Der öffentliche Feind

18 03 2009

Die öffentliche Diskussion hatte das Thema lange Zeit gemieden, doch es ließ sich nicht länger vertuschen: der Staatsfeind musste ausgelöscht werden, bevor er das Volk in seine Gewalt bekäme. Rasches Handeln war das Gebot der Stunde – ohne Ansehen der Sache musste eine Lösung gefunden werden. Zwar wurde noch beratschlagt, um welches Problem genau es nun ginge, doch um solche Nebensächlichkeiten konnte sich in Todesgefahr nun keiner mehr kümmern.

Die nötige Begründung lieferte Christian Pfeiffer. Ihm war zu Ohren gekommen, dass bei einem in der Nachbarschaft wohnenden Pensionär im Gartenhaus eine Heckenschere gefunden worden sein solle – ein potenzielles Mordinstrument, gerade noch rechtzeitig entdeckt. Zudem stand der ehemalige Gymnasialdirektor im Ruf, das heutige Schulsystem scharf zu kritisieren. Der Kriminologe, dem zugetragen wurde, dass der 94-Jährige allabendlich seinen Schoppen Weißwein zu trinken pflegte, rechnete flugs aus, dieser habe im Laufe seines Lebens 8.500 Liter reinen Alkohols zu sich genommen. Zwar hatte Pfeiffer im Eifer die Menge des Alkohols mit der des konsumierten Weins verwechselt, wenn denn der Pädagoge bereits am Tage seiner Geburt sich dem Trunke ergeben hätte. Doch das störte keinen. Wusste man doch, dass diesem Akt der Lehrkraftzersetzung nur mit brutalstmöglicher Methodik beizukommen wäre – und sei es in den Gefilden der deskriptiven Statistik.

Den Rest besorgte der SPIEGEL-Titel Die Killer-Bestie von der Mosel, die einen bis dato unbescholtenen Winzer aus Trier zeigte, dessen trocken ausgebaute Kabinettweine seit Jahrzehnten regelmäßig prämiert wurden und für die Krone des deutschen Rieslings galten. Die Regierung rief in einem Akt des nationalen Notstands die Prohibition aus. Deutschland sollte auf dem Trockenen liegen.

Zunächst bildete sich in den Bahnhofsvierteln der größeren Städte eine Dünnbierszene, die jedoch leicht zu kontrollieren war. Mit Hilfe eigens abgerichteter Spürhunde bekam die Polizei die Delinquenten in den Griff. Ihre öffentliche Bestrafung – sie wurden erkennungsdienstlich behandelt und für den Rest ihres Lebens in einem Internet-Pranger ausgestellt – schien die Gefahr von Nachahmungstätern zunächst zu bannen. Doch die Inquisitoren sollten sich getäuscht haben.

Zwar senkte der Überwachungsdruck den Alkoholkonsum, da ein Großteil der deutschen Bevölkerung vorwiegend solche Anordnungen befolgte, deren Sinn ihm nicht ersichtlich war; dennoch kam es vermehrt zu grippalen Infekten. Da die pharmazeutische Industrie ihre Produkte auf alkoholische Lösungen umgestellt hatte – nach der Gesundheitsreform gab es keine rezeptpflichtigen Erkältungsmittel mehr – wuchs der Bedarf sprunghaft. Konspirative Husten-Partys durchzogen das Land. Deutschland schniefte. Der Hustensaft-Absatz brach alle Rekorde.

Wie zu erwarten wies die Kriminalitätsstatistik viel mehr Schwerverbrechen auf. Dies lag daran, dass Mord und Totschlag nun auch schon für eine Schachtel Weinbrandbohnen verübt wurden. Dies lag allerdings auch daran, dass Alkoholbesitz inzwischen als Schwerverbrechen galt. Endlich gab es einen Grund, die Beweislastumkehr in die StPO aufzunehmen.

Die Arbeitslosigkeit stieg auf einen historischen Rekord. Waren ganze Berufsstände, Winzer und Brauer, und mit ihnen in Jahrhunderten gewachsene Traditionen plötzlich verschwunden, so zog die Regierung doch ein positives Fazit: die Arbeitslosen hätten nun keine Gelegenheit mehr, es sich mit einem Glas Alkohol vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Mehrere Bundesminister schlugen sich gegenseitig für den Friedensnobelpreis vor. Die Stimmung war gespannt, aber euphorisch.

Auch der Fall des Heribert Kühnle erregte internationales Aufsehen. Der junge katholische Pater war zu einem Sterbenden gerufen worden, der in diesem Leben nur noch den Wunsch hatte, ein Abendmahl einzunehmen. Ein Stück Toastbrot und eine verstaubte Flasche Rotwein waren alles, was der Geistliche in der Küche des Alten fand. Mit den Segnungen der Kirche versehen ging der Mann in den ewigen Frieden ein. Nichts wäre geschehen, hätte nicht der Arzt, der den Totenschein ausstellte, einen Rest Weins im Teelöffel auf dem Nachttisch gefunden. Pater Kühnle war hinfort Freiwild für die Presse. Hatten zunächst nur vereinzelte Medien mit Mord im Dom und Der Teufels-Priester: Ich gebe dem Volk auch Opium getitelt, so brach ihm Pfeiffers Analyse das Genick. Der entlassene Landespolitiker wies glasklar nach, dass er keine Korrelation zwischen Alkoholkonsum und Ableben zu untersuchen gedächte, was den Schluss nahe legte, dass nur eine monokausale Erklärung in Frage käme; aus einem Feldversuch mit der Stichprobengröße n=1 hätte sich ergeben, dass der Verzehr alkoholischer Getränke in jedem Fall zwingend zum Krebstod des Probanden führte. Der Gottesmann war gerichtet.

Eine Einigung zwischen dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen und dem Heiligen Stuhl kam nicht zu Stande. Erstere Institution, die auch als KFN in den Landtagswahlkampf zog, reklamierte weiterhin das Dogma der Unfehlbarkeit für sich.

Fast brachte die Wende der Skandal um einen bayerischen Landrat. Alois Hurglbichler hatte nach einer Weihnachtsfeier und dem Genuss mehrerer Gläser Brennspiritus ein Fahrzeug auf dem nahe gelegenen Parkplatz aufgebrochen, eine großkalibrige Waffe entwendet und vierundvierzig Menschen auf dem Marktplatz erschossen, darunter die Sternsingergruppe des örtlichen Kindergartens. Die rasch einberufene Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Pfeiffer befand nach eingehender Beratung noch am selben Tag, dass der Unfall ausschließlich auf nicht gesetzeskonformer Aufbewahrung des Jagdgewehrs zurückzuführen sei. Der Besitzer habe zudem die Munition in seinem Wagen deponiert. Er bekam die volle Härte des Gesetzes zu spüren.

Ein Umdenken setzte ein. Mehr und mehr wandte sich das öffentliche Bewusstsein der Tatsache zu, dass in Deutschland immer noch geraucht wurde.