Schneegestöber

26 10 2009

03:19 – Schwere Träume vom Stalingrader Kessel, nächtlicher Harndrang sowie das Schnarchen seiner Gattin reißen den Rentner Karlheinz D. (85) aus dem Schlaf. Ein Blick aus dem Wohnzimmerfenster lässt ihn augenblicklich jede Müdigkeit vergessen. Eine weißliche Substanz flirrt im matten Licht der Straßenlaterne – der erste Schnee. Unverzüglich schlüpft D. in Hemd und Hose, um seinen Pflichten als Hauswart nachzukommen.

04:54 – Karlheinz D. hat inzwischen die komplette linke Seite des Kiebitzwegs zwischen Amselstraße und Drosselredder mit Rollsplitt abgestreut; der Gehsteig liegt mit geringen Schwankungen unter sieben Millimetern Brechsand, was D., bäuchlings an der Straßenkante liegend, unter Zuhilfenahme einer Halogenleuchte penibel kontrolliert.

04:56 – Erwin M. (88), wohnhaft auf der rechten Straßenseite des Kiebitzwegs, tritt den ersten Kontrollgang des jungen Oktobermorgens an. Aufgeschreckt durch die Mineralausbringung auf dem gegenüber liegenden Gehsteig betrachtet er intensiv die Fahrbahn, worauf ihm, der noch seine Lesebrille trägt, ein Styroporteilchen ins Auge fällt. Er handelt unverzüglich und ruft seinen Neffen Ernst P. (59) an.

05:01 – Trotz der frühen Stunde zeigt sich Ernst P. zum Handeln entschlossen. Die beiden von M. auf der Fahrbahn verstreuten Eimer Sand werden nicht die einzige Maßnahme gegen den verfrühten Wintereinbruch bleiben. P. verspricht, sich bei den Frühschichtkollegen der Straßenreinigung für einen flächendeckenden Einsatz von Räum- und Streufahrzeugen auszusprechen.

05:39 – Als der Sozialpädagoge Lutz G. (45) wie immer um diese Zeit das Haus verlässt, um beim Bäcker in der Amselstraße Frühstücksbrötchen zu holen, bemerkt er die Straßenverhältnisse. Minuten später holt er die Schneeketten aus dem Keller, um sein Auto an die saisonalen Verkehrsbedingungen anzupassen.

06:22 – Mild, ja frühlingshaft bescheint das Morgenlicht die Szenerie, in der dreiundvierzig mitten im Berufsleben stehende Bürger ihre Kraftwagen winterfest machen. Eifrig montieren sie Winterreifen, tragen rhythmisch Schutzpolitur auf und befüllen die Scheibenwaschanlagen mit Frostschutzmittel. Vereinzelte Feindseligkeiten schlagen der Verkäuferin Amelie K. (33) entgegen; die alleinerziehende Mutter erdreistet sich, ohne jegliche Vorsorgemaßnahmen in ihren Kleinwagen zu steigen und zur Arbeit zu fahren.

06:52 – Der Appell hatte gefruchtet. Unter der Oberleitung von Kolonnenführer Ernst P., der mit schwerem Räumfahrzeug die Geröllschicht um eine vertikal gemessene Handbreite an Schlacke ergänzt, schütten die folgenden Laster jeweils genug Sand und Streusalz aus, um den sibirischen Permafrost in Schneematsch zu verwandeln. Keiner bemerkt die heldenhafte Handlung; die vorbeugenden Familienväter befinden sich noch beim Frühstück oder entledigen sich schon der Schmierölreste.

07:11 – Trotz zahlreicher Versuche, die Fahrertür seiner Limousine zu öffnen, scheitert Lutz G. an der schieren Menge des Schleuderschutzes. Mit einem Wutanfall konstatiert er, dass das zwanghafte Schieben an der Türunterkante zu erheblichen Lackschäden geführt hat.

07:23 – Durch den herzhaften Einsatz einer Schneeschaufel befreit Gunnar Sch. (38) den Bodenbereich vor seinem Geländewagen. Das hochbeinige Gefährt ermöglicht dem passionierten Stadtverkehrsfahrer zunächst mühelos, auf die Sandschicht zu steigen, bevor das Sperrdifferenzial seine Mitarbeit verweigert. Während die Räder mit unmelodiösem Knirschen sich in den Splitt fressen, neigt sich der Offroader majestätisch zur Seite, um endlich seine Stabilität wiederzufinden. Ein letztes Aufheulen des Motors, dann ruht das robuste Auto auf der Fahrertür.

07:31 – Mit gehöriger Verspätung biegt der Auszubildende Kevin W. (17) auf seinem Mofa in den Kiebitzweg ein. Zwar bringt die Maschine nur die ordnungsgemäßen 30 Stundenkilometer auf den Tacho, doch erweist sich der plötzliche Wechsel des Bodenprofils als problematisch. Trotz gekonnter Lenkimpulstechnik neigt der Zweitakter hier und da stark zum Ausbrechen, namentlich in unmittelbarer Nähe des Luxuswagens, den Dr. Heiko F. (33) bereits mit Schneeketten ausgerüstet hatte, um den Weg in die Zahnarztpraxis anzutreten. Ein dumpfer Stoß, dann trifft die Wucht des Aufpralls den Außenspiegel, der seine Flugbahn bis in die Blumenrabatten des Vorgartens fortsetzt. W. entscheidet sich, nicht mehr als zweimal pro Woche zu spät in seinem Lehrbetrieb zu erscheinen.

07:32 – Wutentbrannt stürmt F. aus dem Haus. Zunächst glaubt er, der Knall sei eine Folge des Wiedereinparkens des auf der gegenüber liegenden Straßenseite stehenden asiatischen Kleinwagens, der den Spuren im Rollsplitt zufolge in die Mulde gesunken sein muss. In einem zweiten Schritt interpretiert er jedoch die schlingernden Abdrücke als Tatbeweis für eine stattgefunden Kollision mit seinem Wagen.

07:35 – Der Dentist bahnt sich seinen Weg über Sand und Schlacke, um den eilig aus dem Keller gewuchteten Vorschlaghammer zum Einsatz zu bringen; unter groben Hieben klirrt Scheibe um Scheibe splitternd auf, bis F. die Karosserie einer systematischen Materialkaltverformung unterzieht.

07:38 – Kleinwagenhalter Zbigniew D. (35), bei einer Körpergröße von 1,84 m mit dem Gewicht von 90 kg Muskelmasse ausgestattet, schaut dem destruktiven Treiben an seinem Eigentum für Sekundenbruchteile zu, bevor er auf die Straße stürzt. Der ehemalige polnische Meister im Hammerwerfen schlenzt das Instrument mit grazilem Schwung durch beide Seitenscheiben von F.s Nobelkarosse, bevor er den Zahnmediziner zur Rede stellt. Ein Wort gibt das andere. Später ist nicht mehr festzustellen, wann genau F. den etwas komplizierteren Kieferbruch erlitten hatte.

08:02 – Das markante Klopfen an seiner Haustür veranlasst Erwin M., die Pforte zu öffnen; erstaunt muss er sehen, dass sich drei Dutzend Mitglieder der Initiative BürgerInnen für Umwelt und Nachhaltigkeit versammelt haben, um dem unverantwortlichen Streusalzverbrauch mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zu begegnen. M. ist nachhaltig irritiert.

08:19 – Die UmweltbürgerInnen entrollen Transparente mit den Aufschriften Hier wohnt ein Ökonazi und Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Gürtelgrasfink. Eine mitgeführte Trittleiter sowie ein batteriebetriebenes Megafon dienen Gundemarie-Anita G.-L. (46), ein mehrseitiges Manifest über politische Aspekte der Grundwasserneutralität zu verlesen. Sprechchöre unterbrechen sie mehrmals und deutlich jenseits der Lärmschutzverordnung.

08:30 – Schichtarbeiter Diether A. (55) weiß sich nicht anders zu helfen. Er reißt die Flügel seines Schlafzimmerfensters auf und fordert G.-L. mit den Worten „Schnauze, Ökomuschi!“ zum Überdenken ihrer konzeptuellen Herangehensweise auf.

08:34 – Völlig unbemerkt hat sich der Durchgangsverkehr aus Richtung Berseburg-Nord bereits sieben Kilometer lang aufgestaut. Die Berseburger Chaussee, obzwar sie der Durchfahrt durch die Siedlung Kiebitzweg nicht zwingend bedarf, ist ab Höhe Drosselredder dicht. Der Verkehrsfunk warnt vor Auffahrunfällen.

08:44 – Karlheinz D. entdeckt beim Betreten der Fahrbahn ein zusammengeknülltes Stück Papier. Vom optischen Eindruck der weißen Substanz angestachelt begibt er sich sofort in den Keller seines Hauses, um die Vorräte an Streusalz in Blecheimer zu verladen, mit denen er kurze Zeit später zurückkehrt.

08:58 – Die nachhaltig für Gewässerschutz eintretenden Frauen treten nun nachhaltig auf D. ein, der sich mit jeweils einem Eimer in der Hand erbittert zur Wehr setzt. Beim Ausweichen gerät die umweltpolitische Sprecherin der just gegründeten Kleinpartei Menschen beiderlei Geschlechts und/oder Haarfarbe für den Weltfrieden unter besonderer Berücksichtigung legasthenischer VeganerInnen Belinda M.-N. (51) ins Stolpern und bricht sich einen Fingernagel ab. Man beschließt, D. vor das Internationale Kriegsgericht zu stellen.

09:04 – Farbenfroh berichtet Zbigniew D. der Einsatzleitstelle vom Geschehen im Kiebitzweg. In seiner Aufregung fällt ihm manches Wort nur in seiner Muttersprache ein, so dass er sich auf die Mitteilung des Sachverhalts in recht konzentrierter Form beschränkt. Die Kombination von Schnee, Bande und Krieg auf Straße hinterlässt bei seinem Gesprächspartner einen tiefen Eindruck.

09:13 – Das sonore Geräusch der Helikopterstaffel verunsichert die tätige Menge. Erst als sich die Antiterroreinheit abseilt und den Straßenzug stürmt, bricht Panik aus. Die Kampfhandlungen sind verhältnismäßig einseitig; das Gemisch aus Splitt, Sand und Salz gibt schon nach wenigen Schritten nach, so dass die Kontrahenten nicht selten knietief in die Decke einsinken. Die Mannstoppwirkung der Gummigeschosse vermag sich nur eingeschränkt zu entfalten, die mit Holzpflöcken und Besen ausgerüsteten Naturfreundinnen sind taktisch klar im Vorteil.

09:27 – Ingrimmig öffnet Diether A. erneut das Fenster, um den Tagesschlaf des Werktätigen einzufordern. Er zieht dabei deutliche Parallelen zwischen den uniformierten Staatsdienern und übel beleumundeten Nagetieren. Im Eifer des Gefechts feuert Einsatzleiter Kai T. (29) den letzten verbliebenen Gummipfropf in die Radarfalle an der Ecke Amselstraße. Es fällt nicht weiter auf; mit einem Knall zieht A. zeitgleich die Fensterflügel zu. So endet ein Morgen in einer Vorortsiedlung, an dem die Menschen einfach nur die milde Luft eines Herbsttages genießen wollten.


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4 responses

26 10 2009
Tante Jay

Wieso bin ich jetzt froh, dass ich nicht weiß, wo du wohnst? *g*
Hat der Katastrophenschutz bzw. der THW schon mit den Ausgrabungsarbeiten begonnen? 🙂

26 10 2009
bee

Meine Vermutungen gehen dahin, dass die Protagonisten in tagelanger Schweißarbeit das städtische Streugut Eimer für Eimer in die Keller der Einfamilienbunker schippen wird. Falls der Russe doch noch mal kommt. Wer dabei versehentlich das Grundstück des Nachbarn betritt, wird unter Klageandrohung mit der Schneeschaufel bearbeitet.

Also alles wie immer hier in der Vorstadt. Besuchen Sie uns gerne sonn- und feiertags 😈

26 10 2009
Morla

„M. ist nachhaltig irritiert.“ – bee, Sie haben es wieder auf den „Punkt“ gebracht.

Provinz ist überall!

26 10 2009
bee

Obwohl… hier bei mir ist es so wie nirgends 😀

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