Der Dauerregen trug sintflutartige Züge. Ganze drei Tage lang waren die Wassermassen über das Land niedergegangen. Die Flüsse schwollen gewaltig an und die Straße ins Tal war vielerorts unterspült worden. Die Behörden versuchten, die Bevölkerung zu warnen. Doch wurden die Rundfunkstationen angewiesen, keine Katastrophenmeldungen mehr zu verbreiten, um einer Massenpanik vorzubeugen.
Mitten in der Nacht brach der Staudamm. Die Flut ergoss sich in ein Dutzend kleiner Städte und die umliegenden Dörfer. Eine Fläche von mehr als 50 Quadratkilometern wurde völlig überflutet. Ein Dutzend Menschen ertranken unmittelbar danach, weitere 150 wurden vermisst. An die 60 Millionen Kubikmeter strömten über das Land, sammelten sich in einem Talkessel, schnitten das Gebiet von der Außenwelt ab. Viele Häuser, die im Zuge des staatlich finanzierten Wohnungsbauprogramms der vergangenen Jahre errichtet worden waren, hielten dem Druck nicht stand und brachen zusammen. Ungefähr 80.000 Menschen wurden obdachlos. Die Rettungsmaßnahmen verliefen unkoordiniert, da die Telefonleitungen sofort abgeschaltet worden waren. Die eingekesselten Menschen verständigten sich durch Zurufen, mit Trillerpfeifen, durch Schilder und Zeichensprache.
Der Präsident war nicht erreichbar. Es hieß, er müsse für ein Fernsehinterview eine neue Krawatte besorgen. Stattdessen ließ sich der Minister für Tourismus einfliegen. Er begutachtete vom Helikopter aus die Staumauer, konnte jedoch keine Konstruktionsmängel feststellen und kehrte ohne Zwischenlandung in sein Wochenendhaus zurück.
Die Regierung entschied sich noch am selben Tag, ein Hilfsangebot aus dem Nachbarstaat anzunehmen. Die Spendengelder dienten zum Kauf mehrerer Großzelte, mit denen 30 Familien ein notdürftiges Dach über dem Kopf bekommen sollten. Man hatte nur das Beste für die Opfer der Katastrophe ausgewählt. Bedauerlicherweise gab es im Umkreis von Kilometern kein trockenes Land, auf dem man die Zelte hätte errichten können. Das Ministerium für Viehzucht empfahl, die Zelte in den Süden des Landes zu schaffen; da viele der Bewohner noch immer auf den Dächern ihrer vom Einsturz bedrohten Häuser ausharrten, riet der Ministeriumssprecher, einzeln in höher gelegene Gebiete zu schwimmen. Das sei zudem gesund, da es der Ertüchtigung des ganzen Körpers diene. Der Präsident war unterdessen für eine Stellungnahme noch nicht zu erreichen. Er musste für das Fernsehinterview unbedingt neue Schuhe kaufen.
Die Ordnungskräfte waren in der Zwischenzeit schwer beschäftigt. Aus allen Landesteilen hatte man Beamte zusammengezogen, um die Situation unter Kontrolle zu behalten. Die Reporter zweier privater Fernsehsender konnten aufgespürt und schnell verhaftet werden; sie hatten versucht, das ganze Ausmaß der Überschwemmung für eine Sondersendung zu dokumentieren. Man fand bei ihnen Material, das nachwies, wie systematisch gegen Bauvorschriften verstoßen worden war, um die Wohnblöcke in mehreren Dörfern rechtzeitig zu einem Wahlkampfauftritt des Präsidenten fertig zu stellen. Der jedoch äußerte sich dazu nicht. Er suchte für das bevorstehende Fernsehinterview einen neuen Anzug aus.
Fernsehkameras kamen erst am folgenden Tag mit dem Präsidenten, der sich eine ganze Stunde Zeit nahm, die leitende Notärztin auszufragen: welches ihre Lieblingsblumen seien, ob sie ein Faible für ältere Männer mit Neigung zu Glatze und Schmerbauch besäße und ob sie sexuell freizügig sei. Die überfluteten Ortschaften, die Massen von Schlamm und Trümmern hatte er nicht zur Kenntnis genommen. Die Ärztin, der das Gespräch sichtlich peinlich war, ließ ihn schließlich stehen, da sie einen Notfall zu versorgen hatte. Der Präsident wurde vom Kamerateam des staatlichen Fernsehens zum Rathaus einer knapp 15 Kilometer entfernten Kleinstadt begleitet, wo er beteuerte, an den Neubauten könnten keine Baumängel bestanden haben; er habe sich selbst in der Nähe aufgehalten, aber niemand habe ihn auf etwaige Versäumnisse hingewiesen.
Weiterhin versicherte der Präsident, dass die medizinische Betreuung und die Verpflegung für die Opfer der Überschwemmung hervorragend angelaufen sei. Sie verbrächten die Nächte zwar weiterhin unter freiem Himmel, dies sei jedoch nicht mehr gravierend, da der Regen inzwischen abgeklungen sei.
Dasselbe gab am folgenden Tag auch der Minister für Versicherungsbetrug und Justizirrtümer zu Protokoll. Er hob noch einmal besonders hervor, dass der Staudamm ein nationales Prestigeprojekt sei, das von der hochstehenden Technologie des Landes zeuge. Fragen zur Koordination im Krisengebiet wurden nicht gestellt. Das staatliche Fernsehen sendete statt der Pressekonferenz die Wiederholung eines Zeichentrickfilms, was aber nicht weiter auffiel.
Einer Kommission aus China, die die Erfahrung mit dem Bruch des Drei-Schluchten-Staudamms einbringen wollte, wurde die Einreise verweigert. Man habe, teilte das Ministerium für gesundes Volksempfinden auf Anfrage mit, ausländische Hilfe nicht nötig. Die Naturkatastrophe sei ein nationales Symbol, das dem Land ganz alleine gehöre. Geldspenden seien jedoch weiterhin willkommen.
Das geplante Fernsehinterview fiel aus. Der Präsident meinte, die neue Krawatte passe nicht zu seinem Anzug.
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