Stockholm-Syndrom

3 11 2009

Salten kauerte in der Ecke des weißen Zimmers. Er fror. „Das ist typisch“, konstatierte die Ärztin, „sie sind in einer Art Katalepsie. Starke Verlangsamung des Denkens. Oft stellen sich Halluzinationen ein. Sie sehen immer dieselben Bilder, hören immer dieselben Stimmen.“ Sie schloss die Jalousien und wir gingen den langen, kalt erleuchteten Flur hinab.

Während sie sich nervös im Nacken kratzte, zog sie Zigaretten aus der Tasche ihres weißen Kittels. Ich nahm eine und gab ihr Feuer. Der Wind fauchte heftig über das Dach. Unter den Füßen knirschte krümelige Dachpappe. Wie eine Vogelscheuche torkelte die Antenne auf dem dürren Schornstein im Herbststurm, unablässig und stumpf nickte der Draht, als sei ihm alles ohnehin gleichgültig. Sie schlug den Kragen hoch. Ihr war kalt. „Meistens können wir nichts mehr für sie tun. Wir können sie medikamentös ruhigstellen. Aber mehr geht nicht. Und es ist ja auch einerlei, denn keiner fragt mehr nach ihnen.“ Warum nicht? „Sie sind offiziell aus dem Verkehr gezogen. Weg.“ Sie sog den Rauch tief ein und ließ ihn in langen Schwaden in die Luft wehen. Sie sprach leise und hastig. „Sie wissen ja, worum es geht.“ „Nicht genau“, antwortete ich, „man sagte mir lediglich, Sie würden die Beamten im Sicherheitshauptamt neurologisch betreuen.“ „Ich beobachte die Kranken. Sie sind alle nicht mehr zu bessern. Es fing an mit der gemeinsamen Personendatenbank – ein zentrales Register für die gesamte Bevölkerung, alles vernetzt, wir konnten alles nachweisen. Wenn Sie mit Ihrem Mobiltelefon eine E-Mail bekommen, wissen wir noch vor Ihnen, was drinsteht, und haben Sie schon in ein neues Risikoraster überführt.“ „Risikoraster?“ „Wenn der Absender jemand ist, der in demselben Haus wohnt, in dem mal jemand gewohnt hat, der denselben Nachnamen trägt wie einer, der im selben Flugzeug saß wie der Nachbar eines Terrorverdächtigen, dann wird Ihr Score automatisch verändert. Ab einer bestimmten Punktzahl sind Sie dann ein feindliches Subjekt.“ „Das Stockholm-Protokoll.“ „Ja, das waren die ersten Auswirkungen. Später kamen noch die standardisierten Online-Durchsuchungen. Die Einteilung in Migrationsrassen. Und dann der paneuropäische Geheimdienst, dessen Zentrale der Einfachheit halber nach Washington verlegt wurde.“ „Haben Sie den Crash erlebt?“ „Es war furchtbar. Letztlich nur eine Stromschwankung, die zu Datenverlusten geführt hatte. Und in ihrer Hektik konnten sich die Staatssekretäre nicht einigen, welchem Land sie zur Ablenkung den Krieg erklären sollten.“

Sie hatte die Zigarette auf dem schmalen Geländer ausgedrückt und wir waren wieder ins Stockwerk getreten. „Natürlich haben sie nur die besten Leute dafür rekrutiert. Harte Hunde. Sie wurden anderthalb Jahre lang für ihre Aufgabe gedrillt. Und dann saßen sie da in ihren Büros und hatten die Daten auf ihrem Schirm. Manchmal wechselte es alle paar Minuten, Migranten, die unweigerlich in ihrer Bewertung hochgestuft wurden, je länger sie sich in einem Land aufhielten oder aber ihren Standort wechselten – beides war ja verboten worden – und dann Dauerüberwachungen. Zufällige Zielpersonen. Sie sehen erst nur Zahlen, ein paar Lebensdaten, vielleicht schon ein Passbild. Am zweiten oder dritten Tag erfahren Sie dann, dass Ihre Zielperson gerade telefoniert. Sie hören, wie sie sich verabschiedet und auflegt. Sie sehen am Bewegungsprofil, wie sie in den Supermarkt geht. Sie sehen am Chip, was sie einkauft. Sie wissen durch die GPS-Ortung, dass sie kurz vor einem Blumenladen stehen bleibt, und entscheiden anhand des Kontostandes, den Sie einsehen können, ob Sie diese Person als leichtsinnig einstufen.“

Inzwischen hatte Salten begonnen, mechanisch hin und her zu wippen. Vor und zurück. Wie ein Betender. „Hospitalismus“, konstatierte sie, „er ist vollkommen depraviert. Manche beginnen, am Daumen zu lutschen.“ Ich sah sie an, wie sie Salten beobachtete. „Er hat eine Belastungsstörung, weil er dem Druck nicht mehr standhalten konnte. Es waren die Entscheidungen, die ihn zermürbt haben, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht darum. Wir nennen es unser Stockholm-Syndrom.“ „Stockholm-Syndrom? Aber das tritt doch bei Entführungsopfern auf?“ „Eben. Er hat diese Situation fast zehn Monate lang erlebt. Er wusste alles über seine Zielperson. Er kannte sie, er wusste es schon im Voraus, wenn sie ins Kino gehen, wann sie abends mit ihrer Mutter telefonieren, ob sie im Internet nach einem Kuchenrezept suchen würde. Er kroch in ihr Leben hinein. Die Zielperson blieb immer ein virtueller Schatten für ihn, aber ein überdimensional großer. Jede ihrer Handlungen hat er erlebt, als hätte er sie selbst vollbracht; es mündet fast immer in der Identifikation mit der Zielperson. Jäger und Gejagter sind für einen Augenblick eins – wenn beide die Spiegelfläche wieder verlassen, haben sie ihre Rollen getauscht. Der, der einmal Jäger war, wird nun die Beute. Sie können den Kontrollverlust nicht mehr verkraften. Und dann empfinden sie eine vollständige Lähmung, weil sie die Maßnahmen als gegen sich selbst begreifen – was, politisch betrachtet, ja auch durchaus so gedacht war. Sie sitzen in der Falle.“

Salten war zur Seite gesunken und dämmerte vor sich hin. „Eine zerstückelte Persönlichkeit“, murmelte sie. „Aber was wird jetzt aus ihnen“, fragte ich, „es muss sich doch jemand um sie kümmern.“ „Was erwarten Sie?“ Sie zuckte die Schulter. „Die Revolution frisst ihre Kinder.“


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5 responses

3 11 2009
samuel

Coole Erzählung, war für mich ein echt netter Start in den Tag. Gleich werde ich die anderen Postings lesen. Die Seite finde ich großartig!

3 11 2009
bee

Herzlich willkommen 🙂

3 11 2009
Morla

Ja, verehrter bee, samuel hat recht, Ihre Seiten möchte wohl jeder, der einmal darauf gestoßen ist, nicht mehr missen.

Ein komplettes „Unsittenbild“ unserer Gesellschaft – und dies wunderbar dargestellt!

Viele Dank und machen Sie bitte immer weiter.

3 11 2009
bee

So viel Lob und Anerkennung tun wohl! Vielen Dank 🙂

Natürlich mache ich weiter; schon deshalb, weil ich durch diesen Blog, den ich nicht mehr missen möchte als „Schreibausgleich“ zum Beruf, vieles neu gelernt habe. Und weil mir die Leserinnen und Leser ans Herz gewachsen sind. Das motiviert auch. Und es macht auch einfach Spaß, wenn ich mir vorstelle, dass sich jeden Tag Menschen meine Gedanken durchlesen 😉

5 11 2009

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