Manche meinten, man könne auch zu weit gehen. Manche meinten, jetzt gehe sie endgültig zu weit. Die meisten hielten es für einen Aprilscherz. Nur wenige begriffen, was da geschah.
Als Ursula von der Leyen zu Beginn darauf hinwies, dass in der Mitte der Pressekonferenz die Besucher die Aufnahmegeräte auszuschalten hätten, waren noch alle verwirrt. Doch der tiefere Sinn der Präventivmaßnahme erschloss sich ihnen schnell. Vorsorglich hatte der Bundestag in erster Lesung ein Gesetz verabschiedet, das ihm aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht zur Lektüre vorgelegt worden war. Fatal, wäre hier pauschal der Eindruck entstanden, dass es Abgeordnete gäbe, die sich gegen Sperrungen sträuben wollten. Nun sollten zur Wahrung des gesunden Volksempfindens keinerlei Kinder mehr in den Medien gezeigt werden. Der Volksmund wisse, so die Bundesministerin, dass Gelegenheit Diebe mache. Vorsorge sei nun erste Bürgerpflicht, Kontrolle hin, Zensur her. Das Volk wisse nicht, was ihm zum Guten gereiche.
Das Nähere regelte, da stets zu Diensten, ein Bundesgesetz. Das Bundesministerium des Innern übernahm recht gerne die Verwaltungsarbeit.
Containerweise landete anderntags Papier auf dem Parkplatz des Bundeskriminalamts. Bürger mit gesetzestreuem Sinn hatten Versandhauskataloge gesammelt und abgegeben, in denen Kleinkinder, ja Babys in altersgerechter Wäsche abgebildet waren. Tausendfach stapelten sich Säuglinge im Strampler und kleine Mädchen in Schlüpfern vor der Behörde, ohne dass auch nur ein Befugter gewusst hätte, wie im Massenfall zu verfahren sei. Die Ministerin verbat sich etwaige Anfragen; die Durchführung sei ihr egal. Schwierigkeiten ergaben sich aus der Strafprozessordnung. Straffällig wurde schon, wer die inkriminierten Materialien in Augenschein zu nehmen geeignet war – das BKA rotierte.
Irritationen erregte der medienwirksame Jubel des Zuckerproduktmarketingkonzerns Ferrero, der zwar der hessischen CDU eine Kleinigkeit wegen Steuerhinterziehung verdankte, für den Kinder-Begriff aber seine besten Anwälte aus dem Käfig ließ. Kinder-Gärten, Kinder-Spielplätze, Kinder-Tagesstätten waren noch immer im öffentlichen Bewusstsein verankert. Die Allianz war schnell geschlossen. Mit freundlicher Unterstützung von Nuss-Nougat-Creme, Milchschaumschnitten und diversen Schokoladenriegeln jagte die Regierung nun auch in den Werbepausen zur besten Sendezeit potenzielle Verbrecher – griffig gestaltete Spots trichterten der Fernsehnation ein, dass Kinder in bunter Plastikfolie statthaft, ansonsten aber pfui seien. Der Umsatz stieg.
Andernorts trat er auf der Stelle. Dienstbeflissen filzten die Kohorten das Sortiment auf Kindersitze, Kinderwagen, Kinderbetten. Stoppschilder klebten an Schaufenstern. Auf blutrotem Grund bohrte sich die Warnung Kauft nicht beim Pädophilen in die Augen. Das Volk war verstört. Die Ministerin frohlockte.
Schon waren die Konzerne zur Verschleierung übergegangen; ein ausrangierter Stasi-Offizier mit langjähriger Erfahrung an DDR-Sprachschatz bot seine Dienste den Unternehmen an und trug viel dazu bei, Begriffe wie Nachwuchssitzelement oder Minderjährigenzahnpflegegerät zu etablieren.
Schäubles Schutztruppe zerrte den Praktikanten aus dem Bett. Er hatte auf Geheiß seines Ausbilders den Titel einer auflagenstarken Illustrierten in Druck gegeben, ohne zuvor auf das Layout geblickt zu haben. Der Druckfehlerteufel hatte sein perfides Spiel mit den Gänsefüßchen getrieben. Anstatt des politisch korrekten „Kinder“-Schutz stand hier Kinder-„Schutz“. Obzwar sich der Haftrichter die Lippen fusselig redete, der Jugendliche wurde in Gewahrsam genommen.
Die Aufbruchsstimmung im Lande zeitigte schöne Folgen. Die Jugend war weg von der Straße. Musste sie ehedem noch Asylanten-, so konnte sie jetzt Kinderheime in Brand stecken, Kindergärten, Kinderkliniken, Kinderhorte, Kinderkrippen. Die Opfer wurden immer jünger und die Bilder immer brutaler. Die Bundesministerin zeigte sich zufrieden und beschied, wer das garstige Wort unverhohlen benutze, müsse eben mit Konsequenzen rechnen.
Der Kinderschutzbund wehrte sich gegen seine staatlich betriebene Zwangsumbenennung. Allein das half nichts; hatte man bei Kinderkrankheiten schon kein Pardon gegeben, so musste auch dieser Begriff aus dem Bewusstsein getilgt werden. Schon wurde bekannt, dass ein bekannter Liedermacher in der adventlichen Singestunde von der Bühne weg verhaftet worden war. Als strafverschärfendes Moment wies die öffentliche Vorverurteilung auf die Verwendung des Diminutivs in Ihr Kinderlein kommet hin, die an Perfidität kaum zu überbieten sei, noch dazu in einer KiTa.
Die Bundesministerin war der irrigen Meinung gewesen, über den Dingen zu stehen und also auch über dem Gesetz. Doch das nützte ihr wenig. Ohne zu zögern erhob der Staatsanwalt Anklage. Es galt, höhere Interessen zu vertreten. Sie hatte sich bei einem ihrer zahlreichen Pressetermine ablichten lassen und prompt eine Strafanzeige kassiert, nicht ganz zu Unrecht, wie konservative Kreise äußerten. Wer fährt auch heute noch mit einem Zweitwagen durch die Gegend, auf dessen Heck der sattsam bekannte Aufkleber Ein Herz für Kinder prangt.
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