Zuerst zeigte es sich etwas geneigt. Ich schenkte dem keine weitere Beachtung. Nachmittags jedoch gewann es gefährlich Schlagseite. Am Ende kippte das Bücherregal – ich kam gerade noch rechtzeitig, um die Sophienausgabe und Heines gesammelte Werke an den Kopf zu kriegen. Der Sachschaden hielt sich also in Grenzen, doch eine neue Stellage musste her, und das schnell. Hatte ich nicht mit dem Postwurf den allmonatlichen OKEY-Katalog erhalten? Ich fischte ihn aus dem Altpapier.
Das Bücherregal Wuschl in Buche furniert war von der Breite gerade passend. Auch der Preis sagte mir zu. Also griff ich zum Telefon und orderte das Ding. „Sie können es entweder ab morgen früh in einer Filiale Ihrer Wahl abholen“, teilte mir das Fräulein vom Mobiliaramt mit, „oder wir schicken es Ihnen zu.“ Ich wollte das Gestell sofort haben – schließlich herrscht mich Hildegard ohnehin schon an, wenn sich im Arbeitszimmer mehr als ein Festmeter Bücher auf dem Boden stapelt, sie hatte bereits in Erwägung gezogen, den Raum nur noch auf Stelzen zu betreten, was ich als hervorragende Idee würdigte, so dass es zu einer heftigen Auseinandersetzung kam, in deren Folge sie einmal mehr auszog, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte – und so kündigte ich an, gleich anderntags der OKEY-Auslieferung einen Besuch abzustatten. Ein Wandgerüst ließe sich wohl ohne Schwierigkeiten transportieren.
Etwas unschlüssig stand ich, wo ein blau-gelbes Schild Information versprach. Durchaus freundliche Verkäuferinnen baten mich, noch einen kleinen Augenblick Geduld zu haben. Eine von ihnen hätte mich durch eine rapide Drehung mit der horizontal getragenen Gardinenstange Blörm fast geköpft, aber das wäre zumindest meine Teilschuld gewesen. Was musste ich meinen Kopf auch auf ihrer Schulterhöhe durch die Gegend schleppen. Da nahte schon der Lagerleiter. Ich nahm wenigstens an, dass es sich um diesen handeln müsse, denn er machte mir ganz den Eindruck eines solchen. Ob es Probleme geben würde? Ich war auf die Ausrede gespannt. Man kennt das ja.
„Guten Morgen! Kuwalke mein Name. Schön, dass Sie so zeitig kommen konnten. Ja, dann wollen wir gleich anfangen – Sie haben sicher noch viele Filialen auf dem Tagesplan, als Betriebsprüfer hat man ja gut zu tun, sagt man.“ Ich empfand es als unhöflich, ihn auf die Verwechslung hinzuweisen, und schon befanden wir uns im Bauch der Firma.
Kräftige Arbeiter zerrten Spanplatten aus einem Müllcontainer. Andere wiederum schoben das Zeug kreuz und quer in kreischende Kreissägen, dass die Späne flogen. Hier barst ein Holz unter dem Druck des Sägebandes; dort splitterte eine frisch gesägte Platte in tausend Stücke. Sie wurde an den Kanten notdürftig abgeschmirgelt und segelte krachend auf einem großen Stapel windschief verschnittenen Abfalls. „Der Fertigungsbereich“, brüllte Kuwalke mir ins Ohr, „wie Sie sehen, verbinden wir die Ansprüche unserer Kunden mit einem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis.“ Schwitzend schaufelte ein Kuli aus einer Wanne ein wirres Gemisch von Schrauben und Nägeln, Dübeln, Haken und Ösen in ein Rost. Die Teile fielen durch und landeten in kleinen Tütchen. Jetzt wurde mir klar, warum die ominöse Winkelschraube 31F entweder siebenmal vorhanden war oder aber komplett fehlte, so man versuchte, die Garderobe Örblemmbl vorschriftsmäßig an der Wand zu befestigen. „Na, was sagen Sie jetzt? Solide Leichtbauweise! OKEY war schon immer ein innovatives Unternehmen.“
Die beiden Frauen tasteten sich durchs Büro. Während die eine aus Unachtsamkeit eine Tasse umstieß, suchte die andere den Bleistift. Ungelenke Krakel malte sie mit Hilfe eines Lineals aufs Papier. Doch wozu trugen sie die Augenbinden? „Sie haben bestimmt davon gehört, dass wir unsere Produkte behindertengerecht herstellen.“ Ich betrachtete das Chaos auf dem Blatt. „Außerdem haben die Kunden so die Möglichkeit, gleich von Anfang an eine ganz intensive Beziehung zum Möbelstück aufzubauen.“ Und ich hatte gedacht, dass die Aufbauanleitungen von zugekifften Affen entworfen würden. „Nein, das ist natürlich bloß ein Gerücht. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, woher es stammt.“
Kuwalke öffnete eine Tür. In dem kleinen Raum befanden sich ein Tisch und ein Stuhl, eine Menge Bierflaschen, größtenteils leer, und ein Mann, größtenteils voll. „Das ist unser Sachse“, erläuterte der Betriebsleiter, „einer muss es ja machen. Er ist gut eingearbeitet und reagiert ziemlich schnell.“ Damit legte Kuwalke ihm einige Fotos vor. Der Sachse glotzte glasig auf die Bilder, die er mit ungelenken Händen auf der Tischplatte hin und her schob. „Schbupp… sch… schduddl“, lallte er, und wieder: „K-k-knlld. Knalld!“ „Wundervoll! Das ist ja großartig!“ Kuwalke klopfte dem Betrunkenen heftig auf die Schulter. „Und schon haben wir zwei neue Artikel im Sortiment. Dies Bettsofa nennen wir Studdl, und der Vitrinenschrank mit Schiebetüren heißt Knald. Hübsch, modern und durchaus einprägsam.“ Der Sachse war beim nächsten Bier angelangt und hielt sich am Bild einer Stapelgießkanne fest. So lange wollte ich allerdings nicht mehr warten.
Auf dem Flur fegte gerade ein dienstbarer Geist den Linoleumboden und leerte die Kehrichtschaufel in einen grasgrünen Eimer. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Mögen Sie nicht noch auf einen Happen im OKEY-Restaurant vorbeischauen? Heute gibt’s Köttbullar!“ Hastig verabschiedete ich mich. Weiß der Teufel, woraus der Laden die Fleischklopse fabriziert. Ich will es gar nicht wissen.
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