„Sie sehen überarbeitet aus“, konstatierte sie, „Ihnen fehlt die innere Ausgeglichenheit.“ Sieht man überarbeitet aus, wenn einem die Finanzkrise im Vorbeigehen aus der Vollbeschäftigung einen Halbtagsjob macht? Vermutlich hatte ich einfach nur schlecht geschlafen. Aber vielleicht war ja wirklich etwas dran. Sonja Kasper-Eichholz, Psychologin und dennoch um mein Seelenheil bemüht, musterte meine Räumlichkeiten.
„Ihr Schreibtisch ist unaufgeräumt. Sie halten das für kreatives Chaos, aber es ist einfach nur Chaos und nicht kreativ.“ Hm. Ja. Von Zeit zu Zeit spiele ich mit dem Gedanken, ein Schild mit der Aufschrift Hiroshima drüberzuhängen. Aber noch war es übersichtlich. „Ein aufgeräumter Schreibtisch entspricht einem aufgeräumten Geist.“ Während sie in die Papierberge griff und alles auf den Boden schleuderte, fragte ich sie, was einem leeren Schreibtisch entspräche. Sie musste es wohl überhört haben.
„Haben Sie klare Ziele im Auge? Was machen Sie eigentlich heute?“ Ich klärte sie darüber auf, dass ich just damit beschäftigt war, eine neue Zahnpasta im Bewusstsein der Deutschen zu verankern. „Ja aber, das kann doch nicht alles sein. Das ist doch keine Lebensaufgabe für einen akademisch gebildeten Menschen!“ Ich beruhigte sie. Natürlich würde ich mich gleichzeitig um den Etat eines Schokoriegels kümmern. „Da haben wir’s“, triumphierte sie, „Sie widersprechen sich! Sie fokussieren Ihre Arbeit nicht auf ein einziges Ziel. Sie sind innerlich zerrissen, weil Sie sich nicht entscheiden können und es auch gar nicht wollen.“
Ich will Miete und Versicherungen bezahlen. Mehr nicht. Aber machen Sie solche Banalitäten mal einer Diplom-Psychologin klar.
„Sie müssen Ihre Arbeitszeit einteilen. Sie dürfen nicht kontinuierlich an einer Sache sitzen, sonst werden Sie blind!“ Stimmt, ich sah jetzt schon kein Licht mehr. „Wechseln Sie Ihre Perspektiven. Höchstens eine halbe Stunde, dann müssen Sie eine neue Sicht der Dinge gewinnen. Und dann innerlich wieder frei werden durch Meditation.“
Was macht da ein Chirurg? Bittet der das Unfallopfer, eben mal ein Stündchen zu überleben, während er sich einer Gallenblase widmet und dann gemütlich eine Lotosblüte hinters Ohr klemmt? Ich schielte nach dem Paketband. Sobald Feng Shui ins Spiel käme, würde ich ihr den Mund zupflastern.
Eine E-Mail unterbrach das Gespräch. Combat Communications schickte die Quartalszahlen und brauchte eine Intranet-Botschaft für die Mitarbeiter des Versicherungskonzerns. Bevor ich noch zum Hörer greifen konnte, klickte Kasper-Eichholz das Fenster einfach weg. „Sie machen sich ja komplett zum Sklaven der Kommunikation! Sie sind ja völlig fixiert aufs Kommunizieren, da ist es kein Wunder, dass Sie gar keine Zeit mehr zum Arbeiten haben!“ Ob daher meine Überarbeitung rührte? Käme ich am Ende gar nicht zum Arbeiten, weil ich dauernd Aufträge annähme?
„Mein Gott!“ Die Seelenkasperin wühlte sich durch meine Korrespondenz. „Sie haben gestern neunzehn E-Mails verschickt. Neunzehn! Das kann doch nicht gut sein!“ Was daran falsch wäre. „Sie müssen lernen, Wichtiges zu erkennen. Sie sind immer erreichbar, Sie antworten auf alles – wann sind Sie produktiv?“ Schon war sie drauf und dran, meinen Postausgang zu löschen, doch ich fiel ihr in den Arm. „Differenzieren! Es reicht, wenn Sie zweimal täglich E-Mails checken!“ Aha. Sicherlich ein Vorteil von elektronischer Kommunikation, dass sie nicht nur schnell beim Empfänger, sondern dort auch unbegrenzt lagerungsfähig ist. Mir war das noch nie so richtig bewusst gewesen.
„Reduzieren Sie! Beantworten Sie höchstens fünf Nachrichten am Tag! Alles andere ist doch Leerlauf!“ Und wenn ich weder Aufträge bestätigen noch Arbeiten abliefern würde, dann wäre ich frei? „Sie müssen eben unterscheiden. Nicht jede Arbeit bringt Sie wirklich weiter. Nicht jede ist erfüllend.“
Fabelhaft. Der Dalai Lama in Stöckelschuhen und Putzfrauenparfüm. So hatte ich mir das mit der Erleuchtung immer vorgestellt.
Vor meinem geistigen Auge verschwommen kühne Perspektiven: mein Supermarkt. Vor der Kasse würde ich stehen. Und differenzieren. „Ene, mene, mink, mank, tja Frau Schmidt, Sie sind leider raus, kommen Sie morgen wieder oder gehen Sie zur Konkurrenz.“ Sie würden mir den Schädel einschlagen. Aber ich bekäme den Nobelpreis. Für Wirtschaftswissenschaft.
Telefon. Miehlke. Partner Partner Friends & Partner. Er bräuchte mal eben einen Preis für einen Markennamen. Tiefkühlkost. Drei Vorschläge. Sie strahlte. „Das ist die Gelegenheit!“ Ich wies sie darauf hin, dass so ein Auftrag nichts Besonderes wäre in meiner Branche, aber sie korrigierte mich. „Schicken Sie sofort eine Mail an alle, die Sie kennen! Rühren Sie die Werbetrommel, machen Sie es publik! Verstecken Sie Ihre Erfolge nicht!“ Es half nichts, ihr zu erklären, dass ich den Auftrag weder in der Tasche hätte noch einen zufriedenen Kunden vorweisen könnte. Doch das beeindruckte Sie nicht. „Sie sollten allen zeigen, wie kreativ Sie sind. Kommunizieren Sie, welches Ziel Sie sich setzen!“
Ich hörte meinen Blutdruck aus den Ohren pfeifen. „Jetzt hören Sie mir mal zu: die Chancen, dass dieses Zeugs überhaupt jemals auf den Markt kommt, stehen zehn zu eins.“ Ungerührt wies sie mich darauf hin, dass öffentlicher Druck eine ungemein stimulierende Wirkung ausüben könne. „Entschuldigen Sie mal, ich mache mich zum Vollhorst, wenn ich diesen Auftrag danach nicht an Land ziehe!“ Da wurde sie patzig. „Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich Ahnung von Ihrem Beruf?“
Ich packte sie, stopfte sie in die Besenkammer und schloss den Verschlag ab. Zweimal. Sie klopfte, schrie und heulte. Ich ignoriere das, und zwar seit letzten Mittwoch. Zweimal am Tag schaue ich nach, ob der Schlüssel noch steckt. Ich fühle mich seitdem viel ausgeglichener. Irgendwie motivierter. Psychologie ist schon eine feine Sache.
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