Verfolgungsbetreuung

8 04 2009

Es zuckte einmal kurz in meinem Bein, dann ging ich zu Boden. Hielt die Luft an und versuchte, mich an der Tischkante nach oben zu ziehen. Der Schmerz nahm beständig zu.

Doktor Klengel kam eine Viertelstunde später und diagnostizierte einen Muskelfaserriss. Nichts Schlimmes, meinte er, während er den Verband fester zog und einen Eisbeutel unter den Schenkel schob. Die Heilung würde spontan erfolgen. Wenn ich mich nur ein bisschen schonte.

Der Versuch, in die Küche zu humpeln und mir einen Kaffee zu kochen, gab seiner Einschätzung Recht. Genauer gesagt, ich schaffte es nicht bis zur Küche. Um es ganz genau zu sagen, als ich mich aufrichten wollte, musste ich ins Sofakissen beißen, um nicht den Eindruck zu erwecken, in meiner Wohnung würde jemand abgeschlachtet. Gut, dass Doktor Klengel Telefon und Schreibblock neben der Couch deponiert hatte. Anders wären drei Tage in Rückenlage nicht zu bewerkstelligen gewesen.

Erwartungsgemäß stand das Telefon nicht still. Combat Communications improvisierte eine Konferenzschaltung mit Tokio, um den Absatz an elektrisch beheizbaren USB-Büroklammern zu sichern. Weniger sonnig war Reinmars Laune, als er erfuhr, dass ich keinesfalls zum Golfspiel aufgelegt wäre. Männer sind wohl wehleidig, doch an Verständnislosigkeit den Frauen kaum unterlegen.

Nun hatte ich nicht mit seinem Gewissen gerechnet. So hatte er den Schlüssel zu meiner Wohnung, den ich für Notfälle – Herzinfarkt, Abwesenheit wegen desselben oder Blumengießen – bei ihm deponiert hatte, Heike gegeben. Ich hatte das Geräusch an der Tür als Illusion abgetan. An eine optische Täuschung konnte ich nicht mehr glauben, als sie plötzlich vor mir stand.

Heike ist Kinderärztin. Schlimmer noch, sie hegt eine so heimliche wie ausdauernde Liebe zu mir. Die Summe dieser beiden Teile ergibt ein Ganzes, das für einen einzelnen Mann zum schwer Erträglichen zählt.

„Ach Gott, Du Ärmster! Soll ich Dir einen Pudding kochen?“ Ich informierte sie knapp, dass ich eine Muskelverletzung erlitten hatte und keinen Magendurchbruch. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sofort in die Küche zu eilen und Pudding zu bereiten. Offensichtlich schien die Notfallmedizin bei jungen Patienten neue therapeutische Wege gefunden zu haben, seitdem ich erwachsen geworden war. War das die Gesundheitsreform?

Sie war einfach nicht davon abzubringen, mich ans Tageslicht zu tragen. Ich biss die Zähne zusammen. Schritt für Schritt stützte sie mich, meine krampfhaft um Halt bemühten Hände zu ihren weiblichen Formen dirigierend. Schon nach einer Viertelstunde kroch ich ächzend auf die Charles-Eames-Liege und versuchte, das Bein auf den Fußhocker zu bugsieren. Stöhnend lag ich auf dem Möbel und ließ mein Leben Revue passieren. Jetzt noch mein Testament zu ändern schien mir müßig, der Tod müsste sowieso jeden Moment eintreffen. Noch einen letzten Kaffee, dann könnte der Knochenmann seinen Job antreten.

„Ich werde eben durchsaugen“, teilt sie mir mit, „geht ganz schnell.“ Schon schob sie den Staubsauger über den Teppich. Das Ding zählt zu den lauteren Vertretern seiner Art. Sollte jemand ein Konzert für Staubsauger und Orchester aufführen wollen, ich liehe meinen dazu gerne aus. Damit wären auch größere Säle unschwer zu beschallen.

Während der Deckenputz vibrierte, suchte ich das Telefon. Es lag natürlich noch neben der Couch. Hinkriechen konnte ich nicht, so versuchte ich es mit Gestikulieren. Zu schreien wäre angesichts des Motorenlärms zwecklos gewesen. Ich hoffte, Heike würde den Sauger ausstellen. Allein sie saugte furchtlos weiter, deutete mein Gezappel – da links, gleich links neben der Couch – als hilfreiche Unterstützung und verfuhr ebenso: das Saugrohr nach links, mit dem Schlauch passgenau über den Stutzflügel hinweg schlenzend, so dass sie mit akkuratem Schwung das Murano-Schälchen erwischte. Millefiori. 1897. Ich heulte auf, da Heike den Sauger über die Scherben hielt.

Sie warf noch kurz einen kleinen Bücherstapel neben dem Schreibtisch um – meine Schuld, was muss man auch Bücher im Arbeitszimmer liegen lassen – und saugte dann eine Kür im Wohnzimmer. Während des doppelten Rittbergers bemerkte die Schnur, dass sie bereits mehrfach um den Hocker gewickelt war, und riss ihn ruckartig weg. Mein Bein gewann Bodenkontakt. Dass der frisch gebrühte Kaffee mir dabei ins Gesicht flog, gab der Sache eine gewisse Intensität. Die Fragmente der Tasse bildeten ein geschmackvolles Environment mit Millefiori-Scherben und Kaffeeflecken.

Dazu also braucht man eine Ärztin. Um eine Wohnung mit chirurgischer Präzision in Schutt und Asche legen zu lassen.

Mehrere Liter Kaffee später – mein Puls war wieder im unteren Bereich, ungefähr einem untrainierten Marathonläufer vergleichbar – befahl ich Heike, in der Küche zu verschwinden. Als emanzipierte Frau störte es sie nicht einmal.

„Ich finde, dass der Tisch nicht mehr so richtig glänzt“, ließ sich ihre Stimme vernehmen, „dabei habe ich schon zweimal geputzt.“ Ich ruckelte ein bisschen mit dem Liegesessel hinüber, um einen Blick auf die Küchentür zu erhaschen. Den Schmerz im Unterschenkel konnte ich gerade noch ignorieren, vielmehr: ich beschloss, mich ganz auf ihn zu konzentrieren. Der Anblick, wie Heike die Anrichte besessen mit Putztuch und Essigreiniger bearbeitete, versetzte mir einen Schock. Zwanzig Jahre lang hatte ich den Schleiflack mit einem Lederläppchen und Kartoffelwasser gesäubert.

Ein seltsamer Geruch übertönte die Szenerie. Milch. Eine natürliche Emulsion, die aus nicht vermischbaren Phasen besteht. Die Proteine, die zwischen wasser- und fettlöslichen Bestandteilen zu vermitteln pflegen, waren koaguliert. Das dünne Häutchen zwischen Fett und Wasser war geborsten und die darunter sich dehnenden Wasser waren mit Wucht ins Freie geflohen, mit anderen Worten: apokalyptische Brauntöne zierten den Herd. Es röchelte aus dem Topf. Nebenher inszenierten die Eiweiße ein lustiges Fegefeuer auf dem Ceranfeld.

Muskelfaser hin, Schmerz her, ich robbte auf Heike zu und umklammerte flehentlich ihre Knie. Sie errötete. Strich mir über den Schopf. „Du, sag jetzt nichts…“ Ich vergoss bittere Tränen. Doch ich fasste mich. „Tu mir bitte einen Gefallen, ja? Einen einzigen!“ Sie fasste meine Hände und versprach, alles zu tun für mich. Alles. Wirklich alles.

Heike wird meine Wohnung nie wieder betreten. Versprochen ist versprochen.