Schöne Grüße vom Murmeltier

27 02 2009

Als Anne rechts rüberzog – sie geht vor Autobahnausfahrten immer schön rechtzeitig auf 180 herunter und bremst dann in der Kurve ab, einige Leute, die es überlebt haben, sagen, sie fahre wie ein Henker; manche äußern sich weniger zartfühlend – als Anne also rechts rüberzog, schloss ich die Augen. Man kann mit dieser Frau nicht diskutieren, das heißt, man kann schon, aber nicht im Auto. Also nicht, wenn sie fährt. Ist auch besser so, denn ich möchte nicht wissen, wie oft sie die Hände vom Steuer nimmt. Anne argumentiert gerne manuell, was bei 297 Kilometern in der Stunde ein merkwürdiges Gefühl in der Herzgegend auslöst.

Die Statistiker der Diözese sollen errechnet haben, dass die Zahl der Kircheneintritte signifikant zunimmt, wenn Anne eine Mitfahrgelegenheit anbietet. Ich hätte den Erwerb einer Busfahrkarte in Erwägung ziehen sollen. Lebend kriegen sie mich nicht. Er oder ich – und meines Wissens hatte der Papst seinen Golf längst eingemottet.

Noch ein kleines Stündchen Stadtverkehr, bis wir die 500 Meter zum Ärztehaus zurückgelegt hatten. Anne wollte noch eben schnell ein Rezept abholen. Eine gute Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten, das Hemd auszuwringen und den Puls langsam wieder auf 130 zu bringen.

Ich löste den Anschnallgurt, öffnete die Beifahrertür und muss mir wohl den Kopf gestoßen haben. Jemand hatte die Beleuchtung ausgeknipst und ich fiel in etwas hinein. Es war wie Magnesiumlicht, nur ungefähr hundert Mal so hell. Drüben vernahm ich erst verzerrte Stimmen, dann wurde es deutlicher. Was war das? Akustische Leuchtreklame? Die Klingelton-Charts? Es war alles zusammen, es war Britney Spears. Oder doch Alexander Klaws? So genau war das nicht auszumachen. Was keine Frage des Lichts war. Und es schien hier unten verdammt glitschig zu sein.

Das Schild oberhalb des Abgrunds hatte ich flüchtig gesehen, als ich die Balance verlor, und es hatte sich mir in die Netzhaut eingebrannt: Eingang zur Cover-Hölle. Ich ließ alle Hoffnung fahren. Hier also landet das alles. In einer gigantischen Recycling-Anlage, die die Musik von Jahrzehnten einsaugt und zentrifugiert und als komprimierten Popschrott wieder ins Universum zurückkotzt.

An den Wänden des Schlunds klebten Cindy & Bert. Zwar nur als Plakat, aber das machte die Sache keineswegs angenehmer. Knapp oberhalb der Hörschwelle sang Jürgen Drews etwas von Doppelkorn und Feldbett. Die Feedbackschleife lief rückwärts – was mir zunächst gar nicht auffiel – und wurde von Marusha überlagert. Kein Zweifel, das war nicht die Oldschool-Version nach Dante, hier waren Techniker am Werk gewesen. Diese Hölle war selbst eine aufgebohrte Cover-Version.

Einem Meteoritenschauer gleich kamen mir auf der linken Spur Glasballons entgegen. Tausende unförmiger Kugeln voller Klumpen, die mit den Hüften wackelten, gewandet in Zweimannzelthosen und behangen mit riesigen Gartenschläuchen aus Bling-Bling. Es waren Retorten-Rapper, die aus dem Inferno katapultiert wurden und nur eine Aufgabe hatten: unschuldigen Menschen die Gehörgänge zu verstopfen. Der Fahrtwind säuselte noch einmal leise Say Yo Motherfucker, dann waren sie an mir vorbei.

Die Bilder begannen sich zu überlagern. Zehn Tenöre besangen zehn nackte Frisösen. Tokio Hotel moshten den Erzherzog-Johann-Jodler. Andy Borg interpretierte Herbert Grönemeyer. Die Spirale beschleunigte sich. Eine Allstar-Band mit Bela B. am Schlagzeug, der linken Hälfte des Goldried Quintetts und Kirk Hammett begleitete Karl Moik bei einem Nena-Medley. Zu den unangenehmeren Momenten gehörte der Anblick von Bro’Sis, die in einer Las-Vegas-Variante von Glücksrad auftraten und sich selbst nachmachten – vermutlich hatten sie niemanden gefunden, der den Job freiwillig übernehmen wollte. Zur Strafe drehten Céline Dion und Anastacia abwechselnd am Konsonanten-Roulette. Ich versuchte, die Augen zu schließen, konnte es aber nicht. Musste nicht bald der Aufprall kommen? Und was dann? Dieter Bohlen mit einer Ralph-Siegel-Maske? Oder umgekehrt?

In meinem Schädel hämmerte es. Schon wieder Billigtechno aus der Tiroler Skihütte? Vor meinen Augen erschien ein überdimensionales Murmeltier, das sehr langsam und mit Rückwärtshall auf mich einredete. Es griff nach meinem Hinterkopf. Das also war das Jenseits? Ich hatte es mir irgendwie ganz anders vorgestellt. Woher kamen diese komischen Geräusche? Warum stank es hier so nach Alkohol? „Er ist tot, Herr Doktor Klengel!“

Das Murmeltier hatte die Sonnenbrille in die Stirn geschoben und blickte mich aus schreckgeweiteten Augen an. Faszinierend. Der Mann mit dem Spitzbart tupfte an meiner Schläfe herum und meinte, es sei nur eine Platzwunde. Immerhin bestehe starker Verdacht auf eine Gehirnerschütterung, weshalb der Patient nun in die Klinik verbracht werden müsse. Ich hätte zuletzt unaufhörlich gesungen, unter anderem obskure Lieder wie das vom Wiedehopf im Mai.

Anne fragte Doktor Klengel, wie ernst es wirklich sei und was das mit dem Wiedehopf auf sich habe. Der replizierte trocken: „Ich bin Arzt und kein Schallplattenverkäufer.“ Aber was versteht Anne schon von guter Musik. Sie denkt ja bis heute, den Scotch habe eine alte Dame in Leningrad erfunden.