Um die Wurst

2 04 2009

Ob es der Grünkohl war, den Jonas mit Kohlwurst, dicken Kasselerscheiben und Schweinebacke in entsetzlichen Mengen servierte, ob es am Bier lag, das wir gegen den wehrsamen Eintopf tranken – schon um halb zehn war ich bewegungsunfähig und sah um mich herum sitzend vollgestopfte Gestalten, die an der Tischkante mühsam Halt suchten und aus glasigen Augen in die Röstkartoffeln starrten. Zu einem gesitteten Gespräch war niemand mehr in der Lage; alles, was mehr als drei Silben hatte, fiel der Luftnot zum Opfer. So beobachteten wir, wie Jonas in Zeitlupe die Schnapsflasche hereintrug und die Gläser füllte. Die Zeit schien auf dem Zifferblatt der Küchenuhr festzukleben.

Kaum war ich zu Hause angekommen, plumpste ich auf die Couch. Dabei musste ich mich auf die Fernbedienung fallen gelassen haben. Schon sprang die Glotze an. Längst schon war ich zu träge zum Abschalten. So kam Guido Knopps Hysteriendrama Die wirklich wahrste Wahrheit über Danton über mich. Burgschauschauspieler sprachen ewige Worte aus Büchners Revolutions-Drama – „Und wenn ich ganz zerfiele, mich ganz auflöste, ich wäre eine Handvoll gemarterten Staubes…“ – und senkten mich in einen Zustand milder Entrückung. Alles kreiselte. Georges Danton bei den Freimaurern. Unter dem Fallbeil. Dazwischen ein Guido Knopp mit Bart und Brille, der aussah wie mein Geschichtslehrer Doktor Leusel. Alles sank hin um mich, Kohl und Knopp, und vermengte sich zu Wurstbrei, der mich in einen unruhigen Schlummer zog.

Da hockte ich in einem Heuhaufen und sah die Truppen einreiten. Hatte Axel Oxenstierna doch verfügt, keine Schwede müsse mehr Fleischwurst ohne Kartoffelbrei essen – siegreich zog Gustav II. Falukorv in München ein, nur um festzustellen, dass es bereits früher Nachmittag war. Kein Zipfel Weißwurst mehr in der ganzen Stadt. Missmutig rührte der General im süßen Senf.

Aus der Ferne zog Schlachtenlärm herauf – der Aufstand! Necker hatte das Volk ausgequetscht und abgekocht wie Wurstbrät. Während bei Hofe Schweinskopf mit Zitrone serviert wurde, nagten die Bauern am teuren Brot. Kaum ein Stückchen Sülze konnten sie erschwingen. Danton saß in der Geheimloge und sann mit den Aufrührern, wie man des Königs Kopf selbst mit Petersilie anrichten könnte, da sprach Marie Antoinette beim Schlachter ihre fatalen Worte: „Wenn die Leute keinen Flönz haben, sollen sie doch Teewurst essen!“ Nun gab es kein Halten mehr. Die aufgestachelte Menge zog in die Bastille, wo Landjäger und Zervelat im Rauch hingen, Lyoner und Bierwurst im Brühkessel dampften. Höhnisch schickte man der Bürgerin Capet Hirnwurst zur Conciergerie. Doch nur zu bald wandte sich das Blatt. Danton und Robespierre wurden öffentlich gehackt, Marat gar fand man leblos im Essigsud liegend – man entledigte sich der Aufwiegler, keiner aus der Geheimgesellschaft blieb verschont. Es ging um die Wurst.

Denn dass der ominöse Wurstclub bereits 1787 gegründet worden war, daran besteht kein Zweifel. Zeichen, Worte und Griffe der Freimetzger hatten sich von Land zu Land unter der Schlachtertheke fortgepflanzt und dem einen internationalen Ziel gedient – die Weltherrschaft an sich zu reißen. Unter diesem Deckmantel versuchte Napoleon, die Vorherrschaft der deutschen Aalrauchwurst mit seinen Chasseurs zu brechen. Nur darum inszenierte Metternich den Kongress zur Wiederherstellung der Wienerle – die Erstausgabe des Darmstädter Landjägers erinnert noch heute an die große Restaurationsfachkraft – und drängte die Krainer zurück. Noch Bismarck, munkelt man, habe gesagt, die Leute schliefen desto besser, je weniger sie wüssten, wie Würste und Gesetze gemacht würden. Sie steckten in Wahrheit alle in einer Pelle.

Und das ist noch nicht alles. An manchen Stammtischen erzählt man sich noch heute hinter vorgehaltener Hand, Karl Theodor Schwarte (ebenderselbe, der den Schwartemagen erfunden und die Parlamentskantine in der Paulskirche bewirtschaftet hatte) habe den im Königreich Württemberg steckbrieflich gesuchten Georg Christian Grütz 1848 in die Freie Stadt geschmuggelt, um mit ihm die Großloge Zum Frankfurter Würstchen zu gründen. Hatte der ehemalige Hofmedikus doch während der großen Rattenplage die Grützwurst ersonnen. Die Revolution brach aus – auf den Barrikaden wurde geschossen, während des Wiener Aufstandes brannte das Logenhaus vollständig aus. Grütz, ein Mann der Tat, sammelte die Umstürzler hinter sich. Leider trank er unmäßig viel, und so kam es, dass er nach einer reichlich gewürzten Paprikasalami (einem Gastgeschenk der ungarischen Freiheitskämpfer) ein ganzes Partyfässchen Rheinwein in sich hineinschüttete, um der entsetzen Gesellschaft lallend die wahre Rezeptur der Leberwurst zu enthüllen. Er ward nie mehr gesehen. Hartnäckig hält sich der Verdacht, Schwarte selbst, dessen Porträt bis auf den heutigen Tag im Logenhaus zu besichtigen ist, habe seine Finger im Spiel gehabt; denn das Bildnis zeigt die Magnifizenz beim Verspeisen einer Platte mit Blut- und Leberwurst.

Ganz zuletzt träumte mir, Guido Knopp sei als Gesichtsmortadella auf mich zugetreten und habe versucht, mir sämtliche Weltkriege durch den Wolf gedreht einzutrichtern. Mit schmerzendem Nacken erwachte ich. Schließlich hatte ich die ganze Nacht schräg auf der Fernbedienung gelegen. An der Tür klingelte es wieder und wieder, und so musste ich mich schließlich erheben. Jonas stand davor, in den Fingern ein fettiges Päckchen. Es seien aus dem Grünkohltopf noch so viele Mettenden übrig. Ob ich nicht ein paar abhaben wolle.

Es ist, wie gesagt, eine Verschwörung von größerem Ausmaß.