Fahrstuhl zum Schafott

14 05 2009

Bis heute bin ich bereit, jeden Eid zu leisten, dass ich Heike nicht ins Kino eingeladen habe. Niemals. Nicht im Leben! Was auch vollkommen unlogisch wäre. Erstens pflege ich so gut wie nie ins Kino zu gehen, zweitens gehe ich, wenn überhaupt, alleine, und drittens in jene Art von Filmen, bei denen ich ein gewisses Verständnis habe, wenn man sie als diffizil bezeichnet. Italienischen Neorealismus und Rive Gauche sieht man eben am besten alleine, was auch den zweiten Punkt untermauert, und da die cineastischen Werke der Sechziger nun mal nicht ständig laufen, hat endlich der erste Punkt seine Berechtigung. Zumal ich mir nicht vorstellen kann, mit dieser Frau einen Film zu sehen. Heike hegt eine so heimliche wie ausdauernde Liebe zu mir. Seit Jahren. Sie rief Reinmar als Zeugen an, der meinen bohrenden Blick mit maliziösem Grinsen ignorierte und ohne sich zu schämen behauptete, er selbst habe mein Versprechen noch im Ohr. Der Mann war des Todes. Ich aber war das Opfer des denkbar schnödesten Verrats.

Das aktuelle Programm machte die Sache nicht besser. „Guck mal“, sagte Heike, während sie sich über die Tageszeitung beugte, „im Eldorado kommt heute Abend so ein französischer Film. Die magst Du doch so gerne.“ Ein völlig unbekannter Krimi eines noch unbekannteren Regisseurs, aber von 1963. Ich gab mich geschlagen.

Sie musste schon eine Viertelstunde auf mich gewartet haben. Die Braut trug Schwarz. Wir lösten unsere Karten und betraten den halb vollen Saal des Lichtspielhauses. Ganz vorne setzten wir uns.

Es wurde stockfinster. Jazzklänge peitschten die Atmosphäre hoch. Der Schuft, der Jean-Paul Belmondo entfernt ähnlich sah, knallte mit der Maschinenpistole drei Dutzend Flics ab, die brav ihre Kugel abwarteten, statt aus der Schussbahn zu gehen. „Ich glaube, den kenne ich“, ließ sich Heike eine Spur zu laut vernehmen, „war der nicht mal im Fernsehen?“ Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn. „Ich kann es mir nicht vorstellen, aber wenn Du es sagst…“ So hatte ich es mir vorgestellt. Es gab kein Entrinnen.

Lino Ventura war ein gefragter Leinwandstar. Deshalb hatte er vorsichtshalber ein drittklassiges Double zu Verfilmung dieses Drehbuchs geschickt. „Eh bien“, näselte Inspektor Chevalier dem jungen Kollegen zu, „das Monster hat wieder eine Bank ausgeraubt! Wir müssen ihn schnappen, bevor er die Nationalbank plündert!“ Heike ergriff meinen Arm. „Gleich zeigen sie die Nationalbank!“ Und so geschah’s. Jean-Paul II. pfriemelte schon Dynamit zurecht, wienerte seine Waffen auf Hochglanz und schlich sich durch die Kanalisation von Koblenz direkt ins VI. Arrondissement. Das Herzflimmern war nur noch eine Frage der Zeit – indes nagte Leclerc, der Nachwuchs-Kommissar, am Bleistift und skizzierte Fluchtmöglichkeiten auf dem Pariser Stadtplan. Da trat eine existenzialistisch anmutende Dame ins Zimmer – schwarzes Kleid, schwarze Schuhe, schwarzes Haar, fingerdick umflorte Kajal ihre schwarzen Augen – und sagte sicher etwas Bedeutsames, aber Heike kam dem Weib zuvor: „Die kriegen sich!“ Halblaut murrte es aus dem Hintergrund. Was la bête noire Leclerc gesteckt hatte, war mir entgangen. Offenbar auch anderen Besuchern. Zur Sicherheit legte sie nach: „Glaub’s mir, die kriegen sich am Ende!“ In meinem Nacken trafen sich tausend Nadelstiche.

Irgendein Alien-Film hätte gepasst.

Vorne lieferte sich der Schlacks mit der Wumme in der Faust einen Schusswechsel mit Chevalier und seinen Ordnungshütern. Natürlich lud er nie nach; pausenlos fanden die Projektile Stirn und Brust der Policiers, obschon Jean-Paul sich nicht die Mühe machte, im Halbdunkel des Tresorschachts zu zielen. Heike hatte sich in mein Hemd verkrallt, die Augen starr auf die Leinwand geheftet. „Er wird schwer verletzt“, teilte sie mir atemlos mit, „aber er überlebt es!“ Das Echo folgte nur Bruchteile einer Sekunde später. „Ruhe da vorne! Wir wollen den Film sehen!“ Ich rutschte in den Sitz zurück und machte mich ganz klein. Warum saß ich nicht wie sonst in der letzten Reihe? Oder gleich auf dem Fahrstuhl zum Schafott?

Leclerc stürmte in den Schacht, den Revolver im Anschlag. „Pourriture, ergeben Sie sich! Jeder Widerstand ist zwecklos!“ Gegenschnitt – die Schwarze wimmerte an der Tür um Pierre. „Ich sag Dir doch, die kriegen sich“, krähte Heike. Zentnerschwer traf mich der Atemdruck zwischen den Schulterblättern. Sie lauerten.

Warum zeigen sie Apocalypse Now nie dann, wenn man es wirklich braucht?

Siegesgewiss riss Pourriture eine Sprengkapsel empor. „Keinen Schritt weiter, Bulle“, schrie er, „sonst explodieren wir alle! Es lebe die Anarchie!“ „Er lügt“, jodelte Heike dazwischen, „pfui, was für ein abgekartetes Spiel!“ Ich kroch verzweifelt unter den Sitz. „Verfluchte Scheiße noch mal“, röhrte es aus dem Hintergrund, „wenn jetzt nicht gleich Ruhe ist, gibt’s hier Tote!“ Chevaliers Schicksal schien meines zu sein. So hoffte ich wenigstens. Nicht alle Lungensteckschüsse müssen tödlich verlaufen.

Leclerc war auf Zack. Brillant knallte er dem Bösewicht eine Kugel ins Bein, so dass der in den Kanalisationsschacht stolperte – seine zukünftige Braut hatte unterdessen den Notausgang luftdicht verschweißt – und sein Ableben via Detonation in Angriff nahm. Die Nationalbank war gerettet. Heike brach in frenetischen Jubel aus. Wenigstens berichtete mir das die Schwester, als ich wieder zu mir kam. Alles halb so schlimm. Verglichen mit einem Lungensteckschuss.