Heute war es besonders schlimm. Ich kam kaum aus dem Bett. Noch immer taten mir die Seiten weh. Drei Nächte lang hatte ich nur gehustet. Weder Lutschpastillen noch Saft hatten mir Linderung verschafft. Und dazu kam das Knie, das sich weder beugen noch belasten ließ, beides zugleich schon gar nicht. Was auch kein Wunder war, schließlich hatte Jonas mir gestern die Schranktür mit voller Wucht vor die Kniescheibe gehauen.
In diesem Zustand markierte ich ein bisschen Frühstück, nahm eine Kopfschmerztablette und humpelte die Straße entlang zur Post. Vermutlich sah ich aus, als wäre ich gerade auf dem Weg zum Casting für einen schlechten Zombie-Film. Ich fror. Das kommt davon, wenn man trotz der klirrenden Kälte nur zwei Jacken übereinander trägt. Obwohl die Viren in mir eine Höllenparty veranstalteten.
Herrn Breschke ging es auch nicht besser. Er war zwar nicht erkältet, zog allerdings sein linkes Bein ein bisschen nach. Was Bismarck, den dümmsten Dackel der Stadt, nicht daran hinderte, seine Hundeleine um ebendieses Bein zu wickeln und seinem Herrchen das Gassigehen zu erschweren. Und kaum hatte mich Herr Breschke entdeckt, nutzte er auch schon die willkommene Pause für ein kleines Schwätzchen.
Zuerst zeigte er mir sein magnetisches Kupferarmband. Dass Kupfer an sich nur ganz selten magnetisch zu sein pflegt, hatte sich bis zu mir auch schon herumgesprochen, aber ich wollte ihn nicht unterbrechen. Mit diesem therapeutischen Schmuck, sagte mir Herr Breschke, versuche er schon seit Wochen, seine Gelenkbeschwerden loszuwerden. Seine Frau hatte es im Teleshopping-Kanal entdeckt und ihm überreicht, nachdem sie auf einem Fachkongress in der Kassenwarteschlange des Supermarkts von den Vorzügen afrikanischer Alternativmedizin und deren Sendezeit zur späten Vormittagsstunde erfahren hatte.
Nun schleppte er sich schon seit zwei Wochen durch die Gegend mit seinem Bein und Bismarck. Diese Sache sei tückisch, denn die Krankheit foppe ihn: kaum würde er aufhören, das Bein zur Vorsicht ein bisschen nachzuziehen, schon ließen die Schmerzen nach. Herr Breschke war verzweifelt.
Wer weiß, vielleicht hatte seine Frau einfach die Bestellnummer verwechselt und versehentlich ein Glücksarmband gekauft. Da hat er nun täglich das Paradies vor Augen und merkt nichts, weil er sich mit seinem unmagnetischen Bein beschäftigt.
Ich riet ihm, zu Doktor Klengel zu gehen. Er ist zwar der einzige Allgemeinmediziner in diesem Viertel, kommt langsam in die Jahre und unternimmt meistens nicht sehr viel mehr, als eine verhältnismäßig unspezifische Diagnose zu stellen, auf die man bei Lektüre eines Gesundheitslexikons auch selbst gekommen wäre, aber: er ist der einzige Allgemeinmediziner in diesem Viertel. Herr Breschke zuckte zusammen. Das würde seine Frau nie zulassen, flüsterte er. Unwillkürlich sah ich mich um. Außer Bismarck war nichts Gefährliches zu entdecken, und Bismarck war nicht gefährlich. Wenn man nicht zufällig eine Tulpe oder ein Gartenzwerg ist.
Ob ich ihm empfehlen sollte, das Ding ganz einfach ums Bein zu schnallen? Dann wäre es ein bisschen näher an der entscheidenden Stelle. Wegen des Magnetismus.
Herr Breschke rieb sein Handgelenk. Das Armband hatte vorschriftsmäßig abgefärbt. Er mache sich Sorgen. Ich vermutete, nun einen längeren Bericht anhören zu müssen, wie seine Frau sich über Grünspanflecken am Strickjackenärmel beschwert, musste aber erfahren, dass es ernster stand. Die Verfärbung sei möglicherweise ein Hinweis auf eine schleichende Herzerkrankung.
Ich wurde so bleich, wie ich konnte. Spontan erinnerte ich mich an den Leitartikel in der Fachzeitschrift, die ich beim Bäcker zu lesen pflege. Von einer seltenen Viruserkrankung sei dort die Rede gewesen, die aus den Tropen nach Europa eingeschleppt worden sei und sich nun auszubreiten drohe. Vor meinem fotografischen Gedächtnis sah ich den ganzen Bericht wieder. Es handele sich um das Dumm-Beutel-Syndrom, eine schwere Störung des Immunsystems, für die vor allem Patienten mit Überreaktion auf Kupfermoleküle anfällig seien.
Mit glasigen Augen guckte Herr Breschke mich an. Es komme, fuhr ich fort, allmählich zu einer Verknöcherung des Innenohrs mit nächtlichen Hustenanfällen. Der Haarwuchs ließe nach, und innerhalb weniger Monate würden die Fingernägel brüchig. Ob auch unregelmäßiger Stuhlgang und Heißhunger auf Zwiebelkuchen zu den Symptomen gehörten, wollte Herr Breschke wissen. Ich bedauerte, ihm dies bestätigen zu müssen. Für Menschen in den südlichen Zonen sei gerade das unerträglich. Versuchen Sie nämlich mal, in Zentralafrika Zwiebelkuchen zu bekommen. Da sind Sie aber echt aufgeschmissen.
Väterlich fasste ich den Pensionär an der Schulter. Es gebe Linderung, versicherte ich ihm. Die Tropenbewohner pflegten seit Jahrhunderten eiskalte Sitzbäder zu nehmen. Täglich. Sofort nach dem Aufstehen. Eine Stunde lang.
Der alte Mann war erleichtert. Auch ich hatte ein gutes Gefühl, ihm nicht nur eine glasklare Diagnose zu stellen, sondern zugleich Hoffnung auf eine baldige Genesung zu verschaffen. Ich sah ihm noch lange nach, wie er sein Bein nachzog und versuchte, Bismarck aus der Leine zu entwirren.
Nächste Woche werde ich Breschkes mal besuchen. Ich werde Zwiebelkuchen mitbringen. Und Hustensaft.
Satzspiegel