„Hallo? Ist da jemand?“ Ich tastete mich an den samtenen Vorhängen entlang. Da musste die Tür sein – doch meine Hand griff in etwas Warmes, das nach Bratensauce roch. „Pardon, ich bin nicht der Elektriker“, stammelte ich. „Dafür bin ich nicht der Weihnachtsmann“, brummelte das Weiche mit einer vertrauten Bassstimme zurück. „Bruno!“ „In der Tat“, bestätigte der Koch. „Komm mal mit.“
Das übliche Getümmel der Abendstunden tobte in der Küche. Bruno, von manchen ehrfurchtsvoll Fürst Bückler gerufen, filetierte ein Dutzend Felchen und scheuchte den Entremetier um Petersilienkartoffeln. Ich sah durch einen Spalt in den Gastraum. Angespannte Stille herrschte an den Tischen; kaum ein Besteck klapperte durch den stockfinsteren Landgasthof. „Habt Ihr etwa die Stromrechnung nicht bezahlt?“ Der gewaltige Schnurrbart mit den gezwirbelten Spitzen begann antennenartig zu erzittern. Bruno winkte ab. Ich wusste es, Hansi hatte wieder einmal eine seiner fragwürdigen Ideen gehabt. „Mein Bruder war bei einem dieser Psycho-Events. Im düsteren Keller. Jetzt hat er sich zur Verkaufsförderung in den Kopf gesetzt, ein gastronomisches Ereignis zu kreieren. Fünf Gänge für vier Sinne.“ Wütend schlug er in die Sahne. „Ich habe nichts gegen diesen ganzen Firlefanz. Sollen sie doch alle machen, bitte! Aber warum ausgerechnet in meinem Landgasthof?“
Moritz schwang die Tür auf. „Chef“, teilte der Kellner verschnupft mit, „der Herr an Tisch fünf ist der Ansicht, die Karotten seien zwei Sekunden zu lang blanchiert worden.“ „Das kann nur einer von sich geben“, sinnierte ich. „So ein geschniegelter Geck ohne Krawatte?“ „Woher kennst Du den“, wunderte sich Moritz. „Max Hülsenbeck“, schloss ich messerscharf. „Dass sich der Gauch überhaupt noch hierher traut!“ Er gab mir die Nachtsichtbrille. „Überzeug Dich selbst.“ Und wirklich, dort saß der Schmierlappen neben einer jungen Dame im tief dekolletierten Kleid und raspelte Süßholz. „Dafür wird er büßen.“ Moritz war ratlos. „Was willst Du machen? Ihm das Menü über die Hose kippen?“ „Warum sollte ich etwas tun“, antwortete ich maliziös, „was er doch so viel besser kann.“
Da saß er, der ölige Staatsanwalt, der fast Annes Herz gebrochen hätte, und schäkerte mit der Gräfin Chlumski – offenbar hatte sie keinen Schimmer, wer er war. Eine doppelt unangenehme Situation; einerseits wusste man nicht, was man hier aß, andererseits nicht, mit wem. Ich zupfte Moritz am Ärmel. „Schnell“, wisperte ich ihm zu, „einen tiefen Teller mit Bouillon.“ „Haben wir nicht. Geht auch Tomatensauce?“ „Noch besser“, jubelte ich und ging in Position. Irrungen, Wirrungen standen bevor. Vielleicht eine Komödie im Dunkeln. Max, der Gernegroß, schwafelte ungehemmt auf seine Tischdame ein, während er untenherum Erbsen mit den Fingern auf die Gabelzinken spießte. „Und – jetzt!“ Synchron tauschten wir die Teller aus; einer zog weg, einer legte auf. Mit beiden Händen griff Max in die Tunke. „Er wird sich kaum beschweren können“, kommentierte ich genüsslich, „schon gar nicht vor der Gräfin.“
Derart dunkle Absichten hatte ich Moritz gar nicht zugetraut; flink schob er den Saucenteller an Max’ Brust heran, so dass der mit einer linkischen Handbewegung das Behältnis mit der roten Pampe zum Kippen brachte. Die junge Dame stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Darf ich noch etwas Wein nachschenken?“ Während Durchlaucht die Saucenspritzer nach Gehör zu entfernen suchte, beförderte ich mit einem Schlenker den Rest der verkochten Tomate auf Hülsenbecks Anzug. Im Schmutze der Dunkelheit bemerkte er es gar nicht.
„Das Ochsenfilet unter der Kräuterkruste“, verkündete Moritz salbungsvoll und schwang zwei neue Teller. „Der ist ja fast leer“, flüsterte ich, und Moritz kicherte: „Prahlhans ist gern Küchenmeister – wir haben das Filet weggelassen, er beschwert sich ja doch darüber.“ Wieder fingerte Hülsenspeck im Gemüse herum. „Herr Ober“, zwitscherte die Gräfin Chlumski glockenhell dazwischen, „wo sind denn die Schalotten? Haben Sie tatsächlich an die Schalotten gedacht?“ Ich stöhnte auf. „Das verdient einander.“ „Von Ihnen aus halb acht“, informierte Moritz die ungnädige Frau, „wie Sie sehen.“
„Vorsicht“, zischte es hinter uns. Bruno selbst war aus der Küche angerückt. Von dem dicken Grillhandschuh geschützt trug er den heißen Teller an den Tisch. Er tippte mir auf die Schulter. „Wenn Du den Teller wegziehst, dann…“
Was der Hülsengeck hier im Nachtschatten an sportlicher Einlage hinlegte, war beachtlich; mit beiden Pfoten hatte er auf das glühende Porzellan gefasst und brach nun in schrilles Gewimmer aus. Fieberhaft suchte er den gräflichen Riesling, um ihn zu einer Fingerschale umzufunktionieren, wobei der Wein teils auf der Robe landete, teils dort, wo die Schneiderin für die Auslage den Stoff weggelassen hatte. „Licht“, jammerte Hülsenschreck verzweifelt, „mehr Licht!“ „Wenn’s denn weiter nichts ist“, grinste Moritz und bediente den Schalter. Zwei Dutzend Gäste kniffen die Augen zu und blinzelten erschrocken in den Saal; inmitten der Gesellschaft saß der jetzt gar nicht mehr umnachtete Spitzbube, rotbraun befleckt auf seinem hellen Leinenanzug, und lutschte an zehn Fingern gleichzeitig. „Herr Hülsenbeck“, schnarrte ich deutlich vernehmbar, „hatten Sie noch einen Wunsch?“
Der Korken flog durch die Küche, der Champagner ergoss sich in ein Dutzend Kelche. „Den wären wir los“, freute sich Moritz und rieb sich die Hände. „Und er wird garantiert nicht mehr hier auftauchen“, bestätigte ich ihm. Bruno blickte skeptisch. „Was macht Dich da so sicher?“ Ich stieß mit meinem Glas an seines. „Hier herrscht Verdunkelungsgefahr.“
Satzspiegel