandte ersten Grades betroffen. Manche tauchten ab. Andere meldeten sich freiwillig zur Nachschulung. Ernst schritten sie durch das Tor der Akademie, gekrönt von ehernen Lettern: Sicherheit macht frei.
Einen Fauxpas beging Angela Merkel, die auf einer Jungdemokraten-Wahlveranstaltung in der Uckermark nichtsahnend die ihr angebotene Trend-Schokolade Schäublerone knabberte. Eine Süßigkeit, auf deren Packung der Schriftzug Das ist der Gipfel! zu lesen war und die mit dem Spruch Lass Dich verknacken beworben wurde. Die süße Rache des bürgerlichen Untergrunds ging um die Welt. Alle Titelseiten zeigten die Kanzlerin in Vollmilch. Ein Volk stand am Scheideweg. Denn was soll man da machen? Unterbindungsgewahrsam? Nach wie vor weigern sich die Sicherheitsbehörden.
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