Rhythmisches Gemurmel wies mir den Weg zum Klassenraum. Schon im Flur hörte ich vielstimmig und laut, wie die Schüler skandierten. Als ich die Tür öffnete, scholl es mir entgegen. „Da kann ja je-der kom-men! Das ha-ben wir schon im-mer so ge-macht! Da kann ja je-der kom-men!“ Das also war der Kurs 21.4.011.
Tina Echsle begrüßte mich und zeigte auf den Stuhl, von dem aus ich dem Unterricht folgen sollte. Sie wandte sich an einen Schüler. „Achmad, wollen Sie bitte Lektion 55 wiederholen?“ Der junge Mann begann. „Weißtu, habisch mir konkret Dickdarm spülen lassen! Kannisch jetzt dreimal auf Klo!“ Er stockte einen Moment. Die Lehrerin half ihm ein. „Probiotische Bakterien…“ Schon floss es weiter. „Habisch jetzt konkret probiotisch Joghurt, habisch jetzt geregelte Verdauung!“ „Sehrsehr gut! Und jetzt alle zusammen!“ Die Schüler drückten sich gemeinsam aus: „Ge-re-gel-te Ver-dau-ung!“ Sie klatschte in die Hände. „Sehrsehr gut! Fünf Minuten Pause!“
Während sie einige Folien für den Overhead-Projektor ordnete, hatten wir Zeit für ein Gespräch. „Das ist ja alles gut und schön, aber ich weiß nicht recht, ob Ihre Methode sich wirklich eignet, um Staatsbürgerschaftsanwärter in unserer Gesellschaft ankommen zu lassen.“ Sie blickte auf. „Und was halten Sie für besser? Den Staatsbürgerschaftstest, den ein paar Sesseltäter in einem nüchternen Moment von Bildungsbürgerlichkeit ausgeheckt haben?“ Ich war verwirrt. „Sie haben mich richtig verstanden. Erläutern Sie mir doch bitte mal, was Sie unter Religionsfreiheit verstehen.“ Ich fragte sie, ob sie das katholisch oder allgemein wissen wolle, und ihre Antwort ließ nicht auf sich warten. „Mit der Antwort wären Sie dann in Hessen schon mal Ihre deutsche Staatsbürgerschaft los.“
Überhaupt ließ sie kein gutes Haar an der Du-bist-leider-bald-Deutschland-Kampagne. „Lachhaft – drei deutsche Mittelgebirge und Flüsse muss man als Sudanese kennen! Sieben Bundesländer! Wenn Sie mal eine Stunde Ruhe haben wollen, fragen Sie Roland Koch nach der Hauptstadt des Sudan. Wenn Sie Glück haben, ist jemand im Raum, der ihm flüstert, auf welchem Kontinent das liegt.“ Ich fragte sie, welchen Sinn dann ihre Kurse besäßen. „Das liegt doch auf der Hand. Ich vermittle den Menschen Sitten und Gebräuche der Deutschen. Nennen Sie es meinetwegen Mentalitätskunde.“ Ich warf einen Blick in die Unterrichtsmappen der Neustaatsbürger. Gartenzwerge, Filzpantoffeln und eine ausklappbare Vorlage mit neunundachtzig Sorten Brot waren zu sehen. Eine Nomenklatur sämtlicher Autozubehörteile, dies es auf diesem Planeten für Geld gibt. Bilder deutscher Ikonen: Boris Becker und Stefan Mross. Wo waren die Kuckucksuhren und die Solinger Messer? „Ich bitte Sie – das sind doch Klischees! So sehen uns höchstens die Japaner.“ Ich gab zu, sie hatte Recht.
Das Bild der Designerküche ließ mich stutzen. Was hatte die in der nationalen Befindlichkeit zu suchen? „Wir sind eben am Zeitgeist orientiert. Der Deutsche kocht gerne – wenigstens gibt er sich den Anstrich und produziert massenweise Kochbücher und Kochshows. Er kauft jeden noch so abwegigen Schnickschnack, wie Sie wissen. Beachten Sie die rechte untere Ecke.“ Und wahrlich, eine Juicy Salif stand dort, jene komplett unbenutzbare Presse, die durch Zitronensaft zerstört wird und daher als überteuerter Staubfänger zahllose Küchen ziert. Das Symbol für den Drang des Deutschen, aus Prestigegründen alles zu tun, wenn es nur völlig sinnlos ist. Was waren dagegen Wackeldackel und Klorollenhäkelhütchen gewesen.
Es klingelte. Die Einbürgerungskandidaten kamen wieder zurück und setzten sich auf ihre Plätze. Echsle knipste das Licht aus und legte die erste Folie auf – beim Anblick des Gartengrills durchzog ein sehnsüchtiges Raunen den Raum. „Wir kommen jetzt zur Lektion 59. Adnan, was sehen Sie hier?“ Der junge Pakistani erklärte seinen Mitschülern Steaks und Würstchen, Grillanzünder, Tropfschale und den elektrischen Blasebalg. Auch zivilrechtliche Aspekte des Grillens auf dem Balkon kamen zur Sprache. Das also war die deutsche Mentalität. Das Wesentliche kultivieren und das Unwesentliche verbrennen.
Während die Neudeutschen den Charakter der Heimat verinnerlichten – sie waren inzwischen nach einem kurzen Exkurs über Mülltrennung beim Autowaschen angekommen – blickte ich aus dem Fenster. Und wirklich, es kam mir nicht mehr so absurd vor, wie sich diese Menschen um mich herum bemühten, die nationale Identität kennen zu lernen. Vielleicht könnte das ein Aufbruch sein. Fremde Völker, die uns seit jeher mit Sprache und Essgewohnheiten bereichert hatten, würden das Einwanderungsland nach und nach freundlicher und weltoffen machen. Der raue Charme teutonischer Bauweise würde gemächlich sanfter, die Manieren entspannter und das Zwischenmenschliche überhaupt ein Menschliches. Wir würden zwar noch immer drei Tage auf den Klempner warten, doch wir nähmen es leichter. Hätte der Taxifahrer kein Wechselgeld, wir schlügen nicht sofort Krach, sondern würden diskutieren. Auch den Frauen ginge es besser. Vorbei die Zeiten, in denen man wie Heidi Klum oder Verona Pooth noch mühevoll den Kopf entleeren müsste, um im eigenen Lande etwas zu gelten. Wohlig streckte ich mich. Dabei muss ich versehentlich meinen Fuß auf denjenigen meines Nebenmannes gestellt haben. Noch bevor ich ein Wort sagen konnte, wandte er sich an mich. „Ey sachma, kannste nich aufpassen? Wenn das hier jeder machen würde!“
Es war nicht zu leugnen, die Erziehung trug bereits erste Früchte.
Satzspiegel