Der Zauber des Augenblicks

4 03 2009

Ja, ich besitze einen Fotoapparat – igitt, klingt das inzwischen antiquiert plus spießig mit leichter Kopfnote von Guck-mal-Mammi-ein-Nerd, fast wie „Badestube“ – und es ist eine Spiegelreflexkamera. Mechanisch, analog, weder Autofokus noch Belichtungsautomatik, absolut schnickschnackfreie Technik Baujahr 1983. Da macht man Filme rein, Azetatstreifen mit Silberhalogenid, und wenn man doof ist, wickelt sich der ganze Schmadder auf oder wird beim Öffnen der Kamerarückwand in einem Rutsch ausbelichtet, dann ist eine Woche Urlaub futsch, keine Erinnerungen mehr an Louvre, Eiffelturm und Tuilerien, und Hildegard will sich mal wieder kurz vor der Verlobung scheiden lassen. Das prägt.

Wer das Ding heute sieht, wenn es zu seltenen Anlässen den Schrank verlässt, lächelt gönnerhaft. Allenfalls. Man kommt sich mitunter vor wie Hautpilz auf Beinen, wenn man mit weniger als zwölf Megapixeln übers Straßenfest schlendert. Früher linste noch mal einer beim Einstellen der Belichtungszeit über die Schulter: „Pushen Sie? Ich bin gerade bei 800.“ Digitaldilettanten müsste man erst mal ein Fremdwörterlexikon in die Hand drücken, damit sie kapieren, dass Korn nichts mit Kimme zu tun hat. Sie haben keine Ahnung. Wissen nicht einmal, dass ein Film das Herzstück der Kamera ist.

Und zugleich ihr Problem. Das Zeug ist so teuer wie störrisch. Der Profi hat darum ein halbes Dutzend Gehäuse und wechselt mit gezieltem Griff in die kindersarggroße Tasche vom 20-DIN-Farbdiapositiv auf 39-DIN-s/w-Negativmaterial. Ich bin kein Profi. Vermutlich hole ich aus meinem Oldie nur zehn Prozent raus. Aber das schaffe ich mit ein paar geübten Handgriffen und muss nicht durch ein Menü mit sieben Ebenen surfen, um von mittenbetonter Spot- auf Integralbelichtungsmessung zu wechseln, nebenbei die Sprache zu verstellen und dann auf Koreanisch die Sprachausgabe mit der Wettervorhersage für San Marino anzuwählen.

Schmerzliche Augenblicke verdanke ich meiner Spiegelreflexkamera, vielmehr der Tatsache, dass ich sie nicht dabei hatte. Es war um die Mittagszeit auf der Mönckebergstraße, Höhe Klöpperhaus. Ein junger Afrikaner war wohl gerade unterwegs zwischen Freihafen und Fischmarkt. Er lächelte keck in den Frühlingstag hinein und schritt übers kühle Pflaster. Barfuß. Eine Pudelmütze auf dem Kopf. In den Händen Blecheimer mit Bananen.

Einen der schönsten Augenblick auch. Denn das Ding kann was. Wenn man etwas kann. Gern denke ich an die Studienfahrt, als alle ihre Ausrüstung zückten, um Linda nach dem Don Giovanni vor dem Ständetheater auf Film zu bannen. Spät am Abend, eigentlich schon Nacht. Entweder blitzt man mit nicht einstellbaren Blitzen und stellt altrosa Flecken her, in deren Mittelgrund ein Nashorn im trägerlosen Schwarzen abtaucht. Oder man hat eine Box, die außer 1/60 keine Verschlusszeit kennt und nichts fabriziert als braungraue Krakel auf Graubraun. Ich machte mit der Blende ein bisschen mehr Schärfentiefe, um die Architektur mitzunehmen (die anderen hatten natürlich alle voll auf Linda draufgehalten, als sei Prag plötzlich aus der Halbtotale verschwunden und der Zauber des Augenblicks nur eine Metapher für den Wunsch, sie möglichst schnell nackt zu sehen) und einigte mich auf eine Viertelsekunde. Cartier-Bressons moment décisif. Es hat drei Wochen gedauert, bis der Film voll und entwickelt, die Abzüge eingetütet und abgeschickt waren. Aber ich habe, als sie sich der anderen kaum noch erinnerte, an Lindas Seite eine Traviata gesehen. Und nicht nur die.

Ja, ich habe auch eine Digitale. Fragen Sie nicht danach, sie ist eine Enttäuschung. Klar, man kann mal schnell ein paar Sachen schießen und hinterher die Fehlversuche wegschmeißen – also alles – und sie liegt auch gut in der Hand. Das war’s dann. Ein Schönwetterspielzeug, das ich nicht als Kamera bezeichne. Ich lief zurück ins Fachgeschäft und klagte mein Leid. Der Berater zeigte sich ratlos. Nein, er habe mir ganz sicher nicht gesagt, mit dem Teil könne man fotografieren. Kann man gar nicht. Mit dem Gerät könne man, das sei durchaus ein Unterschied, Bilder machen. Und das mir, dem altgedienten Lichtfinder im Sinndunkel. Ich habe es in meinem Definitionskeller unter „Bildsemantik“ abgelegt und eine Träne zerdrückt.

Mittlerweile bekommt man Mobiltelefone nachgeworfen, mit denen man unter anderem auch telefonieren kann. Und Fotos machen. Gar nicht mal schlechter als mit einer Digitalknipse, zwar immer noch am untersten Level der bildgebenden Verfahren, hemmungslos fehlbelichtet, farbstichig, unscharf wie eine Nacht auf Wodka, nachdem die Truppe längst weg ist und Jonas schon in der Küche festgewachsen, weil da die Vorräte stehen, aber meine Güte, es ist eben nur Spielkram. Passt in jede Jackentasche. Ist in meiner drin.

Doch so auch hier gilt: dabeihaben ist alles. Was ich vorgestern büßte. Als ich die Kartoffelschalen in die Ökotonne trug, schleppte aus dem Nachbarhaus eine junge Frau einen bedenklich scheppernden Umzugskarton auf einen voll beladenen Kombi mit süddeutschem Kennzeichen zu, dessen Motor schon lief. Ich wusste, ich würde sie nie wiedersehen. Mich nur daran erinnern, wie sie den Pappkasten auf Brusthöhe balancierte. Und dass sie dabei High Heels trug.