Der Internationale Gerichtshof hielt sich vorerst bedeckt. Nachdem bekannt geworden war, dass die beiden israelischen Rechtsextremisten Barutsch Marsel und Itamar Ben Gvir Klage gegen die römisch-katholische Kirche eingereicht hatten, weil General Titus im Jahr 70 anlässlich der Zerstörung des Jerusalemer Tempels einen siebenarmigen Kerzenleuchter aus Gold gestohlen haben solle, lag das Interesse der Weltöffentlichkeit auf der Frage, ob der Fall überhaupt angenommen würde und, wenn ja, ob eine Restitution herbeizuführen sei. Das oberste israelische Gericht hatte die Sache zuvor abgelehnt. Man habe, hieß es in Jerusalem, bereits genug Zores.
Der Prozessverlauf gestaltete sich schwierig. Zunächst riefen die Ultraorthodoxen neben zwei Rabbinern auch Gott als Zeugen an. Denselben jedoch zur Einvernahme zu bestellen, lehnten sie entschieden ab. Im Übrigen lehnten die Siedler jede Einmischung des Gerichts in eine juristische Entscheidung ab. Eine Anfrage beim Jerusalemer Oberrabbinat blieb ebenfalls fruchtlos; die Behörde teilte mit, man lehne es ab, sich um Meschuggene zu kümmern.
Doch die Rechtssache machte rascher Furore, als man erwartet hatte. Es galt an vielen Fronten, historische Altlasten aufzuarbeiten. Maßgeblich zur Verschärfung der internationalen Konfliktlage trug die Landsmannschaft der Westgoten bei, die ihre Forderungen vor dem Europäischen Parlament zu Gehör brachte. Vor Spruchbändern mit blutroter Aufschrift 1700 Jahre Vertreibung reichen – Siebenbürgen bleibt unser demonstrierten die ehedem Entwurzelten, dass ihre Ansprüche ohne Zweifel berechtigt seien. Die Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen sowie der Dobrudscha- und Bulgariendeutschen bezeichneten den Vorstoß als absurdes Spektakel und distanzierten sich als erste Vertriebenenorganisation von dem Dekret, das die Ostgermanen eigenmächtig im Namen der anderen Vereine erlassen hatten. Trotzdem widmete das Zentrum gegen Vertreibungen der westgotischen Thematik eine aufwändig gestaltete Ausstellung; Steuergelder waren dafür vorhanden.
Für Irritationen sorgte der Fund einer Versicherungspolice aus dem Hause Herodes, die nachwies, dass die damalige Tempelanlage – der Verkehrswert des Altbaus war vollkommen korrekt mit 1000 Euro angegeben – gegen Brand versichert gewesen war. War die These, die Juden selbst hätten den Tempel in Flammen gesetzt, um der drohenden Entweihung zuvorzukommen, bislang noch eine in revisionistischen Kreisen gepflegte Annahme, so gerieten die Klageführer nun gewaltig unter Druck. Einschließlich der inflationsbereinigt auf zwei Prozent festgesetzten Zinsen belief sich die Summe, die im Falle eines Versicherungsbetrugs zu erstatten war, nun auf 47,39 Trillionen Euro, eine Geldbuße nicht eingerechnet. Der Finanzminister frohlockte; als Rechtsnachfolger von Herodes sah er bereits die Sanierung des Staatshaushaltes, abgesehen vom lang ersehnten Ausgleich des Außenhandelsdefizits.
Weitere Verwicklungen folgten. So setzte der Gesamtverband der Jebusiter, die gegen 1230 vor Christus während der Landnahme Kanaans von den Israeliten den Verlust einer städtebaulich relevanten Befestigungsmauer in Jericho zu beklagen hatten, eine Sammelklage durch. Auch andere Betroffene meldeten sich zu Wort. Die Moabiter pochten auf nachträgliche Einhaltung des Antidiskriminierungs-Gesetzes, da für Jahrhunderte insbesondere ihre weiblichen Nachkommen benachteiligt worden seien – ungeachtet der Tatsache, dass mit König David auch ein Regierungsmitglied moabitische Wurzeln gehabt habe. Eine UNO-Resolution, die die Landnahme Kanaans als vorsätzlichen Genozid bezeichnete, bezeichneten die Klageführer als plumpe antizionistische Propaganda.
Dies stieß dem Internationalen Gerichtshof sauer auf; möglicherweise kam er darum zu der Feststellung, aus der Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche weite Teile des römischen Rechtssystems als Grundlage der frühchristlichen Theologie übernommen habe, ließe sich nicht ohne weiteres eine Rechtsnachfolge konstruieren. In diesem Fall müssten die Orthodoxen, die sich als alleinige Nachfolger der historischen Israeliten ansähen, sich auch sämtlichen Ansprüchen stellen, die seit der Bronzezeit aufgelaufen seien.
Der Oberrabbiner war unterdessen nicht für eine Stellungnahme erreichbar. Er weilte gerade in Venedig, das nach zähen Verhandlungen mit der EU seine Unabhängigkeit durchgeboxt hatte und nun in einem feierlichen Akt den Neuanfang als souveräne Republik beging. Gemeinsam mit dem Dogen Massimo Cacciari besprach er die außenpolitische Problematik, dass auch Genua die Autonomie anstrebe; daneben nahm er an diplomatischen Verhandlungen teil, denn einerseits trieb in Wien der Nationalrat den Anschluss an Deutschland voran, andererseits hatte das ungarische Parlament für die Wiedereingliederung Österreichs in eine k.u.k.-Monarchie gestimmt – diesmal natürlich unter magyarischer Führung.
Das Corpus delicti fand sich eher zufällig in einem Kellerraum in den Vatikanischen Museen. Es war 1529 aus dem Privatbesitz eines osmanischen Sammlers in das Magazin des Kunsthauses gelangt. Einer Rückführung stand nun nichts mehr im Weg. Allerdings winkte der Oberrabbiner nach einer ersten Augenscheinnahme in Rom ab. Dies sei nicht der besagte Leuchter; der echte sei so gut wie neu gewesen. Man danke herzlich für die Bemühungen, müsse aber in Israel nicht jeden Tinnef haben.
ich muss mir wieder mal eine Zeitung kaufen, so ganz ohne Zeitung bekommt man die Irrungen der Welt nicht mit.
Und es gibt Tage, an denen ich froh bin, solche Wirrungen nicht als Journalist ernsthaft bearbeiten zu müssen 🙂