Stille Post

10 11 2009

Die Äußerung am Rande des Landesparteitags wäre um ein Haar untergegangen, wenn nicht rein zufällig das Diktiergerät eines anderen Delegierten mitgelaufen wäre. So konnte der Wortlaut für die Nachwelt aufgezeichnet werden, was namentlich deshalb wichtig war, weil man nun wusste, dass es an der Basis durchaus Kräfte gab, die anders dachten als die Bundesvorsitzenden. Keine zehn Minuten dauerte es, bis das Zitat, aufgeteilt in drei Tweets, seinen Weg durch die Datenkanäle nahm; dass nur der zweite Teil gelesen wurde, machte die Sache nicht besser.

Während die meisten Empfänger noch über den Sinn der kryptischen Botschaft grübelten, schmiss BILD die Schlagzeile des kommenden Tages raus. Deutschland war nun nicht wegen der vielen wegfallenden Arbeitsplätze gerettet, sondern wieder ernsthaft in Gefahr. Man verlieh der Sorge ums Vaterland dreizehn Zentimeter hoch Ausdruck.

Die Unionsparteien reagierten prompt. Zwar wusste Ronald Pofalla noch nicht, wer da eigentlich was gesagt hatte, wies jedoch sämtliche Verantwortung der CDU-Fraktion entschieden zurück. Den Affront ließ die CSU nicht lange auf sich sitzen: in derber Gegenrede, gespickt mit bissigen Ausfällen auf die Schwesterpartei, bellte Horst Seehofer heraus, dass er Doppelzüngigkeiten des zwar christlichen, aber nicht sozialen Koalitionspartners nicht mehr toleriere. Der Bayernkurier druckte vorsichtshalber ein Dementi, aus dem klar hervorging, dass die Debatte nur geführt werde, um das Kruzifix-Verbot hoffähig zu machen.

Nach und nach schalteten sich die anderen Parteien in die Diskussion ein. Claudia Roth sagte, sie wisse es längst, Frank-Walter Steinmeier meinte, man hätte das wissen können. Oskar Lafontaine sagte, er habe es ja immer schon gesagt. Der DAX kippelte vorerst verhalten, aber entschieden fest.

An dieser Stelle schwappte die Welle in die Gesellschaft hinaus. Bundespräsident Horst Köhler rief zur Besonnenheit auf und ermahnte die Politik, ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden. Obwohl niemand es zur Kenntnis genommen und die Kanzlerin ihn noch nicht von der Leine gelassen hatte, knurrte Volker Kauder bereits in die Pressemikrofone, die Kritik an Angela Merkel in diesem Punkt sei mal wieder ein typisches Anzeichen dafür, dass die Opposition – im Wortlaut benutzte er hier eine ehrenrührige Formulierung – ausschließlich ehrenrührige Formulierungen zu benutzen geeignet sei. Auch dies rief keinerlei Resonanz hervor; die meisten Redakteure hielten es für die vorangegangene Attacke Kauders und deponierten sie im Archiv.

Zwischen zwei Osteuropa-Reisen fand Außenminister Westerwelle Zeit, sich entschieden gegen jede Kritik an der bürgerlichen Koalition zu verwahren. Der Chefliberale betonte, dies sei eine hirnverbrannte Neiddebatte, die nur darauf ziele, die Elite, die es indes überhaupt nicht gäbe, gegen die Leistungsträger auszuspielen. Dies sei jedoch ein Signal für mehr Freiheit und Privatisierung und möglicherweise auch für Steuererleichterungen.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ließ mitteilen, er ließe gar nichts mitteilen. Im Verteidigungsressort knobelte man noch, ob man es als Kriegszustand werten solle.

Die Talkshows wurden aufmerksam. Da das Panel bei Anne Will wie immer mit Hans-Werner Sinn, Bernd Raffelhüschen, Hans-Olaf Henkel und Günter Wallraff besetzt war, fiel es zunächst niemandem auf, dass das ursprüngliche Thema Land ohne Muttersprache – Braucht Deutschland Deutschkurse? nicht mehr passte; hastig einigte sich die Redaktion auf die Problematik Wie viele Seiten hat ein Kreis? und konnte eine Stunde angeregter Gespräche bieten, an deren Ende die überraschende Lösung stand: Deutschland sei übervölkert von Millionen Sozialschmarotzern, die nur deshalb keiner Erwerbsarbeit nachgingen, um nicht Einkommensteuer zahlen zu müssen. Erst mit der Einführung einer kapitalgedeckten Privatrente sei dem Untergang der Nation Paroli zu bieten.

Joachim Kardinal Meisner wetterte dagegen. In einem Hirtenbrief teilte er mit, er wisse nicht, ob sich Edmund Stoiber schon geäußert, und wenn ja, was er dazu gesagt habe, sei aber mit ihm grundsätzlich einer Meinung, wenngleich er dessen Wortwahl für zu lasch hielte. Der Zentralrat der Juden in Deutschland lehnte jegliche Debatte ab. Der ADAC rief zu Unterschriftenaktionen auf; Roland Koch sagte logistische Unterstützung zu.

Das Land war tief gespalten. Franz Josef Wagner setzte im täglichen Wechsel Briefe ab, in denen er bald zur Verteidigung, bald zur Ausrottung von Sozialstaat, parlamentarischer Demokratie, Baumschulen und Bierdeckelsammeln hetzte. Die Verlagsindustrie geiferte gegen die Leser, die die Frechheit besaßen, Zeitungen nach dem Erwerb tatsächlich zu lesen. Das BKA forderte mehr Gesetzeslücken, um andere zu schließen. Peter Sloterdijk entwarf einen ungeheuer geistreichen Kommentar mit einem hocheleganten Wortspiel, indem er die beiden Begriffe struktural und strukturell in einem einzigen Satz unterbrachte; der Beitrag hatte mit dem politischen Thema ansonsten nichts zu tun. Harald Schmidt riss daraus einen abgedroschenen Witz, über den keiner lachte, und Oliver Pocher blies den Kalauer zu einer neuen TV-Show auf, die wegen Erfolglosigkeit nur zwei Jahre lang lief, bis sie abgesetzt wurde. Es war, wie gesagt, nicht viel geschehen.