Themenzentrierte Gehirnwäsche

10 03 2009

Bei Richard war es mal wieder voll. Wie fast jeden Samstag. Aber wann hat man sonst Zeit, zum Frisör zu gehen. Und irgendwann möchte man ja auch mal wieder einen ordentlichen Haarschnitt. Vor einem Opernbesuch sowieso.

So schlürfte ich meinen Espresso mit einem kleinen Fitzelchen Zitrone – das Ambiente muss in den frühen Achtzigern recht kostspielig gewesen sein, denn weder die transparenten Wassersäulen noch die Kunstleder-Sitzgruppe schienen sich schon amortisiert zu haben – während ich auf einen freien Platz in der Herrenabteilung wartete. Richard holte mich ab und warf mir den üblichen Umhang über die Schultern, nestelte an der Papierkrause, bis ich langsam wieder einatmen konnte und bat dann um Entschuldigung. Er müsse sich persönlich um jede Menge Strähnchen und einen Upstyle kümmern, die Kundin sei zu einer Hochzeit eingeladen und wolle der Braut den Tag verderben. Jacques werde aber bestimmt gleich da sein.

Jacques kam. Er zurrte die Halskrause noch mal unangenehm fest und begann mit der obligaten Konversation. „Messerschnitt, wie letztes Mal? Und hinten kurz? Ich werde auch gleich noch die Seiten stutzen, man trägt das jetzt so.“ Ich war einverstanden. Was macht man mit fünfzehn Millimetern Haar auch sonst? Löckchen drehen?

Zuvor massierte er allerdings ziellos auf meiner Kopfhaut herum. „Sind Sie vielleicht ein bisschen unzentriert heute?“ Ich verstand diese Frage nicht. Wenn ich nicht gerade genug sitze, kann mir dieser Läusesucher das nicht gleich sagen? „Möchten Sie vielleicht über Ihre Erfahrungen damit reden?“ Wo war ich hier? „Sie müssen sich selbst als psycho-biologische Einheit betrachten. Zugleich natürlich auch als Bestandteil des Universums. Also Ihre Autonomie ist damit quasi dialektisch zu Ihrer Interdependenz.“ Wo, verdammt, war ich hier?

Richard kam mit der Dauerwellenflüssigkeit vorbei. „Bitte um Entschuldigung. Das Job-Center hat uns Jacques aufs Auge gedrückt. Er ist, hm, schwierig.“ „Für einen Lehrling“, antwortete ich, „scheint er mir etwas alt. Was hat er denn vorher gemacht?“ „Psychologie studiert“, versetzte er.

Das konnte ja heiter werden. Dass ich mir jede Menge Styling-Tipps für trockenes, strapaziertes Barthaar würde anhören müssen, daran war ich gewöhnt. Aber ein Haarschnitt als Gestalttherapie?

„Sie haben da oben so einen kleinen Wirbel. Den wollen wir mal stehen lassen.“ Ich ruckelte hin und her, so weit mein Kragen es erlaubte. „Wollen Sie, dass ich wie ein Pinselohräffchen herumlaufe? Drüber mit der Maschine und fertig!“ „Nein, das ist eine Störung, die Vorrang hat.“ Ich begriff nicht. „Sehen Sie das einmal als körperliches Symptom Ihrer Tiefenschicht – Sie müssen das jetzt schon ausagieren, weil Sie sonst eine total falsche Dynamik bekommen. Ich lasse Ihnen das lieber stehen, weil Sie sonst eine falsche strukturelle Wirkung auf Ihr Umfeld ausüben könnten.“ Wobei es mir ziemlich egal war, was eine strukturelle Wirkung ist. Auch und gerade im Zusammenhang mit meinem edelsten Körperteil. Ich wollte nur einfach nicht wie ein schlecht gefönter Kakadu in den Meistersingern sitzen.

Einer der älteren Frisörwitze fiel mir ein. „Wie wünschen der Herr denn rasiert zu werden?“ – „Schweigend.“ Aber ich verkniff ihn mir. Am Ende würde ich auch noch eine freudianische Interpretation über mich ergehen lassen müssen.

„Sie sollten das auch mal systemisch sehen. Sie sollten sich die Möglichkeit geben, authentisch zu kommunizieren und absolut selektiv zu sein.“ Daher also seine Beschränktheit auf ein einzelnes Büschel. Was logisch klang, schließlich war in der Mode des herrschaftsfreien Diskurses ja auch ausschließlich Wildwuchs angesagt – auf dem Schädel wie auf der Innenseite.

Genau in diesem Augenblick wurde mir klar, warum die Psychologie ihre willfährigen Opfer als Chairperson bezeichnet. Einmal auf dem Stuhl, hat man keine Fluchtmöglichkeit mehr. Hinten die Lehne, vorne das Spülbecken, und wenn man Pech hat, schaltet jemand den Strom an.

„Ihre Körpersignale sind momentan eher konfliktarm. Möchten Sie das verbalisieren?“ Das lag daran, dass dieser Hilfshaarbeutel nicht mit dem Rasiermesser umgehen konnte, aber wie sagt man das, ohne den Dialog von der Ich-Du Beziehung ins Vorbewusste zu lenken? Ob hier Verdrängung schon wirkt? Oder sollte ich kurzfristig auf Urschrei-Therapie umschalten?

Vermutlich war ich dennoch am richtigen Ende der Fahnenstange. Inzwischen müsste die andere Hälfte der Psychologen nach meinen Berechnungen längst eine Fortbildung als Parkuhr genossen haben.

Er pinselte nervös in meinem Gesicht hin und her. „Also das muss jetzt sein. Ihre Kontaktgrenze. Das ist ja ein Wachstumsprozess. Sonst wachsen Ihnen nämlich die Haare nicht nach, wegen der konkreten Verbindung zur Umwelt.“ Was sollte jetzt noch alles kommen? Eine Gehirnwäsche mit Tiefenwirkung? Hastig stand ich auf, verließ den Frisörsalon und suchte sofort das Kaufhaus auf, wo ich mir Haarschneidemaschinen sämtlicher Formen, Farben und Preisklassen vorführen ließ.

Ich wage gar nicht, nächsten Montag zum Neurologen zu gehen. Was, wenn auch er schon psychologie heute im Wartezimmer liegen hat?