Tiefergelegt

30 04 2009

„Guten Morgen! Behalten Sie ruhig Platz. Auch einen Kaffee? Ja, dann zwei Kaffee, danke. Ich will nur eben Ihre Bewerbungsmappe vom Schreibtisch holen, dann können wir auch schon beginnen.

Sie wollen sich also als neue PR-Managerin bei der Schräuble & Co. Tuning GmbH bewerben. Wollen mal sehen. Große Familie? Ja, da hat man natürlich immer ein schwarzes Schaf dazwischen, aber solange man selbst nicht… Ich sage ja immer: wenn man noch nicht im Knast gesessen hat, kann man die größten Schweinereien machen, hahaha! Eben, geht mir auch so. Man nimmt doch immer die eine oder andere Anregung aus dem Elternhaus mit, ob man’s will oder nicht. Mein Vater war ja auch schon völlig versessen auf Fahrzeuge, ich habe das Benzin quasi mit der Muttermilch in mich eingesogen. Wissen Sie, was mein Vater damals immer gesagt hat? ‚Tieferlegen ist keine Frage der Moral.‘ Das hat mein Vater immer gesagt, und er hat doch Recht? Eben, sehen Sie!

Wir arbeiten an einem völlig neuen Konzept. Früher, da konnte man eben dem normalen Fahrer noch Stoßdämpfer in die Hand drücken, da ruckelte es nicht ganz so arg auf dem beschissenen Pflaster, und für den Rest hat sich keiner interessiert. Heute geht’s anders zu. Stoßdämpfer? zur Werterhaltung des Fahrzeugs Stoßdämpfer verkaufen? damit man recht lange Freude an seinem Automobil hat? Gott bewahre, in welchem Jahrhundert leben Sie denn? Es geht hier nicht um rationale Argumentation, was denken denn Sie? Wie bitte, Vernunft? Logik, verstandesmäßig nachvollziehbare Entscheidungen auf Mehrheitsbasis? Wollen Sie mich veralbern? Hier geht es um Tuning! Einen Spoiler verkaufen Sie nicht mit Vernunft! Je durchgeknallter die Leute sind, desto mehr Spoiler setzen wir ab! Rausch, Hysterie, das sind unsere Marketingbegriffe. Hier zählen keine Tatsachen, hier zählt, was wir wollen: den Konsumenten kontrollieren, schikanieren, terrorisieren. Ja, terrorisieren, drücke ich mich etwa undeutlich aus? Was sonst macht man denn im Konsumterror, um Machtansprüche durchzusetzen? Eben! Zimperlich sind die anderen.

Wir kriminalisieren passende Marktsegmente. Ob das geht? Ja sicher, sonst würden wir es doch nicht machen. Wir stellen jeden Tag eine neue Liste mit verbotenen Zubehörteilen auf, mit dem Zubehör der Konkurrenz. Börsenkurse? Viel zu anstrengend. Das wird ausgewürfelt. Wer sich mit der falschen Frontschürze erwischen lässt oder mit Rallye-Scheinwerfern, die uns gerade nicht in den Kram passen, hat halt Pech gehabt. Die Autobahntruppen holen die Leute aus dem Wagen heraus, dann wird ein bisschen geprügelt, die Karre geht in Flammen auf, und die Fronten sind geklärt.

Jetzt hören Sie mal gut zu. Macht und Gewalt, genauer: Machtanspruch und Gewaltausübung sind zwei Seiten derselben schmutzigen Medaille. Die Wirtschaftsgeschichte fragt nicht nach den Opfern, das sind bedauerliche Einzelschicksale, die mir bitte nicht auf den Sack gehen. Wir operieren rein erfolgsorientiert und ohne Ansehen der Faktenlage, der Rest ist mir persönlich übrigens gleichgültig.

Wozu? Damit die Kunden ausschließlich das tun, was wir ihnen befehlen: unsere Produkte kaufen. Alles andere hat keinen Platz mehr auf dem freien Markt. Bedaure, so funktioniert eben asoziale Marktwirtschaft. Ich kann’s ja nicht ändern.

Unsere eigenen Produkte vom Markt nehmen? Einmal bisher. Ein Zulieferer wurde von einem jüdischen Produzenten übernommen, da mussten wir auch die eigenen Kunden bestrafen. Ich weiß nicht, wie es ausgegangen ist, interessiert mich auch nicht großartig. Sind doch nur Kunden.

Automechaniker? Karosseriebauer? Sie wissen, dass bei den vielen Kunden, die es gibt, rund 80 Prozent die ganz normalen Kraftfahrer sind. Und jeder kann eigentlich sich selber fragen, wen kenne ich, der die inoffizielle Konsumterrorregelung aktiv umgehen kann. Die müssen schon deutlich versierter sein. Das sind die 20 Prozent. Die sind zum Teil schwer Kriminelle. Die bewegen sich auf ganz anderen Straßen. Die sind versierte Fahrer, natürlich auch geschult im Laufe der Jahre in diesem widerwärtigen Geschäft.

Natürlich nicht an Polizeiwagen, ich bitte Sie! Mal muss ja auch Schluss sein. Also nichts gegen die Polizei – nützliche Idioten halt, billig zu haben – aber irgendwo ist eine natürliche Grenze. Ob die mit aufgemotzter Karosserie aus Behördeneigenbau durch die Gegend kacheln oder sich einen Turbo mit Lachgaseinspritzung in den Streifenwagen montieren, das ist mir schnurzpiepenegal. Können die auch gerne alles selbst aufbohren, kümmert mich rein gar nicht. Auch nicht, wenn es gegen die Straßenverkehrszulassungsordnung verstößt. Ich bin ja nicht der Justizminister. Und was ich nicht weiß, muss mich ja auch nicht heiß machen, habe ich Recht? Na also. Ich sehe, wir verstehen uns.

Diejenigen, die sich strafbar machen, also das aktive Anbauen von Teilen, das merken Sie, wenn jemand immer wieder versucht, die einschlägigen Fachhändler aufsucht für Tuningteile, und natürlich der Besitz, der Vertrieb, der Erwerb dieser Teile, da machen sie sich strafbar. Das ist unsere Philosophie. Begreifen Sie es jetzt?

Machen wir mal einen Praxistest, damit ich sehe, ob Sie sich auch in der Mitarbeiterführung zurechtfinden. Wir haben zu viele Mitarbeiter, die Dividende rächt sich. Die müssen weg. Die stehen aber an den Stanzmaschinen. Wie kriegen Sie die so raus, dass sie erledigt sind? Na? Sie stellen Stoppschilder an den Maschinen auf und bestrafen die Leute, die gemäß Arbeitsvertrag immer noch weiter Teile stanzen? und wer entlassen wird, bestimmt die Geschäftsführung je nach Lust und Laune? Und am Wochenende kann man jeden feuern, weil er weder nachweisen kann, dass er am Montag wiederkommen, noch, dass er der Arbeit fernbleiben wollte? Ich sehe, wir beide ziehen an einem Strang! Herzlich willkommen bei der Schräuble & Co. Tuning GmbH! Ah, da ist ja endlich der Kaffee. Darf ich vorstellen? Unsere neue PR-Kraft, Frau von der Leyen.“





Lemminge

29 04 2009

Es ging hektisch zu bei Trends & Friends. Alle Telefone piepten durcheinander, wichtig aussehende Gestalten liefen durch die Gegend und traten sich gegenseitig auf die Füße. Die Empfangsdame teilte mir mit, Frau Schwidarski sei noch nicht im Hause, werde aber jeden Augenblick zurückerwartet. Der Kaffee im Pappbecher hielt sich an die Vorschrift, er schmeckte nach aufgewärmtem Plastik.

„Wie schön, Sie zu sehen“, schmetterte ein schlaksiger Jüngling und rannte auf mich zu, „wir hatten Sie bereits sehnsüchtig erwartet. Mandy ist leider noch nicht da, aber wenn Sie mit mir vorlieb nehmen möchten? Minnichkeit, angenehm.“ Er reichte mir die Hand und deutete eine Verbeugung an. „Vielleicht gehen wir gleich schon mal ins Besprechungszimmer, dann können Sie sich noch ein wenig vorbereiten auf die Präsentation.“ So bugsierte er mich durch die von schwitzendem und schwatzendem Volk beklebten Gänge. Die meist jugendlichen bis immer noch jugendlich gehaltenen Mitarbeiter redeten, ohne Luft zu holen.

Da stürzte abrupt ein Mann im schneeweißen Anzug aus einer Tür und stieß im Korridor mit mir zusammen. „’tschulljung“, nuschelte er, „muss den Flug kriegen. Sind Sie der Typ für die Radiosache?“ Offenbar hatte sich meine Anwesenheit schnell herumgesprochen. Bei einer Trendscout-Agentur hätte man das allerdings auch erwarten können. „So, ich muss jetzt. Urlaub. Jemand ’ne Idee, wo man so hinfliegt diesen Monat?“ Ich schlug spontan Irland vor, erntete aber skeptische Blicke von dem Weißen. „Nee, Irland geht gar nicht. War vor zwei Monaten schwer in für einige Wochen, wird sicher erst nach Weihnachten wieder hip. Oder nächsten Sommer, kein Plan. So, ich muss jetzt aber echt. Jacqueline meinte vorhin, Beirut ist im Kommen. Muss sehen, dass ich noch ein Last-Minute-Ticket kriege.“ Und er verschwand, wie er gekommen war.

„Maxim ist unser Travel-Experte“, klärte mich Minnichkeit auf, „er muss unbedingt immer alle Locations sofort abchecken. Unter uns, ich finde, dass er letztens ein bisschen nachlässt.“ Fragend blickte ich ihn an. „Naja, der Anzug. Seit dem Frühjahr trägt man höchstens noch Wollweiß. Und seitdem er weiß, dass Zahnspangen hip sind, hat er sich mit 38 eine angeschafft.“ Ich war in eine Lemmingherde geraten. Alle rannten sie unsinnigen Direktiven hinterher und übersahen die Abgründe.

Rechts wichen wir dem Fotokopierer aus, da kam eine Praktikantin auf uns zu. „Guck mal!“ Sie hatte eine Menge Bilder in der Hand. „Das ist Fashion Week, können wir das so weitergeben?“ „Auf gar keinen Fall“, mischte ich mich ein, „Steghosen sind out, die Schuhe sind grauenhaft, total unsexy, und die Frisuren kann man nur noch beim Jahresball der Geschmacklosen-Gewerkschaft tragen.“ Sie sah mich verwirrt an. „Ändern Sie die Bildunterschriften, damit die Leser das nicht für trendy halten. In sind gerade Leggins mit floralen Mustern und Sandalen.“ „Aber die tragen doch Sandalen“, begehrte sie auf. „Das da sind aber Riemchensandaletten“, wies ich sie zurecht, „nur Sandalen mit weißen Socken sind mega-in. Tirolerhut! Meine Güte, leben Sie hinter dem Mond?“ Sie zog ab. Minnichkeit klappte sein Telefon zu und schaufelte unbeirrt den Weg frei.

Einige Türen weiter drangen enthemmte Disco-Rhythmen auf den Flur. Nichts gegen die Musik der Siebziger, nur war dies etwas laut. Ich stieß die halb geöffnete Tür auf; in dem winzigen Büro stapelte ein junges Mädchen Akten und schwang ihre Hüften zu dem ohrenbetäubenden Lärm. „Allô!“ Sie schrie mir auf einen halben Meter Abstand ins Ohr. Ob sie ihr Französisch in einem telefonischen Fernkurs gelernt hatte? Jedenfalls ließ sie sich nicht stören, nicht einmal durch die Blondine, die sich mit ins Zimmerchen zwängte und mir unvermittelt um den Hals fiel. „Hi Friend“, kreischte sie, „muss mal updaten: heute Abend was vor?“ Updaten? „Dates, you know. Ob Du heute schon nachtmäßig planned bist, you know.“ Sie fingerte ein Stück Papier vom Schreibtisch und suchte einen Bleistift. Dabei hatte sie ein iPhone an der Kordel um den Hals hängen. „Wollen Sie das nicht lieber gleich eingeben?“ „Oh well“, antwortete sie gelassen, „so phonemäßig ist das ja voll okay, aber die anderen Features sind irgendwie too complicated, you know. Da geht das mit dem… na, sag schon…“ „Zettel“, half ich ihr ein. „Worksheet, genau. Finnsten eigentlich mein Outfit? Zu overdressed?“ Ich blickte an ihr herunter. „Wollweiß ist okay, aber bitte ziehen Sie sich über die Unterwäsche noch etwas drüber. Blazer. Marineblau ist momentan sehr angesagt. Passt bestimmt.“ Dann wandte ich mich der Aktenstaplerin zu. „Wussten Sie eigentlich“, brüllte ich sie an, „dass man jetzt in Venezuela bei der Arbeit Marschmusik hört? Die Motivation ist enorm, probieren Sie es unbedingt einmal aus!“

Minnichkeit zog mich aus dem Raum und schob sich vor mir durch den Gang. „Haben Sie eigentlich den Kostenrahmen schon abgesteckt? Naja, machen Sie das mal besser mit der Chefin. Ah, da ist sie ja, sie muss den Hintereingang genommen haben. Hi Mandy!“ Frau Schwidarski drückte sich von der anderen Seite auf das Besprechungszimmer zu, im marineblauen Kostüm mit rosa geblümten Leggins, an den Füßen derbe Jesuslatschen über wollweißen Tennissocken. Aus dem Ghettoblaster auf ihrem Arm wummerte der Bayerische Defiliermarsch. Ihren Hut krönte ein gewaltiger Gamsbart.

Nun gut, reaktionsschnell war sie. Das musste ich ihr lassen.





Was das Herz begehrt

28 04 2009

Jedes Jahr dasselbe Theater. Kaum ist der Bodenfrost einigermaßen abgeklungen, kommen sie wieder auf mich zu. Gnaßfurth und Mutzigkeit belagern tagelang meinen Anrufbeantworter, sie bombardieren meinen Postkasten mit Bettelbriefen, wann ich denn endlich käme, um das anstehende Straßenfest planungstechnisch zu unterstützen. Gut, Hörstenbroich ist nicht groß, nicht zentral gelegen, geschweige denn verkehrsgünstig. Um die Wahrheit zu sagen, es ist eins der zahllosen Kaffs, deren Ortseingangsschild man erst bemerkt, wenn man die geschlossene Ortschaft schon wieder verlassen hat. Doch Hörstenbroich will die Meisterschaft um das Straßenfest des Jahres gewinnen – seit der Stiftung des Pokals gab es noch keinen Sieg.

„Das ist der bisherige Ablaufplan“, setzte mich Mutzigkeit ins Bild, „wir sind verzweifelt.“ Es war erwartungsgemäß ein Feuerwerk der Trostlosigkeit. Außer der Hüpfburg und einer Altkleider-Tombola war dem Komitee nichts eingefallen. Damit war der Pott nie zu holen. „Das Schlimmste ist aber“, bemerkte Gnaßfurth, „dass Krätzenroda und Schwitteringshausen in der Endrunde sind.“ Man habe, ergänzte Mutzigkeit, die Internetauftritte beider Metropolen im Auge, denn sie würden jede Entwicklung sofort publik machen. Keine geringe Herausforderung für Hörstenbroich, diese Perle am äußersten Rand der mondänen Welt.

Im nahe gelegenen Auwäldchen – zwei Bäume und ein leicht zu übersehendes Rinnsal – pflegt der Heimatverein Jahr um Jahr die Stelle, an der die napoleonischen Truppen vorbeigeritten sein sollen, um Hörstenbroich zu verschonen. Vermutlich haben sie die beiden Milchkannen schlicht ignoriert, was nichtsdestoweniger zu einem fünfzig Zentimeter hohen Gedenkstein reichte, den die Hörstenbroicher mit der Jahreszahl 1813 versahen. Die touristische Attraktivität des Denkmals unterstreicht eine Bude, die an Sonn- und Feiertagen zwar geschlossen ist, dazwischen aber körperwarme Kaltgetränke in sehr individueller Auswahl und Preisgestaltung offeriert. Von 1965 bis 1978 befand sich im Zentrum ein Wäschegeschäft, das nach dem Hintritt des Inhabers einem Ladenlokal für Unterhaltungselektronik mit integriertem Fußpflegeangebot wich; seit 1982 wird die Idylle lediglich zwischen sechs und halb eins von den Lebenszeichen der Bäckerei Breitjohann kontrapunktiert, die sowohl für völlig ungenießbare Backwaren als auch für den erbitterten Widerstand gegen jegliche Art von Service bekannt ist und dennoch stattliche Gewinne abwirft. Der älteste männliche Nachkomme der Breitjohanns ist seit dem Ende des Kaiserreichs jeweils mit dem Bürgermeisteramt sowie mit dem Vorsitz des Gewerbevereins betraut, was die Verwaltungskosten erheblich zu senken geeignet ist, von deren Qualität ganz abgesehen.

Unterdessen wartete das eine Kuhdorf mit einer Sushi-Meile auf, das andere mit einer Modenschau, moderiert von der Siegerin des ad hoc anberaumten Miss-Titten-Contest. Vorsichtig fragte ich nach der jüngsten Einwohnerin. Breitjohanns Tochter sei zwar mit ihren 38 Lenzen gut erhalten, befände sich aber derzeit in einer Spezialklinik zum Abspecken.

„Vielleicht könnte man ja über den Namen eine gewisse Weltläufigkeit kommunizieren?“ Was aber macht man in diesem Dorf? Eine Auwäldchen-Fete, eine Fuchs-und-Hase-Party mit anschließendem Abschied ins Koma? Fressen für die Umwelt? Intergalaktisches Schnarchsack-Jamboree? Von den Überlegungen, einen Orient-Basar mit China-Ecke einzurichten, hatte der Gewerbeverein sich rabiat distanziert. Bereits ein Schinkenfest besäße ihnen zu wenig Lokalkolorit; Hörstenbroich sei nun mal keine Hochburg der Schweinezucht.

„Da, es gibt Neuigkeiten“, berichtete Mutzigkeit und tippte auf den Bildschirm, „Krätzenroda hat es geschafft, Giros Rambazamba und seine Gitarreros für den musikalischen Teil zu engagieren!“ „Das ist das Ende“, stöhnte Gnaßfurth, „Freddie Calypso hat das Hunsrück-Schunkelfest für Schwitteringshausen abgesagt. Wir können einpacken.“ Hörstenbroich besitzt keine freiwillige Feuerwehr, so erübrigte sich die Frage nach einer Blaskapelle. Wie ein Orgelkonzert in der Kirche des Nachbarortes sich ins Programm einbinden ließe, wusste auch keiner.

„Wir müssen kein Kulturevent daraus machen“, tröstete ich die Verwalter, „etwas Straßentheater und Puppenspiel sind ja auch ganz hübsch.“ Das akzeptierte Mutzigkeit nicht. „Wir wollen diese Mistkrähen einfach nur von der Platte putzen, koste es, was es wolle! Herrgott, tun Sie doch etwas!“

Eine flüchtiger Blick auf die Elastizität der Finanzen, dann verteilte ich die Aufgaben. „Mutzigkeit, Sie grasen die Baumärkte ab. Hundert Kugelgrills, Holzkohle und Grillanzünder. Und Sie, Gnaßfurth, besorgen je 400 Kilo Schweinenacken und Schinkengriller.“ Sie guckten lethargisch. „Ja los“, trieb ich sie an, „haben wir Zeit?“ Schon warf sich das Festkuratorium in die Mäntel und stob aus dem Büro. Verschmitzt rieb ich die Hände. Dann griff ich zum Telefon. „Seffering, ich brauche zwei Tanklastzüge. Einmal zu Krätzenbräu, einmal in die Abfüllanlage von Flieges Pilsner. Tempo, Mann!“

Das Fest, das den Hörstenbroichern zum Sieg verholfen hatte, zählt zu den glanzvolleren Kapiteln der Ortsgeschichte. Die Hauptstraße war am folgenden Tag kaum zu identifizieren, befahrbar schon gar nicht, aber dafür hatte es sich gelohnt. Und es war der Jury nicht zu verdenken, dass weder Schwitteringshausen noch Krätzenroda bei ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Was ist schon ein Straßenfest ohne Bier.





Links gedreht

27 04 2009

Nachbarn sind ein merkwürdiges Phänomen. Man sieht und hört sie bisweilen monatelang nicht, dann wieder legt man den Gegenwert eines gut erhaltenen Öltankers für Nachnahmesendungen aus, während man zu späterer Stunde zusieht, wie der Putz ob der Beschallung von nebenan rhythmisch von der Decke bröckelt. Bestimmte Menschen parken ihren Drahtesel passgenau vor die Tür, um sicherzustellen, dass er einem beim Öffnen entgegenfällt. Andere wieder lagern ihre Habe – meist das, was in Gestalt von Altglas, ausgelesenen Zeitungen und löffelrein ausgeschabten Fischsalat-Verpackungen davon übrig bleibt – containerartig aufgetürmt auf dem Treppenabsatz, so dass man beim Ersteigen der Stockwerke früher oder später sich Stelzen wünscht, um schwerkraftinduzierten Folgen eines Fehltritts entgehen zu können.

Was wäre alles das aber gegen Sigune, die mit einem sanften Lächeln ausgestattet ist. Zartfühlende Gemüter nennen sie eine zum Individualismus neigende Enddreißigerin, die ihren Lebensalltag spirituell zelebriert. Bodenständige halten sie für eine Öktrulla mit esoterisch verursachter Vollmeise. Ich gehöre, wie gesagt, zur eher bodenständigen Fraktion. Und so stört mich ihre Existenz auch nicht, wenn ich nur nichts davon bemerke. Sie spricht mit ihrer Rohkost, ich hingegen erspare dem Schnitzel die Monologe beim Braten.

Wie es der Teufel wollte, schob sie mir ihren Einkaufswagen in die Hacken, als ich gerade an der Käsetheke stand und mir reichlich mittelalten Holländer abschneiden ließ. Ein Blick in meinen Wagen genügte, schon starrte sie mich aus schreckgeweiteten Augen an, als hätte ich kandierte Schuhsohlen und Quallengelee darin. „Wie, Sie essen noch Käse? Das ist ja widerlich!“ Entsetzt schüttelte sie sich. „Diese gefährlichen Bazillen, die in der Rinde hocken, die können ungeborene Kinder umbringen, das wussten Sie nicht?“ Was soll man darauf antworten? Dass es sich beim Gouda entgegen grassierender Vermutungen nicht um Schimmelkäse handelt und ich in den vergangenen Jahren so gut wie gar nicht schwanger war? Man sagt am besten gar nichts, lächelt freundlich und setzt seinen Einkauf fort.

Oder man hat es mit Sigune zu tun, die komplett schmerzfrei ist und wie ein kleines Hündchen quer durch den Laden folgt, während sie wirre Monologe hält. So war es beim Gang ans Brotregal auch nur eine logische Folge, dass sie zum nächsten Hieb ausholte. „Das kann man ja gar nicht essen, da sind doch bestimmt Konservierungsstoffe drin. Außerdem geht doch ganze Korn beim Erhitzen kaputt, da ist so gut wie kein Magnesium mehr drin! Alles verbrannt!“ Da sie selbst nicht müde wird, jedem ungefragt zu erzählen, dass sie ihr Brot selbst backt, hätte es mich schon interessiert, wie sie das mit dem Magnesium handhabt – nein, ich verkniff es mir und schwieg eisern. Diese Frau ist höchstens als Türstopper zu verwenden und außerstande, bis Drei zu zählen, ohne sich ernsthaft zu verletzen. Außerdem hatte ich an diesem Tag noch etwas vor.

Kandis. Anne bevorzugt ihren Tee mit Kandis, und da ich keinen mehr im Haus hatte, griff ich sorglos zu einem Päckchen. Was an Menschen wie Sigune so stört, ist die vollständige Abwesenheit von Selbstzweifeln. Ihren Vortrag über die negativ schwingende Kristalldrehung ließ ich über mich ergehen, genauer gesagt: ich versuchte es. Offenbar hatte sie gerade eine Synapsenverklebung erlitten und assoziierte ungehemmt drauflos. Unterdessen fiel mir auf, dass Sigunes Wagen noch komplett leer war. Wozu hatte sie dies Geschäft überhaupt betreten? Für kariertes Nähgarn wahrscheinlich.

Nicht viel besser erging es mir mit der Schokolade. „Das ist eine Droge! Und die hat zu viel Zucker! Und Konservierungsstoffe!“ Natürlich enthält Schokolade Zucker, unter anderem als Konservierungsstoff, aber wie macht man das jemandem klar, der gerade eine Diät mit Nüssen und selbst hergestelltem Apfelsaft abgebrochen hat, weil der Zeiger der Waage jeden Tag ein bisschen mehr nach rechts kippelte. „Außerdem macht sie dick, und Sie bekommen davon Pickel! Ich bitte Sie, in Ihrem Alter…“ Da hielt ich es nicht mehr aus. „Wie Sie sicherlich wissen“, belehrte ich sie, „enthält Schokolade dreimal so viel Eisen wie Spinat.“ Das tat zwar hier nichts zur Sache, aber Sigune war doch perplex genug, um für einen Augenblick den Mund zu halten. „Und was den Zucker betrifft“, fuhr ich ungerührt fort, „Kakao hat einerseits die Eigenschaft, Karies hemmend zu wirken, und andererseits macht nicht der Zucker dick, sondern der Fettgehalt. Aber Sie kennen sich da sicher aus.“ Was ihre Figur betraf, war hier kein Zweifel möglich.

Während sie noch einige Halbwahrheiten über ungesättigte Fettsäuren zum Besten gab, zog sie im Vorbeigehen eine Nudeltüte aus dem Regal. Das war der richtige Moment; ich riss von blankem Entsetzen gepeinigt die Augen auf. „Igitt! Sie essen noch Spaghetti?“ Der Boden schwankte unter meinen Füßen. „Links drehende Pasta?“ Ich musste mir die Hand vor den Mund halten und schob in dieser Verfassung eilig den Drahtkorb zur Kasse. Wer weiß, wie lange sie noch als fliegendes Spaghettimonster da stand, ich sah es nicht mehr.

Nein wirklich, jeder vernünftige Mensch dreht Spaghetti rechts. Die Saucenflecke bekommt man doch sonst nie wieder aus dem Hemd.





Vorsichtsmaßnahme

26 04 2009

für Wilhelm Busch

Im Feuer, sagt man, liegt viel Kunst,
wer schmieden kann, wird mächtig.
Hat er dazu noch manche Gunst,
dann lebt er reich und prächtig.

Allein, wer nur den Leichtsinn kennt,
dem will kein Feuer nützen.
Wer sich daran den Arsch verbrennt,
bleibt auf den Blasen sitzen.





Jedem das Seine

25 04 2009

Jeder Steinbock liest es täglich,
allen Krebsen scheint’s nur möglich,
Zwilling, Waage, Löwe glauben,
Widdern, Schützen, tät man’s rauben,
wär’s dem Wassermann verwehrt:
ohne das hat gar nichts Wert.
Skorpion und Fische schließlich
fänden’s ohne höchst verdrießlich,
Jungfrau weinte, Stier, der schnob:
nichts geht übers Horoskop.
Allerdings bleibt eine Frage,
die ich schon mein Lebtag trage,
und die keiner, keiner knackt,
klärt und löst – es ist vertrackt,
wie ein Zwölftel, grob geschätzt,
aller Trottel, die man setzt
als die Menge für ein Zeichen,
alle haben’s allzugleichen,
simultan sich handeln ein
Geldgewinn und Liebespein,
Sorgen, Blitzschlag, Jubel, Gicht.
Ich begreif es durchaus nicht,
will’s auch gar nicht eigens lernen.
Steht das etwa in den Sternen?





Gernulf Olzheimer kommentiert (IV): Verkäufer

24 04 2009

Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer


Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Evolution mag Tiefpunkte haben – Amöben, Braunalgen und West-Highland-Terrier – bringt aber größtenteils lebensfähiges Zeug zustande, das sich artig in der jeweiligen ökologischen Nische verpisst und fortan tut, was der Arterhaltung dient: Fressen und Poppen. Leider schuf die Natur auch eine Spezies, die in nachgerade suizidaler Absicht neben Nahrungsaufnahme und Revierverteidigung ihre Existenz durch Tragen von weißen Socken zu brechreizfarbigen Sandalen und fortgesetztes Hören von volkstümlicher Schunkelscheiße in Zweifel zieht. Dieses Modell neigt zu Mutationen, die die Widerstandsfähigkeit der Amöbe mit dem Intellekt einer Braunalge harmonisch verbinden. Durch Zuchtunfälle mendelte sich eine Bauform heraus, welche die komplette Nutzlosigkeit der Modetöle zu integrieren vermag: der Verkäufer.

Während die Alge an sich noch von gewissen Völkern als schwiemeliger Salatersatz verschluckt oder zu Biodiesel verklappt werden kann, ist der Nutzen des gemeinen Verkäufers untrennbar auf die Nulllinie eingehämmert. Der durchschnittliche Ladenhüter ballt sich zu amorphen Klumpen, aus denen vereinzelt Grunzlaute dringen, mit denen je ein Amöbenaspirant Fress- und Poppaktivitäten des vorangegangenen Wochenendes zu artikulieren sucht. Verbale Kommunikation ist den Klumpen fremd; alle Experimente, den Schleimbestandteilen zu entlocken, wo man in einem dieser in die Landschaft geklatschten Betonbrocken den per Sonderangebot beworbenen Kauersatz aus verwestem Eingeweide finden kann, ist sinnlos. Eher könnte man einen Grammatiknazi dazu bringen, Dieter Bohlen den Literaturnobelpreis für grenzdebiles Gefasel in die hinterwärts gelegene Körperöffnung zu schieben. Der Verkäufer ist eine Illusion aus irgendeinem Paralleluniversum, das aus Reststoffen, Antimaterie und Abgasen entstanden ist. Auch wenn man ihn sieht, er ist abwesend.

Diese Abwesenheit manifestiert sich körperlich und geistig. Fragt man im Elektrofachgeschäft den bewegungslos vor einer Batterie Geschirrspüler herumvegetierenden Brunzdödel nach Aufpreis und Lieferzeit zusätzlicher Besteckkörbe, gibt er durch grobmotorische Aktivität und gutturales Gurgeln zu verstehen, er sei lediglich für Rasenmäherzubehör kompetent. Alternativ bringt er zum Ausdruck, die Leiterin des Küchengeräte-Segments habe beim Erfahrungsaustausch über Fortpflanzungstätigkeiten versehentlich vergessen, sich nebenbei aufs Atmen zu konzentrieren; ihre Wiedereingliederung in den Betrieb sei, die erfolgreiche Transplantation eines Amöbengroßhirns vorausgesetzt, schon in wenigen Jahrzehnten zu erwarten. Beide Antworten treten gerne so eng verschwistert auf wie beispielsweise Schuhsohle und Hundescheiße.

Eine der gefährlichsten Waffen, die manische Aggressivität der Haarwurst an der Hundeleine perfekt imitierend, ist das schwachsinnige Grinsen, mit dem der Verkäufer jegliche Frage seitens eines Leichtsinnigen kontert, der nur eben das Endlager für Regenrinnen und Türdrücker betreten wollte und noch unter der Wahnvorstellung litt, der ganze in Regalsysteme gekotzte Dreck stünde hier zum Verkauf. Mitnichten. Das Pack verteidigt fanatisch Tiefkühlgekröse und Buntmetallrückstände vor der heimtückisch anvisierten Verschleppung an den Kassenschalter, dass man sich sicher sein kann, wäre in den allerletzten Kriegstagen eine Herde von ihnen aus dem Führerbunker ausgebrochen, der Russe wäre vor Entsetzen im Rückwärtsgang bis hinter den Ural zurückgerollt. Wenn der Kampf Mann gegen Mann nicht erfolgreich ist, lockt man den Feind hinter die eigenen Reihen und schickt ihn zur Erkundung in den sechsunddreißigsten Gang links, Auslegeware und Klebstoff, um ihn nach kieferorthopädischem Zubehör fahnden zu lassen. Alljährlich zieht dann eine Spezialeinheit durch die Katakomben zwischen verseiftem Schnittbrot und Damenmüllsäcken aus lila Schießbaumwolle und kärchert die mumifizierten Leichen vom Boden.

Taktische Vorteile verspricht sich der Kunde von einem exakt formulierten Angriffsziel; dennoch wurde noch kein Mensch gesichtet, der in einem Gartencenter mit dem Wunsch, eine schriftlich fixierte Menge von ikebanatauglichem Knetgummi zu erwerben, sein Ziel tatsächlich erreicht hätte. Die wild lebenden Bekloppten halten dem Eindringling so lange Torfmullsäcke und elektrisch betriebene Heizpilze unter die Nase, bis er, dem Russen gleich, die Hinterseite des nächstgelegenen Mittelgebirges aufsucht und den Tag seiner Geburt verflucht.

Auf den ersten Blick erscheint der Verkäufer als besonders widerliche Form von Sondermüll, der zur Ausübung von körperlicher Gewalt zu seinem Nachteil das Tragen von Schutzkleidung zwingend erfordert. Dies täuscht; zwar ist er nicht biologisch abbaubar, aus seinen Überresten lassen sich auch keine Brennstoffe gewinnen wie aus den ihm weit überlegenen Algen, doch kann man ihn zu einem Massenvernichtungskampfstoff resynthetisieren: zur Fachkraft in der Gastronomie. Ein tödliches Erfolgsmodell des evolutionären Niedergangs.





Hexenjagd

23 04 2009

Die ersten Verhaftungen waren nahezu unbemerkt geschehen, da sie keiner erwartet hatte. Insgesamt verlief die Sache eher ruhig. Scheiterhaufen waren diesmal unnötig gewesen, der Verwaltungsapparat erledigte es verschwiegen, präzise und ohne nach den Gründen zu fragen. Nach dem Hintergrund schon gar nicht.

Der erste Index enthielt neben den Schriften von Kurt Tucholsky und Karl Marx auch Heinrich Heine, wobei sich das Ministerium nicht zu eng an die Aktion wider den undeutschen Geist anzulehnen bemüht war. Allein um manche Autoren entbrannte ein erbitterter Streit, persönliche Abneigungen und fundiertes Nichtwissen gingen Hand in Hand. So gelangte Erich Kästner trotz heftiger Gegenrede des PEN-Zentrums doch in das Verzeichnis; gerade von seiner vor dem Kriege entstandenen Erzählprosa gehe eine enorme jugendgefährdende Wirkung aus, teilte die Ministerin mit.

Zunächst waren nur der unmittelbare Besitz von Büchern unter Strafe gestellt oder die Lektüre derselben. Der Beamtenapparat hatte alle Hände voll zu tun, um die Verordnungen durchzusetzen. Aufwändige Schulungsmaßnahmen gingen dem Einsatz voran, denn die Ordnungshüter mussten mit dem Material vertraut gemacht werden. So saßen Tausende in ihren Behörden und wühlten sich durch Berge von Schmutz und Schund.

Eine Welle von Festnahmen überrollte das Land, als eine Kopie der aktuellen Büchersperrliste in die Öffentlichkeit gelangt war. Auf ihr befanden sich unter anderem eine Publikation Joseph Ratzingers, die aus Versehen verzeichnet worden war. Doch es kam nicht auf den Inhalt an. Die Liste zu besitzen stellte bereits einen hinreichenden Grund für eine empfindliche Strafe dar.

Natürlich reichte das alles nicht aus. Bücher, die sie einmal gelesen hatten, gingen den Menschen nicht mehr aus den Köpfen. Zudem erkannten die zuständigen Stellen, dass Bücher, wiewohl sie dem Urheberrechtsschutz unterliegen, von mehr als einem gelesen werden, ganze Lesezirkel existierten, ja sogar nicht abschließbare Bücherschränke. Man einigte sich darauf, bereits beim Verdacht zuzuschlagen, ein indiziertes Buch gelesen oder es, gelesen oder nicht gelesen, weitergegeben oder die Weitergabe nicht verhindert zu haben.

Das Ministerium war zufrieden. Die Zahlen stiegen explosionsartig an, allein die Vertreibung der Autoren hatte sich verdoppelt.

Die Gegenöffentlichkeit war bereits organisiert, bevor die Folgen der Zensur trafen. Bookcrossing wurde ein subversives System, verbotene Schriften weiter zirkulieren zu lassen. Man ließ einfach ein inkriminiertes Buch im Schutzumschlag liegen, im Straßencafé oder auf einer Parkbank. Die Methode, ausgediente Aktentaschen neben Papiercontainern zu deponieren, etablierte sich innerhalb weniger Wochen. Schaute ein Ordnungshüter etwa einem Verdächtigen über die Schulter, konnte der immer noch angeben, er habe die untersagten Druckwerke just in diesem Moment gesetzeskonform entsorgen wollen. Manche Idee entwickelte sich in der Szene hinter den Hauptbahnhöfen, wo Jugendliche ihre erste Berührung mit nobelpreisgekrönter Prosa und dem Gesamtwerk Sigmund Freuds machten. Die Druckindustrie boomte. Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit erschien in den Innenbögen einer Anleitung zum Nassrasieren, wo es nicht weiter auffiel. Mein Kampf erfreute sich großer Beliebtheit und lagerte in so manchem Schreib- oder Nachttisch. Je nach Wahl enthielt die braune Schwarte Döblin, Kochrezepte oder Pornografie.

Selbstverständlich wurden dabei öffentliche Bibliotheken verschont. Das Ministerium verwahrte sich dagegen, eine Bevormundung der Büchereien anordnen zu wollen. Auch Hochschulbibliotheken waren nicht betroffen. Die Zensurbehörde forderte vom deutschen Studenten Wille und Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis und Entscheidung.

Internationale Besserungen stellten sich ein. Nicht nur die diplomatischen Kontakte zum Iran und zu Nordkorea entspannten sich, auch innerhalb der EU wuchs die Zustimmung. Die Kommission zeigte sich zuversichtlich, auf der Grundlage der existierenden Gesetze ein komplettes Verbot von Papierwaren erwirken zu können, welche Konsequenzen das auch immer haben möge.

Dennoch bleib der Buchhandel unbehelligt. Da weder Druck noch Verlagswesen von der Zensur gegängelt wurden – man musste ja auch an die wirtschaftlichen Interessen von Drittstaaten denken – erschienen unvermindert viele Bücher, lagen bei den Sortimentern aus, durften verkauft, rezensiert und im Leihverkehr besorgt werden. Es handele sich, so das Ministerium, nicht um ein generelles Buchverbot. Unterdessen rief ein anderes Referat des Ministeriums nach wie vor zum Lesen auf und propagierte – sicher nicht aus Berechnung, eher aus Dilettantismus – die verbotenen Bücher. Sie waren ja auch leicht zu erhalten, wenigstens auszugsweise. Der Nachdruck in Schulbüchern hielt nach wie vor an. Manche Pädagogen kritisierten die Haltung der Ministerin. Sie gab jedoch zu verstehen, man habe Wichtigeres zu tun, als sich um Kinder und Jugendliche zu kümmern, hier handele es sich um Fragen der nationalen Sicherheit.

Als eifrige Buchprüfer die Bibel auf den Index setzen wollten, da sie die Anarchie im Lande zu befördern geeignet schien, merkten sie, dass diese Schrift längst nicht mehr hergestellt wurde. Billige Massenauflagen im Dünndruck hatten das Land überschwemmt.





Geld oder Leben

22 04 2009

Jonas hielt das leere Glas in die Höhe und nickte Kalle zu. Während der Wirt eine neue Runde zapfte, nestelte Jonas in seinen Jackentaschen und griff schließlich zu meinen Zigaretten. „Wie jetzt“, wunderte ich mich, „Du rauchst wieder?“ Dem Husten nach schien er bis vor Kurzem tatsächlich dem blauen Dunst entsagt zu haben, und doch sog er mit tiefen Zügen am Glimmstängel. „Meine Altersvorsorge“, paffte er, „man muss ja schließlich auch an seine Angehörigen denken.“

Er zog einen Prospekt des Versicherungsbüros Bronnstatter hervor. Riesige Geldsummen wurden dort geboten. „Und genau deshalb“, erklärte Jonas, „muss ich jetzt wieder rauchen. Als Vorleistung, Du verstehst?“ Ich verstand gar nichts, und Jonas erklärte es mir. „Du hast doch bestimmt von der amerikanischen Witwe gehört, die vom Obersten Gerichtshof der USA 145 Millionen zugesprochen bekommen hat, weil ihr Mann an Lungenkrebs gestorben war, oder nicht? Genau das ist meine Lebensversicherung.“ „Du willst damit andeuten, dass Du auf eine Entschädigung spekulierst, wenn Du Dir jetzt die Bronchien zuteerst? Entschuldige mal, wie krank ist das denn?“ „Irgendwas muss man doch machen. Wer weiß, wie sich die Branche in den nächsten Jahren entwickelt.“ Das glaubte ich ihm sofort. Schließlich hatte er als Heilpraktiker den Überblick über das Versicherungswesen.

Bronnstatter hatte es ganz genau ausgerechnet. Wer nachweisen könnte, dass er an den Folgen des Rauchens verstorben sein würde, bekäme volle fünf Millionen Euro. Eine Menge Geld, auch wenn man selbst nicht mehr viel davon sähe. Ich lächelte ironisch. „Das ist ja mal eine innovative Form von Menschenfreundlichkeit.“ „Nicht wahr“, antwortete Jonas, „und er selbst dürfte bei der Höhe der Entschädigung immer noch einen guten Schnitt machen. Allerdings ist das mit gewissen Auflagen verbunden. Ich muss mich regelmäßig untersuchen lassen.“ Gut, wandte ich ein, das müsse man ja inzwischen auch bei einer ganz normalen Krankenversicherung, warum nicht also auch bei einer Kapitallebensversicherung? „Falsch, es ist ein Risikomodell – man muss immer noch damit rechnen, dass der Supreme Court nur die üblichen 800.000 Dollar ausspuckt, dann rechnet es sich natürlich nicht.“ Und dann? Schon malte ich mir aus, wie seine Hinterbliebenen für Jahrzehnte gegen die Tabakindustrie prozessieren würden, um seinen verschwenderischen Lebenswandel zu bezahlen. „Das stört mich weniger, immerhin haben wir mit diesem Urteil einen Präzedenzfall. Es dürfte nicht ganz so lange dauern. Aber wie gesagt, die Summe könnte niedriger ausfallen, und deshalb haben wir die Anlage ein bisschen gestreut.“

Das Faltblatt aus dem Hause Bronnstatter gab mir Auskunft. Jonas hatte zusätzlich eine Nikotin-Alkohol-Kombination abgeschlossen. „Ich bin jetzt bei einem 50-zu-50-Modell, das heißt, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekomme ich dieselbe Rendite wie jeweils für Lungenkrebs oder Leberzirrhose. Toll, oder?“

Kalle stellte uns die beiden Pilstulpen auf den Tisch und zückte seinen Kugelschreiber. Da erst fiel mir auf, dass der Deckel bereits mit Strichen übersät war.

„Aber die laufenden Kosten! Stell Dir vor, Du bekommst einen Herzinfarkt, die Bypass-Operation würde Dich ruinieren!“ „Ach was“, lächelte Jonas, „alles halb so schlimm. Das Paket enthält natürlich eine günstige Krankenversicherung. Wer so gezielt ungesund lebt, spart richtig Geld. Je früher weg vom Fenster, desto weniger teure Intensivmedizin – ein Friedhof ist billiger als ein Pflegeheim. Ich muss nur durch regelmäßige Tests nachweisen, dass ich mich an die Bedingungen halte.“ Und er fischte sich die nächste Kippe aus meinem Päckchen.

„Jetzt wird mir auch klar, warum Du mit dem Joggen aufgehört hast.“ „Doch, schon“, gab er zu, „aber ich gleiche das durch die Zusatzversicherung für Sport aus.“ „Du treibst Sport? Wie kann das ungesund sein?“ Er druckste herum. „Ein bisschen schwierig war es schon, aber schließlich kann ich damit bis zu einem Drittel der Beiträge sparen. Es war etwas schwierig wegen meiner Höhenangst, aber ich habe mich für Gleitschirmfliegen entschieden.“ Und er orderte die nächste Runde.

Was würde uns da noch drohen? Preisnachlässe für Junkies? Raserrabatt? Ein Bonusprogramm für termingerechten Suizid? Andererseits hatte auch ein deutscher Amtsrichter bereits, wenngleich erfolglos, geklagt, weil er nach der lebenslangen Mastkur mit Schokoriegeln fett und diabetisch geworden war; das Geschäftsmodell hatte offensichtlich bereits gesellschaftliche Akzeptanz erlangt, zwar vorerst nur in Juristenkreisen, aber der geistig gesunde Teil der Bevölkerung würde schon noch nachziehen. Das also würde die Zukunft des Sozialstaats sein: wir alle würden uns aufopferungsvoll um unsere Versicherungen kümmern und die Vorsorge in die eigene Hand nehmen, statt untätig auf die Rente zu warten.

Ein Piepsen riss mich aus meinen Überlegungen. Jonas drückte eine Taste auf seinem Telefon und streifte hastig seine Jacke über. „Verdammt, fast hätte ich es verpasst – ich muss unbedingt sofort zwei halbe Hähnchen essen. Man weiß ja nie, ob die einen nicht doch kontrollieren!“





Seniorenakademie

21 04 2009

Während der Fahrt hatte ich noch einmal den Prospekt angesehen und danach ein wenig gedöst; Kilometer um Kilometer war die Autobahn an mir vorüber gezogen. Als ich aufwachte, befanden wir uns in einem Gewerbegebiet. Ich fragte den Chauffeur, ob dies wirklich der richtige Ort sei. „Sicher“, bestätigte er, „ich fahre die Tour doch nicht zum ersten Mal.“ Warum aber sollte ein Bildungszentrum weit außerhalb der Stadt liegen? Warum steuerte der Wagen auf ein Bürogebäude zu? Wo war ich hier bloß gelandet?

Mein PR-Berater Seyboldt war schon vor mir gekommen. Offenbar hatte man ihm die Adresse einfach mitgeteilt und ihn nicht, wie mich, mit dem konspirativen Fahrzeug durch halb Deutschland kutschieren lassen. Er stellte mich Doktor Cordula Dahlmann vor, der Leiterin des Instituts. „Warum so weit draußen? Die alten Leutchen sind doch meist nicht gut zu Fuß.“ „Wir bieten“, erläuterte sie, „neben den Kursen auch Pensionszimmer mit Vollverpflegung an. Im Durchschnitt sind unsere Teilnehmer drei Wochen bei uns, bis sich die ersten Erfolge zeigen. Man muss dranbleiben, im Alter ist die Lernfähigkeit nun mal nicht so ausgeprägt.“ Das war mir klar, aber ob man nun gerade für Häkeln und Gymnastik gleich einen Verein gründen und mehrwöchige Therapieangebote aushecken müsse? Sie runzelte erstaunt die Stirn. Sehr erstaunt. „Häkeln? Verein? Was reden Sie denn da?“ „Nun, ich dachte, e. V. stünde für die übliche Abkürzung?“ „Nicht ganz“, korrigierte Dahlmann, „es bedeutet ‚erster Versuch‘. Wir arbeiten noch ein bisschen am Feinschliff.“ Und sie führte mich ins geschmackvoll eingerichteten Konferenzzimmer.

„Wie Sie der Broschüre entnehmen konnten“, begann Dahlmann, „ermöglichen wir Senioren, ihre Kenntnisse gesellschaftlich einzubringen. Denken Sie an das verwandte Wort Senat: den lebensälteren Mitbürgern wurde schon immer auf Grund Ihrer größeren Erfahrungen zugetraut, verantwortungsvolle Positionen zu bekleiden. So auch hier. Wir wollen die Zukunft der deutschen Bundespolitik sicherstellen.“ Ob das schon mit Häkeln getan sei? „Was haben Sie immer mit Ihren Handarbeiten? Schauen Sie sich die Sache an, dann begreifen Sie auch endlich, was das hier ist.“

Mit blankem Entsetzen sah ich, wie Otto Graf Lambsdorff auf sein Silberstöckchen gestützt in einem Raum saß und Klötzchen sortierte. „Sagen Sie mir, dass das nicht ernst gemeint ist! Sie wollen doch dieses Fossil nicht wieder in die Tagespolitik einschleusen?“ Dahlmann kniff die Augen scharf zusammen. „Ihnen ist es also lieber, wenn man das Bundeskabinett mit Ministerbübchen auffüllt, die mit Phrasendreschen ihre Inkompetenz beweisen? Hintergrundrauschen von Hintergrundfiguren? Wo sind denn die Praktiker mit dem Sachverstand? Dann doch lieber der Graf. Er wird Sozialminister. Mit Kürzungen in dem Ressort kennt er sich aus. Notfalls übernimmt er die Geldbeschaffung.“

So gingen wir durch die Flure. Hier trainierte der kommende Gesundheitsminister Roman Herzog für die Berechnung der Kopfpauschale. Ihm fehlten konstante 38 Millionen – aber darum ging es ja gar nicht. Dort wurde Friedrich Zimmermann als Innenminister reanimiert. Fleißig übte er Schwören. Am anderen Ende des Korridors mühte sich eine Pflegerin, Wolfgang Schäuble ein Buch in die Hand zu drücken. Er warf es wieder und wieder von sich. Wie ein kleines Kind quengelte er vor sich hin. „Er ist unser Sorgenkind“, seufzte Dahlmann, „er will und will einfach kein Grundgesetz. Manchmal könnte man an ihm verzweifeln.“ „Sie bilden über Bedarf aus“, wandte ich ein, „schließlich haben Sie doch schon den Zimmermann im Haus.“ Dahlmann korrigierte mich. „Der hier wird Bundespräsident.“

„Ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe.“ Dahlmann wiegelte ab. „Es gibt auch leichtere Fälle. Die Herren Riesenhuber und Lahnstein – der angehende Kulturstaatsminister – haben exzellente Fachkenntnisse. Beide bekamen Bestnoten.“ Ob es Hoffnung für Ulla Schmidt gäbe? Die Psychologin verdrehte die Augen. „Um Gottes Willen… wir sind doch froh, wenn die Frau endlich verschwindet!“

Zwei alte Bekannte trafen gerade ein. Theo Waigel, der mit freundlicher Unterstützung der Atomlobby auf Umweltminister umschulte, reichte Manfred Kanther die Hand. „Ein Musterschüler. Er lügt, aber er lügt ohne jegliches Schuldbewusstsein. Sehr verschwiegen. Ein idealer Außenminister.“ Da war auch Klaus Kinkel. „Der Mann ohne Eigenschaften. Er verfügt über kein nennenswertes Vorwissen, deshalb arbeitet er sich leicht in jedes Thema ein. Als Minister ohne Geschäftsbereich ein Glücksfall. Oder er bekommt ein Ressort, für das man lediglich einen Anzugträger benötigt. Bildung, Entwicklungshilfe, die klassischen Abstellgleise.“

Von nebenan drang cholerisches Geschrei. Wir waren gerade noch rechtzeitig gekommen, um zu sehen, wie Christian Pfeiffer von zwei stämmigen Männern gepackt und zum Ausgang geschleift wurde. Ironisch lächelte ich. „Lassen Sie mich raten: Verteidigung?“ Dahlmann blickte gequält. „Er ist hier überhaupt nicht eingeschrieben. Er hat hier auch nichts zu suchen. Aber er belästigt uns alle drei Tage und fordert vehement, die Leitung des Instituts zu übernehmen.“ Sie blätterte in ihren Akten. „Meistens bekommt er dann seine Spritze.“

Während wir dem Ausgang zustrebten, fiel mir auf, dass der Posten des Kabinettschefs gar nicht besetzt war. „Ja, wir haben alles versucht, aber er will einfach nicht. Da half kein Bitten und kein Betteln.“ „An wen“, fragte ich, „haben Sie sich denn gewandt?“ „An Helmut Schmidt natürlich.“