Lineare Regression

27 03 2009

Natürlich hatte ich mich für Breschkes gefreut. Sechs Richtige im Lotto, das hat man ja nicht alle Tage. Mit einem kleinen Sektempfang für Nachbarn und Freunde wurde der glückliche Zufall begossen, dann verkündete Herr Breschke seine Pläne für die Zukunft: während einer längeren Erholungsreise in den Schwarzwald sollte der Bungalow der Eheleute einer Komplettrenovierung unterzogen werden. Das nötige Kleingeld sei ja nun vorhanden, und es solle für die verbleibenden Jahre seines Ruhestands – hier zwinkerte der pensionierte Finanzbeamte mir zu – etwas Ordentliches sein. Nicht dieser neumodische Quatsch, sondern durable Qualität. Es sollte schließlich noch ein paar Jahre halten und Freude machen.

Was zunächst hieß, dass ich mich mit Breschkes Tochter um Bismarck stritt. Der Hund musste ausgeführt werden. Eine gewisse Affinität hatte dieser außerordentlich blöde Dackel zu mir entwickelt. Dennoch kam die Angelegenheit zu einer einvernehmlichen Lösung. An geraden Tagen holte ich den Hund bei Breschkes Tochter ab, die dann genügend Zeit für ihre Besorgungen hatte, an ungeraden pausierte Breschkes Tochter, damit ich den Dackel ausführen konnte.

So kam ich eines Tages, Breschkes atmeten schon seit vier Wochen die würzige Luft der Fichtenwälder im deutschen Mittelgebirge, an dem Anwesen vorbei. Ein Möbelwagen parkte in der Einfahrt. Bismarck wickelte wieder einmal die Leine um meine Füße und ich nutzte die Pause, um auf den Gartenweg zu treten. Vor der Tür stand der alte Beußelmann, ein unwahrscheinlich dicker Mensch mit Spiegelglatze, der beständig schwitzt. Doch er versteht etwas von Mobiliar und hatte mir schon einige schöne Stücke verschafft. „Na, junger Freund“, begrüßte er mich, „wie geht’s, wie steht’s?“ Schon witterte er meine Frage. „Ich hätte da für Ihre Schleiflackanrichte just zwei hübsche Hocker. Stahlrohr, Marcel Breuer, Sitze natürlich frisch bezogen. Würde ich Ihnen für 1700 pro Stück, was sag’ ich denn: 2500 für alle beide, abgemacht?“ Wenn er mich auch etwas überschätzte in Betreff meiner finanziellen Mittel, Geschmack hatte er. „Na, gehen Sie mal rein. Aber wundern Sie sich über gar nichts, ja?“ Bismarck zog an der Leine. Ich betrat das Haus.

Die Blümchentapete im Flur ließen mich schon Schlimmeres erahnen. Neu sah sie nicht aus, allerdings war ich mir sicher, dass bis vor einigen Tagen da noch Raufaser in Altweiß geklebt hatte. Was war hier geschehen? Ich tastete mich durch muffige Dunkelheit bis zur Tür und blickte hinein. Das Blut in meinen Adern gefror schlagartig.

Die Kücheneinrichtung sah aus wie die surreale Interpretation eines Heimatfilms, der unter der Oberfläche des Silbersees gedreht worden war. Eine weiß lackierte Anrichte mit Aufsatz, Scheibentüren mit Gardinen, Brotfach und einem ausziehbarem Geschirrtischchen stand da, wo bisher noch die Einbauschränke gehangen hatten. Der Elektroherd mit Umluftofen und integrierter Mikrowelle war einem Kohlenherd gewichen – einem emaillierten Monstrum mit umlaufender Messingstange. Ich rang erst nach Luft und dann nach Worten. „Gelungene Überraschung?“ Beußelmann war unbemerkt hinter mich getreten. „Breschke wollte das originalgetreu. Alles aus den Fünfzigern. Sie ahnen nicht, was ich unternommen habe, um diesen prähistorischen Schrott aufzutreiben. Na, kommen Sie mal weiter.“ Und mit diesen Worten zog er mich am Arm aus der Küche ins benachbarte Bad.

Nun war Breschkes Nasszelle nie ein Hort der Entspannung für Körper, Geist und Seele gewesen. Die blauen, mit stilisierten Orchideen überkitschten Kacheln standen in aufreizendem Kontrast zur Badewanne, deren Braunton – Frau Breschke hatte mir beständig ihr Leid geklagt – zudem mit dem weinroten Handwaschbecken disharmonierte. Dies alles war Herrn Breschkes Geiz geschuldet, der die Einzelteile seinerzeit der Konkursmasse eines Baustoffhändlers kostengünstig entnommen hatte, ohne Rücksicht auf Verluste oder das Urteil der Nachwelt. Und doch, ich sehnte dieses seltsame Ensemble zurück, denn meinem Auge bot sich zwar reines Weiß, aber es war aus lackiertem Metall in Gestalt einer frei stehenden Badewanne sowie eines Badeofens, der schätzungsweise zur Zeit des Reichskanzlers Caprivi konstruiert worden war. Die Kacheln waren – ein einziger Bruch, und nicht nur ein historischer – von mattem Grüngrau mit einem Stich ins Ockerfarbene, was man hinter der neu eingesetzten Milchglasscheibe im Fensterrahmen jedoch kaum bemerkte. Ich musste mich am Türrahmen festhalten. Beußelmann warf mir einen fatalistischen Blick zu. „Wenn Sie meinen, das sei schon alles, dann machen Sie sich auf die Krönung gefasst. Ich hoffe, Sie haben gut gefrühstückt.“ Und wir betraten das Wohnzimmer.

Zunächst sah ich Häkeldeckchen in rauen Mengen, die Chaiselongue und das nierenförmige Rauchtischchen nebst einigen an Scheußlichkeit nicht zu überbietenden Cocktailsesseln in Rostrot und Erbsengrün. Die dreiflammige Tulpenlampe schien alle Bestialität hämisch zu überstrahlen. „Und jetzt drehen Sie sich ganz langsam um. Ganz langsam!“ Ich tat, wie mir geheißen – wer beschreibt den Stoß in meinen Magen, als ich ein Büfett aus poliertem Edelholz entdeckte, dessen Formen gewaltig aus der Kurve getragen wurden. Gelsenkirchener Barock in seiner reinsten Form. Gewissermaßen der natürliche Widerpart zur linearen Regression.

Meine Brillengläser beschlugen von innen. „Tja, da sehen Sie, womit ich die letzten Wochen zugebracht habe. Breschke wollte und wollte unbedingt Originalstücke haben. Wissen Sie, wo ich das gefunden habe? Bei einem Sammler in Ecuador.“ Ich starrte auf das Möbel wie auf ein bizarres Insekt. Ungerührt fuhr Beußelmann fort: „Und zu einem Preis, ich sag’s Ihnen! Dafür bekommen Sie glatt zwei neue Stutzflügel.“ Ich fragte ihn, was in Herrn Breschke gefahren sei, und er antwortete mir prompt: „Ich weiß es nicht. Wenn Sie mich fragen, der Alte pickt längst am Vollmeisenknödel.“ Und plötzlich sah er ganz elend aus. „Ich kann das nicht mehr! Das ist mein letzter Auftrag, ich halte das nervlich nicht mehr aus!“ Er packte mich in höchster Verzweiflung an den Armen, wie ein Ertrinkender Rettung sucht. Schon wollte ich ihn fragen, was in ihn gefahren war, doch da kam schon einer der Möbelpacker hinein. „Chef, wo stell’ ich das ab?“ Er rollte eine Beistelletagère hinein, dreistöckig, dreieckig. Im dritten Stockwerk stand ein Gartenzwerg. Steingut in Farbfassung, um 1951. Und ich verstand.


Aktionen

Information

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..




%d Bloggern gefällt das: