Alle Jahre wieder

8 12 2009

17:03 – Nachdem einige Praktikanten bereits am Vormittag das Konferenzzimmer der Heimle & Söhne GmbH leergeräumt haben, dekorieren die Schreibkräfte Roswitha D. (44) und Monika F. (46) den Saal mit den Überbleibseln der Faschingsfeier; die alljährliche Weihnachtsfeier steht an und der Vorstand lässt sich, guter Tradition folgend, nicht lumpen.

17:05 – Der Lampion, die Papiergirlande sowie das Fähnchen mit dem Firmenlogo sind angebracht. Die restliche Zeit bis zum Eintreffen der Kollegen nutzen die beiden Mitarbeiterinnen zu einer ausführlichen ästhetischen Würdigung des Raums. D. löst dabei heimlich das Nylonband, das die Girlande an den Deckenbeleuchtungskörpern befestigt.

17:30 – Außendienstmitarbeiter Helmut T. (35), der an sich nicht zu den geladenen Gästen gehört, begutachtet die Auswahl an Spirituosen in der Teeküche der Versandabteilung. Er lässt jeweils einen Karton Cognac und Amaretto von dienstbaren Geistern in den Kofferraum seines Kombis laden, bevor er selbst Hand anlegt. Die Weihnachtsfeier wird ohne Krimsekt auskommen müssen.

17:39 – Lagerist Timo P. (34) schafft die Getränke in den ersten Stock. Er belässt die Flaschen in den zugehörigen Kartons. So wird denn auch ein ganzes Dutzend Pfefferminzlikörflaschen ein Opfer der Schwerkraft. Während P. noch überlegt, ob der Hausmeister ihm das Sandstrahlgebläse zur Reinigung überließe, erscheint Abteilungsleiter Marko R. (28). Er weist P. an, die Sauerei im Treppenaufgang unverzüglich zu beseitigen.

17:50 – Das Treppenhaus verströmt den anheimelnden Geruch von Salmiakgeist. P., der ohnehin bereits Dienstschluss hat, entsorgt den Wischeimer im Herren-WC direkt hinter der Tür.

18:01 – Die ersten Angestellten erscheinen. Zwar beschränken sich die als Verpflegung deklarierten Waren auf zwei Familienpackungen Salzgebäck, deren eine Personalchef Harro W. (55) mit Beschlag belegt, doch ist die Stimmung angesichts von Riesling, Bordeaux und diversen Bieren in üppiger Menge und bester Qualität rasch auf annehmbarem Niveau angekommen.

18:09 – Mit dem launigen Ausruf „So jung kommen wir nie wieder zusammen!“ köpft Jens H. (45) die erste Bouteille Champagner. Der körperwarme Schaumwein, der drei Tage lang neben der Heizung gestanden hatte, verteilt sich gleichmäßig über den Kollegen aus dem Einkauf.

18:23 – Die ersten Speisen werden angeliefert. Gastronomin Isolde A. (67) wird dabei tatkräftig von ihrem Lebensgefährten Karl-Heinz G. (42) unterstützt, der allein zwei große Behälter mit Schnitzel Wiener Art und Kartoffelkroketten in den Raum verlastet. Lasagne, Erbsen mit Möhren sowie eine braungraue, breiige Masse mit hellen Schlieren komplettieren das festliche Menü.

18:24 – Just in dem Moment, da sich einige Mitarbeiter aus der Produktion mit dem Bockbier zu befassen beginnen, steckt Christian Heimle (37) den Kopf in den Festsaal. Entsetzt informiert der Sohn des Firmengründers seinen Bruder Peter (35), dass die Mitarbeiter die Alkoholika konsumieren, die für die Aufnahme des gemeinsamen Freundes Dieter M. (34) in den CDU-Ortsverein gedacht waren. Hektisch ruft Peter Chantal S. (62) an; die Besitzerin der Venus-Bar verspricht, Proviant bis zum anderen Tag zu besorgen.

18:40 – Unter allgemeinem Applaus betritt Theodor Heimle (73) das Konferenzzimmer. Er hält sich nicht lange mit Präliminarien auf und knipst sogleich das Licht aus, um seine alljährliche Rede zum Ende des Geschäftsjahres zu halten.

18:55 – Heimle hat die aktuelle Entwicklung der Weltwirtschaft – die Verschärfung des Nahostkonflikts bis zur Wiederholung des Sechstagekrieges sowie eine daraus resultierende Ölkrise – umrissen und entfaltet ein wahres Horrorszenario: drohende Massenarbeitslosigkeit und die Umstellung der Computer auf ein neues Betriebssystem. Niemand folgt der Rede, deren erstes Blatt offensichtlich aus einem ganz anderen Stapel stammte.

19:03 – Im Schutz der Dunkelheit knüpft Marko R. zarte Bande zu Annette V. (19). Die Azubine hält die Hand, die sich an ihr zu schaffen macht, für diejenige eines jüngeren Heimles und schlägt ihm vor, die Situation schnell und unauffällig zu verlassen. Sie gleiten gemeinsam unter den Tisch.

19:04 – Die beiden Ausreißer haben das Ende des Tisches erreicht und sitzen direkt vor der Holzvertäfelung. In diesem Augenblick beendet der Patron seinen Redebeitrag und eröffnet das Festessen. Innerhalb weniger Augenblicke sind die Liebenden nachhaltig eingekeilt; jede Flucht ist unmöglich.

19:10 – In der Annahme, es handle sich um Schwarzsauer, häuft sich Monika F. eine Portion der braunen Gallerte auf einen tiefen Teller. Roswitha D. lässt es sich nicht nehmen, über ihre Kollegin herzuziehen, die statt der warmen Speisen das Menü mit Schokoladenpudding beginnt.

19:12 – Produktionschef Lothar N. (41), der neben einer größeren Menge Wodka bereits ausgiebig dem Weißwein zugesprochen hat, entschließt sich zu einem eigenen Grußwort an die Mitarbeiter. Man freue sich angesichts der derzeitigen Umsätze vor allem darauf, die Zweigstelle in Diyarbakır einzuweihen, „sobald die Kuffnucken da unten lesen und schreiben könnten“, so N. in seinem heiteren Vortrag. Die Frauenbeauftragte Yeşim Ü. (22) weist ihn mit scharfen Worten zurück.

19:20 – N. hat inzwischen, einige Gläser Wodka später, den Unterschied zwischen der Holzschraube HS23 und Vergleichsprodukten anderer Hersteller im Schengener Raum hinreichend deutlich gemacht und kehrt wieder zur Expansion der Firma zurück. Er lädt die Belegschaft ein, „einen zu kippen auf das Wohl der Kümmeltürken“. Ü. verlässt wutentbrannt den Raum.

19:32 – Um die Stimmung vor dem Abflauen zu retten, schaltet Jens H. den mitgeführten Radiorekorder ein. Das Henkelgerät schafft unmittelbare Fröhlichkeit, da Roy & The Supersingers wahre Perlen internationaler Schlagkunst wie Heiße Nächte in Bad Sooden-Allendorf sowie Du bist die Schönste in der ganzen Hochhaussiedelung, Heidelinde zu Gehör bringen. H. verspricht, die Kassette mit den Probeaufnahmen seiner Feierabendcombo für die Arbeitskameraden mehrfach zu überspielen.

19:33 – Der Wodka geht zur Neige. Mit Hilfe einer schwarzen Olive als Schnauzbartersatz gibt N. eine mäßig erfolgreiche Hitler-Parodie. Der Beifall hält sich in Grenzen.

19:45 – Ein heftiger Streit entbrennt über die braune Masse. Während Verfahrenstechniker Detlef K. (39) eine Mousse au Chocolat durchaus für denkbar hält, plädiert Materialprüferin Sabine E. (33) dem Augenschein folgend auf eingekochte und teilweise ausgehärtete Erbswurst. Martin J. (43), Fachmann für Verbundwerkstoffe, löst das Geheimnis, indem er mit einem Schraubenschlüssel in die unterste Schicht der Therme fährt und gelblich verseifte Fettrückstände zutage fördert: es handelt sich um Grünkohleintopf.

19:49 – Obzwar auf den Tischen Stumpenkerzen brennen, hält es Lothar N. nicht mehr auf dem Teppich. Er besteigt die mit Papierdecken ausgekleideten Konferenztische, um mit einer ausgelassenen Tanzeinlage den Zusammenhalt innerhalb der Belegschaft zu fördern. Allerdings scheint er von der Schrittfolge des Kasatschok überfordert; bei einem Tritt in den Kartoffelsalat büßt er empfindlich an Gleichgewicht ein und hält sich an der Girlande fest, die mit ihm in die Tiefe sinkt. Die Kerzenbeleuchtung tut das Ihre.

19:50 – Eine Schrecksekunde später greift Buchhalter Rüdiger Z. (56) zum Feuerlöscher, um die Stichflamme zu ersticken. Martin J. sekundiert tatkräftig, indem er Bier in die Verteilersteckdose gießt; da Notbeleuchtung und Musik ausfallen, nutzen die beiden Gefangenen den Tumult, um ins Herren-WC zu entweichen. Beim Schließen der Tür stößt Marko R. versehentlich den mit Likörresten angefüllten Putzeimer um. Dem Erguss der zuckerhaltigen Flüssigkeit auf die Fliesen der Nasszelle schenkt er keine Aufmerksamkeit.

20:02 – Versandmitarbeiterin Marion St. (24) hat in der Zwischenzeit einen Satz Batterien aus dem Vorzimmer des Chefs organisiert. Mit Hilfe der kleinen Stromspender kann sie nun endlich ihre Lieblingskassette abspielen. Die Festgemeinde schließt sich zunächst nur zögerlich der Polonäse an, Detlef K. jedoch lockert die Laune in erheblichem Maße auf, indem er der einen oder anderen Teilnehmerin von hinten an die Schulter packt. Juchzen schallt aus dem Westflügel.

20:21 – Harro W. macht sich mit zwei Kollegen auf, die Teeküche des Versands einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Im Schein mehrerer Taschenlampen und Feuerzeuge finden sie mehrere Schachteln vor, deren Aufdruck in chinesischen Schriftzeichen sie geradezu zwingt, sie zu öffnen. Der Hinweis Alle Wenig füer dem außßen Einsaz! aufpuffen! lässt sie den Inhalt der Pappbehälter als Zimmerfeuerwerk deklarieren. Im Triumphzug trägt das Triumvirat die Knallkörper zur Jahresabschlussparty. W. serviert zudem eine Literpackung Frostmann’s Vanille-Traum mit 0,2‰ naturidentischen Aromaauszügen, die wegen mangelnder Kühlmöglichkeit mählich vom zarten Schmelz in flüssigen Aggregatzustand übergeht.

20:34 – Eine leichte Unpässlichkeit, die dem abwechselnden Genuss von Lasagne, Doppelkorn und Kokosmakronen (Mindesthaltbarkeitsdatum August 1997) geschuldet sein mag, bringt Christian Heimle dazu, das Büro seines Vaters aufzusuchen. Angesichts schwieriger Beleuchtungsverhältnisse hält ihn Yeşim Ü. für den Kontrahenten aus der Produktion. Mit wenigen Handgriffen hat sie den Schlüssel gedreht und ihn dann unter Zuhilfenahme eines Möbelstücks im Schloss abgebrochen. Der Junior sitzt in der Falle.

20:38 – Erstickte Lustschreie dringen aus dem Herren-WC. Allerdings stößt die Geräuschkulisse auf wenig Interesse, da sich ein Teil der männlichen Belegschaft aus anatomischen Gründen bereits in Blumenkübel und Papierkörbe erleichtert, um die Nachschubzufuhr zu vereinfachen. Allein Entwicklungsingenieur Fridomar H. (38) gibt anderthalb Pfund Grünkohl-Erbswurst-Mousse körperwarm in ein All-in-one-Device ab, das bis zu diesem Augenblick drucken, faxen und kopieren konnte.

20:59 – Timo P. war beim Ausräumen der Küche gründlich vorgegangen; so hatte er nicht nur die Getränke, sondern auch mehrere Kisten mit Putzmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs in den Konferenzraum geschafft. Rüdiger Z. erinnert sich eines Fruchtnektars, den er am frühen Abend konsumiert hatte, und weist Fahrdienstleiter Patrick L. (34) an, mehrere Flaschen aus den Kartons mit der gelben Banderole zu holen. Großzügig über den Resten der unterdessen zu Vanillesauce geschmolzenen Süßspeise verteilt entsteht ein durchaus süffiger Cocktail, dem es allerdings deutlich an fruchtiger Note mangelt; der technische Alkohol, den L. tapfer für Reisstrohschnaps hält, beschleunigt die Unempfindlichkeit zusehends.

21:03 – Der Juniorchef hat das Bewusstsein wieder erlangt und hämmert gegen die Tür. Niemand hört ihn. Die Telefonanlage ist kurzschlussbedingt nicht zum Absetzen eines Notrufs geeignet.

21:05 – Detlef K. und Jens H. wollen auch in diesem Jahr nicht auf das obligate Flaschendrehen verzichten, das das Betriebsklima geschmeidig hält. Nach zwei Versuchen finden sie ein bereits angebrochenes Behältnis. Es ist der abrupt einsetzenden Rotationsbewegung anzurechnen, dass die Flasche einen Liter zur Scheibenreinigung bestimmtes Ethanol zentrifugal auf dem Laminat verteilt.

21:09 – Es mag an Magnesiummangel oder einem gestörten Kochsalzverhältnis liegen, der auf dem gefliesten Boden der Herrentoilette kniende Marko R. erleidet einen Wadenkrampf. Schmerzenslaute dringen durchs Dunkel. Verzweifelt versucht Annette V., den vermeintlichen Betriebsleiter nach kräftezehrendem Liebesspiel wieder aufzurichten, doch die Substanz erweist sich als tückisch. R. klebt mitsamt heruntergelassener Hose im getrockneten Pfefferminzlikör fest.

21:21 – Der Juniorchef hat mit Hilfe eines Briefbeschwerers das abgeschlossene Fenster geöffnet. Obzwar die ausgeschaltete Elektrik das Anspringen der Alarmanlage verhindert, fällt den Werkschutzmännern Tiberiu A. (44) und Mircea E. (45) die Geräuschentwicklung auf; sie sorgen mit dem Schnellfeuergewehr für Ruhe und Ordnung.

21:28 – Zwei der unzähligen von Harro W. in Reih und Glied angeordneten Kleinknallfrösche reichen aus, um eine Verpuffung auszulösen, die die restlichen Feuerwerkskörper in Richtung des gelben Behälters drückt; an der chinesischen Kartonage züngeln schon die Flammen, als die Metallwerker eilends den Raum verlassen.

21:29 – Unter dem Widerhall der Kanonenschläge steigert sich Annette V. in einen hysterischen Anfall hinein. Sie heult panisch hinter der Tür des Herren-WCs und kann nur durch Zuspruch ihrer Kollegen beruhigt werden. Nach dem Entriegeln der Klotür stellt sich heraus, dass der Pfefferminzlikör auch die Tür nahezu hermetisch verklebt hat. Der Sauerstoff geht zur Neige. Die Lage ist ernst.

21:36 – Lothar N. kämpft inzwischen einen Zweifrontenkrieg gegen Eierlikör und aufsteigende Übelkeit. Mit dem Stoßseufzer „Wenn das der Föhrer wösste!“ meldet er sich von der Weihnachtsfeier ab und torkelt ins Treppenhaus, wo er mit dem linken Knie und dem rechten Ellenbogen am ausgelaufenen Pfefferminzlikör festklebt und in dieser bizarren Position einschläft.

21:42 – Rüdiger Z. und einige beherzte Männer haben den Fotokopierer durchs gesamte Stockwerk geschoben; unter vollem Körpereinsatz benutzen sie das Vervielfältigungsgerät als Rammbock – tatsächlich dröhnt schon nach wenigen Stößen ein Knirschen und Splittern durch den Flur, das allerdings nicht von der Tür des Herren-Klosetts herrührt.

21:44 – Für den Bruchteil einer Sekunde schweigt das Fauchen der Flammen, bevor ein Dutzend Polenböller das Ethanolgebinde auf ein Vielfaches seines Rauminhalts bringt; die komplette Fassade des fünfstöckigen Gebäudes wird nicht lotrecht, aber in beachtlicher Beschleunigung abgesprengt. Die beiden vor dem Bau parkenden Sattelschlepper mit der Aufschrift Treu und Glauben mit Heimles Schrauben sind kurz danach nur noch anhand der blass bläulichen Schattierungen auf dem Asphalt zu erkennen. Trümmerteile tilgen die Eisenbahnunterführung, eine Lagerhalle und das Stadion des TuS 1888 aus dem Weichbild des Industrievororts. So endet der Abend in einem Familienunternehmen, dessen Mitarbeiter in der Adventszeit einfach nur ein paar besinnliche Stunden verleben wollten.