Am Telefon hatte Siebels sehr aufgeregt geklungen. Ich müsse sofort kommen. Die Sendung werde um einen Tag vorgezogen. Als ich schon auf dem Weg ins Studio war, fiel mir erst auf, dass ich gar nicht wusste, worum es sich überhaupt handelte.
In der Kulisse stand ein Akkordeonspieler und zog hastig an der Zigarette. Daneben zwängte sich eine füllige Enddreißigerin in ein Dirndl. Sie war auffällig kindlich geschminkt. Bereits hier hätte ich ahnen müssen, was gespielt wurde. Ich ging weiter, bis ich den Regiebereich gelangte. Dort saß Siebels, besprach noch ein paar Einzelheiten und drückte auf den Knopf, der hinter der Bühne ein rotes Licht aufleuchten ließ. Stumm begrüßte er mich, legte den Finger über seine Lippen und deutete auf den freien Klappstuhl. Ich nahm Platz.
Da kamen die beiden auch schon auf die Bühne. Das Dirndl kniff, der Akkordeonspieler verschwand fast hinter seinem Instrument. Warum er sich diesen Quatschkasten überhaupt umgehängt hatte, war mir ein Rätsel, denn schon setzten billige Plastikklänge ein, zu denen die weibliche Hälfte von Lolita und Karlheinz etwas versuchte, was vage mit Singen zu tun hatte. Sie traf keinen Ton. Während der Schlagerschrott im Hintergrund puckerte, erzählte sie unrhythmisch von einem Brückelein der Liebe, das über ein Bächlein führt, und die Schwalben am schönen Himmelszelt gingen mit der Meinung d’accord, dass morgen wieder ein schöner Tag voll Sonnenschein sei, da ja dann das Herzeleid schon Vergangenheit sein würde. „Na“, flüsterte Siebels mir zu, „was denken Sie?“ Ich antwortete, ich sei froh, mit leerem Magen losgefahren zu sein.
Die beiden volkstümelnden Nervensägen kamen zum Ende. Siebels drückte erneut auf den Knopf und holte etwas hervor, was bei mir ein trockenes Schlucken auslöste: drei in Seppelhosen gekleidete Hessen, die sich angestrengt, aber erfolglos um das getreue Imitieren bajuwarischen Zungenschlags bemühten. Zu einer Bierzeltpolka jodelten die Drei Kuahbuam einen Schmarren, in dem es weniger um Herzeleid ging als um Fröhlichkeit, Gerstensaft und die Oberweite einer namentlich nicht genannten Bauernmagd. Der saure Geschmack an meinem Gaumen nahm zu. Siebels schob mir wortlos Magentabletten herüber. Offensichtlich war diese basiskulturelle Marter auch an ihm nicht ganz spurlos vorübergegangen.
„Sagen Sie mal“, wandte ich mich an ihn, „was genau soll das eigentlich werden?“ Doch da sah ich auch schon die Jury. Drei Männer saßen in einer Box, Plastik auf Mahagoniart, und machten eifrig Notizen. „Das war geschmacklos. Absolut talentfrei und schon im Ansatz völlig versaubeutelt.“ „Total daneben“, sekundierte der zweite Ringrichter, „das ist wirklich unterste Schublade. Braucht kein Mensch.“ Der Dritte fasste kurz zusammen: „Ja, da schließe ich mich meinen Kollegen mal an. Ihr seid eine Runde weiter!“
Als die Hilfsrinderhüter sich jubelnd in die Arme fielen, ging Siebels zum Kaffeeautomaten. Ich folgte ihm. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Was wird hier gespielt?“ „Wir gehen gegen den Trend“, erläuterte er mir, „und leiten damit die langfristige Niveausteigerung der Musiksendungen ein.“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Diesen Schund, mit dem man in Guantanamo Häftlinge foltern könnte, bezeichnen Sie als Niveau?“ „Sie sehen das eben nicht im Zusammenhang. Was ist volkstümliche Musik? Akustische Sülze mit Klischeekotzestückchen, die dem psychischen Krisenmanagement ihrer Hörer dient. Man lässt die abgestumpften Emotionen von Abziehbildchen vorträllern, weil man selbst nicht mehr dazu in der Lage ist. Galoppierende Verblödung ist die Folge, die Dosis muss erhöht werden, wodurch auch das Niveau nach und nach ins Bodenlose fällt. Können Sie mir folgen?“ Ich konnte, und so fuhr er fort: „Also brauchen wir immer mehr heile Welt aus der Sprühdose. Immer bescheuerter. Die Spirale des Schunkelns ist nur aufzuhalten, indem wir schlagartig jeglichen Ansatz von Restniveau eliminieren. Die Leute sollen vor Entsetzen wegschalten und völlig clean werden. Ich sage Ihnen, in zwei Jahren können wir im Abendprogramm Sendungen mit baskischen Volkschören zeigen. Features über westafrikanische Trommelmusik. Toll, oder?“
Während er seine Pläne ausbreitete, kehrten wir zur Regie zurück. „Das Zeug lassen wir von einer Moderatorenattrappe aus dem Osten präsentieren, Wolfgang Lippert oder Karsten Speck.“ Gut, das passte. Die kollektive Reduktion der ästhetischen Möglichkeiten könnte da hilfreich sein, denn jede Vorstellung im Zusammenhang mit Wolfgang Lippert führt bei mir ohnehin in ein und dieselbe Richtung, und schlagartige Entleerung des Magens ist ein probates Mittel, Krisen zu überstehen.
Und dann kamen die Schmöllertaler Vollversager, ein pubertierendes Quartett in Springerstiefeln und Trachtenjoppen, die rasierten Schädel unter Gamsbarthüten. Sie schnadahüpfelten dumpfbraunen Schwachsinn von deutscher Sonne über deutschen Gauen, in denen übers Jahr, übers Jahr die lustigen Asylanten aufs Pflaster klatschen, dass das kleine Herzerl weint, und während der alte Holzmichl den nationalen Notstand via Schuhplattler ausrief, warteten deutsche Mädel übers Jahr, übers Jahr auf die Rückkehr der Mannen aus dem Kral der Kongoneger am Hindukusch. Ich versuchte durch reine Konzentration, schreckliche Zahnschmerzen zu bekommen, um diesen Dreck zu verdrängen. Die Autosuggestion funktionierte, schon nach wenigen Minuten pochte es in meinem Oberkiefer. Schon kurz danach litt ich zu meiner Erleichterung Höllenqualen. Der Rest der Sendung flog wie durch Watte gedämpft an mir vorbei. Ich bekam es nicht mehr mit.
Als ich wieder zu mir kam, presste mir Siebels eine Eisblase auf die verquollene Wange. Er strahlte über das ganze Gesicht. „Phänomenal!“ Ich konnte kaum sprechen. „Sie haben rein psychosomatisch auf diesen Müll reagiert. Stellen Sie sich mal vor, der deutsche Durchschnittszuschauer ist nur halb so empfindlich – wir haben die Fernsehnation vor dem Untergang bewahrt!“
Satzspiegel