Wenn ich heute noch mal ganz von vorne anfangen sollte – nein, man kann das ja gar nicht. Tempora mutantur. Und sicher sind wir auch Kinder unserer Zeit. Denn die Zeit war unsere. Ob sie besser war? Jedenfalls will ich nicht noch einmal als Kind wieder von vorne anfangen müssen. Nicht heute.
Wie war das denn damals… da saßen wir im Hof, buddelten im Sand, spielten irgendwas, was wir gerade erfunden hatten. Eine Mutter kam und stellte ein kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk mit naturidentischen Orangenauszügen hin. Wir sagten dazu Apfelsinenbrause und tranken das aus der Flasche. Aus einer Flasche. Alle. Einmal mit der Hand über die Öffnung wischen und gut. Heute würde Heidrun-Gerlinde Schwölm-Pannekoke einen Kreischkrampf kriegen. Halbliterfläschchen mit natriumarmen Wasser ohne Kohlensäure würde sie anschleppen, mit dem Textmarker die Grenzen zwischen Malte-Melvin, Tobias-Timon und Steve-Martin festschreiben und jedem Blag immerzu seine Buddel unter die Nase halten, als seien alle ihre eigenen Kinder. Derweil degeneriert deren Immunsystem proportional zur Frustrationstoleranz und wir klonen fleißig Sozialkompott.
Oder die Kindergeburtstage. Ich erinnere mich an einen brüllend heißen Julinachmittag, an dem wir – sieben Stöpsel so zwischen zehn und elf – in Reinmars Garten in einem wassergefüllten Schlauchboot saßen. Keine Ahnung, woher das Ding kam. Vermutlich ein ausrangiertes Kampfschiff, das die Rote Armee im Grenzgraben vergessen hatte. Groß. Schwarz. Es dauerte zwanzig Minuten, bis Onkel Vollert das Boot seetauglich hatte. Noch sehr viel länger, wenn sieben kleine Rabauken auf der Fußpumpe herumtraten. Eine Ewigkeit, bis das Gummiding voll Wasser war.
Aber es war unser Schlauchboot. Wir schrieen, planschten, sangen unsinnige Lieder in ohrenbetäubender Lautstärke, aßen zwischendurch Butterkekse mit Erdbeeren, alle aus einer Schüssel. Keine Supernanny hielt aus dem Off einen Vortrag über Seuchenmedizin. Kein Eventclown machte mit uns pädagogisch wertvolle Selbsterfahrungsspiele, bei denen jeder mal gewinnen musste, damit wir hinterher nicht bei Angelika Kallwass aufschlagen.
Es war, vorsichtig formuliert, heiß. So heiß, dass wir auch um halb sieben noch im Paddelbecken saßen. Vollerts kamen mit zwei Körben herunter, brachten Würstchen, Senf, Kartoffelsalat, absurde Mengen von Schokoladen- und Wackelpudding. Es dämmerte schon, da stiegen wir aus dem Schlauchboot. Behielten die Badehosen an und zogen Pullover über. Spielten Rugbyfußball, sechs Mann und ein Torwart. Irgendwann wurden unsere Eltern telefonisch zusammengetrommelt, aber nicht zum Kinderabholen. Sie trugen Klappstühle, Sitzkissen, auch eine Obstkiste muss dabei gewesen sein. Sie tranken Wein und Bier und Schnaps, redeten, lachten. Herr Stadler, Charakterbass an der städtischen Oper, sang auch unsinnige Lieder in ohrenbetäubender Lautstärke. Onkel Vollert rauchte Pfeife. Die Sonne sank. Es war Freitag, Ferien, und die Welt war warm.
Sie war immer warm. Auch wenn der Seewind pfiff, wenn der Regen rauschte. Lars oder Axel standen einfach so vor der Tür, oder Klaus und Uwe. Oder alle. Fielen ins Zimmer ein. Waren einfach da. Wir mussten keine Termine ausmachen zwischen Sprecherziehung, Ballett und Wirtschaftschinesisch. Manchmal kamen Axel und Uwe, und ich war nicht da. Dann schickte meine Mutter sie zu Klaus. Sie sandte vorher kein Fax zu seinen Eltern, um zu eruieren, ob der Besuch von Freunden ihres Sohnes heute wohl genehm wäre.
Um sechs teilten Eltern mit, dass Klaus’ und Reinmars Mütter soeben den Rückzug der Söhne angeordnet hatten. Dann gingen sie. Zu Fuß. Kein SUV wartete vor der Tür, damit man nicht lausige fünf Minuten durch den Nieselregen tapern musste.
Oder um halb sieben klingelte das Telefon. Die Gespräche verliefen immer gleich. „Hallo, Frau Vollert! Nein, Reinmar ist nicht hier. Rufen Sie mal bei Hartmanns an. Danke, gleichfalls. Ja, richte ich aus. Tschüß!“ Ob die Mobilfunkbetreiber die Elternparanoia vor Kidnapping nur ausnutzen oder sie erst schüren, weiß man nicht. Sicher ist, dass heute kein Hosenmatz mehr ohne drahtlose Fangleine der Höhle entkommt. Wer da nach Afrika ausreißen will, um den ganzen Mammiwahn hinter sich zu lassen, hat mein Verständnis.
Ja, wir haben im Matsch gespielt, ohne dass eine Lazarettschwester von der Desinfektionstruppe hinter uns stand. Wir sind über Zäune geklettert und ohne Stahlhelm auf Fahrrädern ohne Gangschaltung und Gelsessel gefahren. Immer den Berg runter. Wir haben Eis und Pflaumen aus Hartmanns Schrebergarten gegessen und gleich danach Mineralwasser mit Kohlensäure getrunken. Wir hatten keinen eigenen Fernseher, wir hatten eine Rodelbahn.
Natürlich haben wir auch Klavier und Fagott und Hockey gespielt. Ging nicht anders. Aber zwischendurch auch Milchtütenfußball und Halma und Fangen. Wir hatten keine Gouvernante und keinen Personal Trainer. Bei uns gab es keinen Schulpsychologen, weil wir keinen brauchten. Wir litten nicht unter chronischer Aufmerksamkeit hyperaktiver Talentscouts. Wir litten, wenn die Ferien zu Ende waren.
Und keiner von uns ist je aufgewacht und hatte plötzlich ein Ich-war-als-Kind-schon-scheiße-T-Shirt an.
Satzspiegel