Zwei Wochen Urlaub! Was kann man da nicht alles unternehmen – an die Nordsee fahren oder mal wieder in die Ardennen. Oder den Flügel neu stimmen lassen, jeden Tag ausschlafen und eine andere Mozart-Sonate spielen. Oder seine geistige Gesundheit komplett ruinieren.
Ich hatte Anne geholfen, die Gartenmöbel in den Keller zu tragen. Zum Dank durfte ich am folgenden Tag ihre Einkaufstüten tragen. Und diesem Himmelfahrtskommando hätte ich sicher nie zugestimmt, wenn mir klar gewesen wäre, dass sie Schuhe kauft. Selbst Schuld. Bei einer Woche oder zehn Tagen hätte Anne nichts gesagt, aber sobald ich zwei Wochen gestehe, weiß sie, dass sich der Besuch im Depot mit mir lohnt.
Bereits nach drei Geschäften saß ich alleine und verzweifelt in der Einkaufspassage – inzwischen war Karl Ranseier ein paar Mal verstorben – als mich ein Mann anblickte. „Sagen Sie“, fragte er, „kennen wir uns?“ Tatsächlich hatte ich Kurt seit dem Abitur nicht mehr gesehen. „Na, das muss doch gefeiert werden“, jubelte er und zog mich ins Café, wo er sogleich Tee und Apfelkuchen orderte, um mir von seiner phänomenalen Karriere als Ägyptologe zu berichten. Nach Hatschepsut, Djoser und dem vierten Pils berichtete er mir gerade von seiner laufenden Scheidung und zeigte mir Bilder aller seiner Sprösslinge, als Anne auftauchte. „Die goldenen Sandaletten aus dem Schaufenster hatten sie nicht in meiner Größe“, informierte sie mich. „Und das hat derart lange gedauert?“ Sie kniff die Lippen zusammen. „Eigentlich suche ich ja ein Paar schwarze Pumps.“ „Ich vergaß“, antwortete ich, „Du hast ja bloß siebenundsechzig davon.“
Machen wir uns nichts vor, Anne ist Sadistin. Oder wie soll man es nennen, wenn sie weiße Flip-Flops aus dem Präsentationsständer ins Geschäft trägt, sich bis Ladenschluss alles – und alles heißt: alles, also Herrenware, Babygrößen, orthopädisches Schuhwerk – in sämtlichen technisch möglichen Brauntönen zeigen lässt, um dann mit weißen Flip-Flops wieder hinauszugehen. Sie verschleißt in dieser Zeit zehn Verkäuferinnen, drei von ihnen erleiden posttraumatische Belastungsstörungen, und Anne ist das egal. „Du betrittst ein Schuhgeschäft lediglich, um das Personal in den Wahnsinn zu treiben“, mokierte ich mich, „und Du kannst es nicht einmal richtig.“ Sie begehrte auf. „Erstens stimmt das gar nicht, und zweitens kann ich das besser als Du!“ „Ich werde Dir zeigen, wie das geht“, entgegnete ich, „Du bist nicht subtil genug. Immer dasselbe Theater, mit und ohne Riemchen, Schnällchen, Häkchen, Absätzchen und dann die ganze Nummer noch mal in 37¾. Wenn Du vorhast, Verkäuferinnen in die Klapse zu bringen, musst Du punktuell vorgehen.“ Sie lächelte säuerlich. „Wenn Du eine einzige Verkäuferin verrückt machst, bezahle ich Dir ein Paar Schuhe.“ „Und ich muss Dich nie mehr ins Schuhgeschäft begleiten?“
Interessiert musterte ich die Auslage. Schwerer Samt, keine Preisschilder – rein. Kaum zehn Sekunden später schritt etwas in Violett auf mich zu. Sicher würde sie mich gleich fragen, ob ich überhaupt genug Geld besäße, um ihren Tempel zu entern. So weit ließ ich es nicht kommen. „Bitte einen schwarzen Budapester, französischer Schnitt, Cordovan, 8½.“ Machte Anne Zeichen hinter meinem Rücken? Sofort bekam ich ein Paar Schnürstiefeletten. Mein Einsatz. „Fangen wir mit dem Positiven an. Sie sind nicht farbenblind. Und jetzt den Budapester.“ Zwei Versuche später waren wir bei einem mäßig guten Markentreter, den ich der Ladenmaus um die Ohren hieb. „Jetzt schauen wir mal auf die Vorderkappe. Glatt wie ein Kinderarsch. Was sagt uns das? Da war der Fabrikant zu blöd, Löcher reinzupieken.“ Das nächste Paar, gelocht, fand noch weniger Gnade. „Das ist ein Oxford. Ein Derby-Schnitt, Madame, hat offene Schnürung und ist am Schaft nicht gerade geschnitten, sondern im Derby-Bow. Werden wir heute noch fertig oder soll ich nächstes Jahr wiederkommen?“ Sie begann zu beben, kam aber mit einem Semibrogue zurück. Ich beäugte ihn kritisch. „Den kann man auch zum Frack tragen?“ Sie zerstreute meine Bedenken. „Interessant. Der Geschäftsführer ist zu sprechen?“
„Semmerow mein Name“, dienerte der Patron. „Tut nichts zur Sache“, schnöselte ich, „Ihre Angestellte will mir doch einen Brogue zum Frack verkaufen.“ Er sah verständnislos mich an, sie, dann wieder mich. Als hätte ich mich beklagt, dass man hier keinen warmen Pinselreiniger mit Milch serviert bekäme. „Zum Frack empfehle ich einen Lackslipper, wenn Sie einmal schauen möchten…“ Ich fiel ihm ins Wort. „Sagen Sie das bitte erstens nicht mir und zweitens dem Personal. Möglichst während der Ausbildung.“ Langsam verlor ich die Geduld. Es war aber auch nicht leicht mit mir.
Sein Angebot war zwiegenähter Machart und mit Löchern fein verziert. Ich erkundigte mich nach dem Obermaterial. Sofort versicherte er mir, dies sei allerbestes Boxcalf, weich und geschmeidig, zugleich robust. Mit grimmiger Miene rieb ich dem Mann die Galoschen unter die Nase. „Damit Sie’s sich merken: Cordovan. Pferd! Kalb ist das Ding, das sich benimmt wie Ihre Sandalöse, Pferd ist das Tier, das ungefähr Ihren Verstand hat. Und jetzt will ich endlich…“ Verstört taumelte er ab, vermutlich, um das Lager zu durchsuchen, sobald sein Blutdruck es zuließe. Während das konvulsivische Schluchzen der Verkäuferin unter der Ladentheke langsam in apathisches Wimmern überging, wurden wir Zeuge, wie er das Hinterzimmer in Einzelteile zerlegte. Mit einem Paar kam er zurück. Budapester aus Pferdeleder, distinguiert schlank. Ich war’s zufrieden. Anne bezahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Preis, meinte ich, sei angemessen. Wenigstens für einen Schuh, der bei guter Pflege 30 Jahre hält. Zumal er als Klassiker sicher auch nie unmodisch würde.
Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie die Ladentür zugeworfen wurde und eine nervöse Hand das Schild Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen in die Vitrine stellte. Tatsächlich habe ich Anne nie wieder in ein Schuhgeschäft begleitet. Sie mich allerdings auch nicht.
Na also: Geht doch! Wieder einer weniger …
Ich erledige Schuhverkäuferinnen gern mit: „Fein! Das sind also jetzt die lustigen schuhoiden Skulpturen. Und wo verwahren Sie die richtigen Schuhe? Die, mit denen man läuft?“
Natürlich muss ich zugeben, dass Herrenware ein bisschen komplizierter zu handhaben ist. Während bei den Damen lediglich die Absatzhöhe wirklich zählt (eine Variable, die sich unter Zuhilfenahme des mitgeführten Zollstocks sogar recht einfach bestimmen lässt), verwickeln Männer das Verkaufspersonal in endlose Diskussionen über das Obermaterial – es muss doch irgendwelche Treter geben, die man ständig tragen kann, ohne sie zwischendurch zu putzen!
Ich neige zu Gummistiefeln. Man wird in der Oper damit wenigstens nicht übersehen.