Die Zwitscher-Maschine

9 04 2009

„Super Sache, das! Müssen Sie haben! Das ist so super, weil, das hat jetzt jeder! Weil, das ist eben so super!“ Natürlich kann ich mich einer so stringent vorgetragenen Argumentationskette nicht entziehen und sagte Nestler zu. Wenn man ihm ein paar Minuten zuhört, beruhigt er sich meistens und lässt einen dann wieder für Wochen in Ruhe.

Zwar hatte Nestler gerade gar keine Zeit, als ich ihn aufsuchte – er telefonierte beidohrig – und bat mich, später wiederzukommen. Sanft erinnerte ich ihn daran, dass nicht ich ihn um den Termin gebeten hatte. Er hatte mich anscheinend vergessen. Erst das Stichwort versetzte ihn wieder in rauschhaften Zustand. „Sie müssen das unbedingt mal probieren, weil das ist so super!“ Und er reichte mir eine Sonnenbrille. Mein Einwand, ich besäße bereits ein Gestell mit optischen Gläsern, ließ er nicht gelten. „Das ist aber super, weil da ist Twitter drin!“

In dieser Brille befand sich also Twitter. Gut, als Kind habe ich auch geglaubt, dass im Fernseher lauter kleine Männerchen eingesperrt seien. Aber irgendwann wird man halt erwachsen. Nestler erklärte mir die Glotzapparatur. Die Innenseite diente der Projektion von Nachrichten und Bildern, in den Bügeln befand sich eine Bluetooth-Verbindung zum Steuergerät. Man könne also stets und ständig, Tag und Nacht – wenn man denn Wert darauf legte, nachts eine Sonnenbrille zu tragen – Nachrichtenschnipsel lesen. Er drückte mir gleich die Bedienungsanleitung in die Hand. „With Twitter, you can stay hyper-connected to your friends and always know what they’re doing“, las ich da, „Twitter puts you in control and becomes a modern antidote to information overload.“ Ich würde wie ein Mitesser an der Backe meiner Freunde kleben und dadurch ihrem Sprechdurchfall entgehen. Ja, das klang einleuchtend.

Nestler war unterdessen schon wieder schwer beschäftigt; er musste telefonisch mitteilen, dass er gerade telefonierte. Also setzte ich die Brille auf und ging. Die Einschaltmeldung irritierte mich. „Eating soup? Research shows that moms want to know.“ Schön. Ich würde also jetzt gleich meine Mutter vom Münzfernsprecher aus anrufen und ihr mitteilen, dass ich Suppe gegessen hätte. Sie würde mich fragen, ob ich noch ganz dicht sei.

Ich surfte ein bisschen herum. Schlecht bezahlte Versicherungsangestellte beschwerten sich über ihre schlechte Bezahlung. Kleine Mädchen beklagten sich über andere kleine Mädchen. Börsentipps. Spam. Ein Remix aus Privatsphären zog an mir vorüber. Ich erfuhr, wer unter Erektionsstörungen litt und mit welcher hirnrissigen Idee die Marketingabteilung eines Lebensmittelkonzerns ihre nächsten Millionen in den Sand setzen wollte. Münzbacher war gerade krank. Jacqueline wollte unbedingt zwei Männer. Hochwürden war offenbar schwul. Kollauer von Kollauer & Seeck Consulting teilte der Welt mit, dass er gerade telefonierte. Die Hintergrundbilder zeigten wechselnd Zuchtpudel und Neuerwerbungen aus dem Schuhgeschäft. Kollauer teilte mit, er schreibe gerade ein Memo. Luka prahlte mit seinem Highscore. Hochwürden bat um Diskretion. Der Lebensmittelkonzern auch.

Plötzlich geriet ich auf einen ganz anderen Kanal. Dieses Bild kam mir bekannt vor, und noch bevor ich die Einzelheiten abrufen konnte, sah ich schlagartig die Zusammenhänge. Ein kleines Format, 41,3×30,5 Zentimeter, Ölpause und Aquarellfarben auf Papier, mit der Zeichenfeder eingefasst und dann auf Karton montiert. 1922 von Paul Klee.

Zuerst wirkte es wie ein heiterer, unschuldiger Streich mit Strichen auf dem stahlgrauen Grund. Vier Vögel hockten auf der geschwungenen Stange, kindlich gekritzelt, wie sie zweckfrei vor sich hinträllern. Eine höchst spaßiger Apparat, der die Technikverliebtheit der Menschen karikierte und zugleich ihr Bedürfnis nach heiler Welt, nach piepsenden Vögeln im Sonnenuntergang schilderte. Die Leichtigkeit, mit der diese Zwitscher-Maschine Träume produzierte und in die Welt hinauswarf, ungebremst und leidenschaftlich. Doch das Bild wurde bedrohlich. Die Vogelköpfe kreiselten. Wie Köder steckten sie Zungen mit Fangzähnen aus.

Ein Vogel schnatterte Ausrufezeichen. Dabei balancierte er auf dem Kurbeldraht. Er sah nicht, dass unter ihm der Abgrund lag. Der zweite, ein Angstvogel, war sichtlich um Balance bemüht. Er ließ den Kopf hängen, girrte Fragezeichen und duckte sich vor den Antworten. Der dritte ignorierte; er rotierte lieber um sich selbst, indem er gebetsmühlenartig Kaskaden zirpte. Der vierte Vogel schließlich lauerte. Angriffslustig spielte er mit der gespaltenen Zunge, den Blick starr auf die Aquarellwolke geheftet. Wie ein Stachel riss sein Gesang die Luft in Fetzen.

Unter ihnen leuchtete ein schmutzigrotes Rechteck. Von vorne schien es wie ein Podest für die Sänger, doch ich erkannte einen Abgrund. Feuer glomm von unten. Die Vögel sangen um ihr Leben. Ein Teufelsdreizack hinderte sie, von der Kurbelstange zu springen, die sie mit ihrem Gezwitscher in Gang hielten. Sie waren freiwillig hinauf geflogen, doch sie konnten nicht mehr fliehen. Sie zwitscherten, weil sie zwitschern mussten. Längst waren sie Teil der Maschine. Sie hielten in Bewegung, was sie laut und verzagt machte, gleichgültig und aggressiv. Ihr Ich war längst verloschen.

Ich setzte die Brille ab und steckte sie in meine Tasche. Nestler könnte sie wiederhaben. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, schnell nach Hause zu gehen und Suppe zu essen. Ganz heimlich.