Wenske drückte auf den Knopf. Der Beamer beamte. Dreiunddreißig Kurven schlängelten sich an der Wand. Zur Vereinfachung schlängelten sie sich alle in Gelb. Nur knappe zwanzig Minuten, nachdem Wenske das Manuskript gefunden hatte, begann er seine Analyse.
„Wir stehen vor großen Herausforderungen. Die Briefzustellung der Zukunft wird nicht leicht sein. Wie Sie an der gelben Kurve sehen, haben wir ein Defizit, das ungefähr, äh, größer ist als erwartet. Die gelbe Kurve zeigt uns, dass wir zusätzlich einen Rückgang der Briefzustellungszahlen haben. Diese, nein diese, nein… also die gelbe Kurve steht für die Wochenarbeitszeit der Vorstandsmitglieder.“
Ein Aufschauern durchkroch den Raum. Wie die meisten gelben Strahlen knickte auch jener jäh ab. Doch er knickte nicht genug. Ein Zeichen dafür, dass die Schalter und Walter des Briefbringdienstes bald schon kaum mehr Zeit haben würden, sich beim Plaudern im Golfclub von den Strapazen einer Cabriofahrt zu erholen. Wenske bohrte weiter.
„Ganz abgesehen von den Leistungen unseres Personals – manche Zusteller mussten schon aus dem Dienst entfernt werden, weil sie freiwillig Überstunden machten, unbezahlt natürlich – haben wir mit massiven Problemen zu kämpfen. Es hat sich eine schwierige Lage ergeben. Die weiteren Einzelheiten erläutert Ihnen Kollege Sommermehr.“
Sommermehr ordnete seine Papiere und suchte seine Brille. Die dadurch entstehende Pause – zwei Vorstandsmitglieder besuchten unterdessen einen Nachtclub, ein weiteres unternahm spontan eine Urlaubsreise nach Ostasien – nutzte er, Wenske unauffällig zu fragen, was denn das Thema der Vorstandssitzung sei.
„Das Kernproblem ist der Kunde. Wir können dies Problem nur durch Eliminieren des natürlichen Feindes lösen: als kundenlose Post.“
Ein Raunen ging durch den Raum. Man hatte es geahnt, aber nicht erkannt. Sommermehr schilderte die Gefahr. „Wir haben es teilweise mit einer völlig überzogenen Erwartungshaltung zu tun. Unschöne Szenen spielen sich in den Postfilialen ab: Kunden erwarten, dass die von ihnen eingelieferten Briefe, wie soll ich sagen…“ Er schwitzte sichtlich. „Sie verlangen von uns, dass wir die Briefe zustellen.“ Der ganze Vorstand saß wie versteinert. Manche Obszönität hatten sich die Herren schon angehört. Absurdes und verschrobenen Unsinn. Doch dies schlug nun wirklich dem Fass den Boden aus.
„Wir können uns unanständige Wünsche nur vom Hals halten, indem wir die Vertriebswege für unser Produkt vollkommen anders gestalten. Herr Kollauer von Kollauer & Seeck Consulting hat da mal etwas vorbereitet. Bitte schön, Herr Kollauer.“
Der Berater bastelte am Beamer. „Wie Sie sehen, sind Ihre Produkte erstens zu billig und zweitens nicht ausgereift. Wir haben einen Drei-Stufen-Plan erarbeitet. Stufe eins: drastische Portoerhöhung. Ein Global Player arbeitet nicht für einen Euro, wir leisten etwas. Und Leistung muss sich wieder lohnen!“ Der Applaus gab ihm Recht.
„Stufe zwei startet mit einem völlig neuen Vertriebskonzept. Bieten Sie dem Postkunden mehr Möglichkeiten, seinen Brief zustellen zu lassen. Starten wir mit dem Tarif für vier Zustelltage pro Woche. Für einen zusätzlichen Tag, Montag oder Samstag, gibt es schrittweise ansteigende Tarife.“ Ein Vorstandsmitglied meldete sich. „Wo ist denn da der Nutzen?“ Kollauer antwortete: „Denken Sie mal an den Postkunden, der seinen Brief am Freitag einliefert. Er kann eine Stufe mehr bezahlen – dann liefern wir ihn schon am Montag aus. Zwei Stufen mehr: bereits am Samstag. Wer den normalen Weg wählt, darf am Dienstag mit einer Auslieferung rechnen.“ „Was heißt: darf rechnen?“ „Briefe erhalten ab sofort einen Eingangsstempel. Was älter als 48 Stunden ist, wird gar nicht erst befördert, sondern kostenpflichtig geschreddert.“
Wieder meldete sich der Frager. „Was machen unsere Briefträger an den Ausfalltagen?“ Kollauer lächelte wissend. „Ich sehe, Sie haben begriffen. Natürlich können wir nicht einfach so tun, als hätte die Post keine Arbeit – wir haben in den freien Zeitabschnitten Kapazitäten zur Zustellung von Werbesendungen, Postwurf und ähnlich lukrativen Dingen. Wir müssen keine Arbeitsplätze abbauen. Die Politik wird uns gegen alles verteidigen.“
Sommermehr drängte. So kam Kollauer zum Kernpunkt des Plans. „Punkt drei ist das Image. Wir müssen uns auf große Traditionen berufen. Groß, grau, hässlich, unflexibel, patzig – da wollen wir hin!“ Der Rest seiner Worte ging im Jubel fast unter. „Panzerglasscheiben, hinter denen Beamte Sondermarken verteidigen! Schalterstunden von zehn bis halb elf, der erste Postbeamte kommt um kurz nach zwei und trinkt bis Feierabend hinter seinem Fensterchen Kaffee und liest Zeitung! Wer nicht passend zahlt, wird weggeschickt oder…“ „Moment mal“, fiel ihm Wenske unwirsch ins Wort, „das geht zu weit!“ Kollauer zischte zurück: „Geben Ihre Automaten noch Wechselgeld heraus? Na also!“ Wenske schwieg verbittert.
„Es muss komplizierter werden! Ab sofort werden Einschreiben in der Dienststelle geöffnet, gescannt, per E-Mail verschickt – dort lagern sie dann automatisch so lange, wie es dem Sondertarif für die Zustellung entspricht – wieder ausgedruckt und dann zugestellt.“ Wenske versuchte es ein letztes Mal. „Und das Briefgeheimnis?“ Höhnisches Gelächter war alles, was ihm entgegen scholl.
„Natürlich alles kostenpflichtig, jeder einzelne Schritt. Dazu ein besonderes Qualitätsmanagement als flankierende Maßnahme: jede dritte Sendung wird an Ort und Stelle auf die korrekte Anschrift überprüft, stichprobenartig auch mehrmals, und bei korrekt angebrachter Empfängerbezeichnung in unserer Zweigniederlassung in Dilling innerhalb eines Jahres neu zur Zustellung gebracht.“ „Er meint Dillingen an der Saar?“, raunte Sommermehr seinem Nachbarn zu. „Er meint ad-Dilling. Im Sudan“, flüsterte der zurück.
„Meine Herren, das ist die Post der Zukunft! Wir werden dies Konzept auf dem internationalen Markt…“ Eine Stimme unterbrach ihn. „Gut und schön, aber was machen wir mit den steuerlichen Aspekten? Wir können doch die Steuern nicht unberücksichtigt lassen!“
Kollauer lehnte sich zurück und lächelte. „Ja, Herr Zumwinkel, haben Sie vielleicht eine bessere Idee?“
Jaaa, es gibt doch noch Pointen in diesem Land. Pyramidonal! Danke sehr.
Merci 🙂
Der Text ist schon gut, das Ende schlicht genial.
Der Seitenhieb mit dem Wechselgeld aus den Automaten…. merkwürdig: Da hat man es immer wieder vor Augen und trotzdem braucht es Dich, dass zu formulieren 🙂
Ich gestehe, das ist der Texter in mir. Wer das in den Knochen hat, kriegt’s nicht raus 😉
Das erinnert mich an die gute alte Postomi von ©Tom, die beim Warten am Schalter immer Spinnweben ansetzte. 😀
Jetzt wissen Sie ja auch, wer das ganze Chaos organisiert 😉
Sag noch einer, Blog-Lesen bildet nicht. Dem haue ich meinen Schild auf den Kopf! 😀
Ich müsste hier mal einen Sondermarkenschalter aufstellen… mit Ihnen wird mein Blog dann ja zuschlagpflichtig
Brauche ich dann eine Eine-Mark-Marke, um kommentieren zu dürfen? 😮
Nur, wenn Sie damit jemandem eine kleben wollen 😉
HolladieWaldBee! 😎
Danke für den Tip. Da fällt mir spontan auch jemand ein, dem ich eine kleben möchte. 😀
„Ich hätte dann gerne eine Eine-Mark Marke!“
Soll’s ein Geschenk sein? Dann mache ich den Preis ab 😀
Oh ja, gerne doch! 😀
Ich nehme dann noch den Zuschlag für das Einschreiben, damit ich sicher sein kann, dass es angekommen/angeklebt ist. Rückschein ist nicht notwendig. 😉
Euer Dialog ist fast so gut wie der Text. Impro-Kommentiererei als neue Comedyform?
@ Schildmaid:
Wir prüfen dann zur Sicherheit auch die Anschrift. Zustellung ist dann nächstes Jahr äääh… Samstag
@ Silencer:
Gleich mal gucken, ob schillerstrasse.wordpress.com noch frei ist 😀
@Bee: Nächstes Jahr erst? 😯
Wie soll das denn gehen, wenn nach zwei Tagen schon kostenpflichtig eingeschreddert wird? 😉
Danke, ich klebe lieber selbst. Und haue nochmals mit meinem Schild drauf, damit es ordentlich fest pappt.
@Silencer: Comedyshow? Aber ich will doch nur spielen. 😀
@ Schildmaid:
Tja, das der neue
logischeLogistik-Service. Man muss dem anspruchsvollen Kunden heutzutage schon etwas Aufregendes bieten 😉