Liebe Leserinnen, liebe Leser,
es ist fast soweit. Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Weihnachten steht vor der Tür, der Schnee rieselt leise, die Ausfallstraßen sind voller Rentiere, statistisch gesehen leidet alle dreizehn Minuten ein Sender unter Befall von Last Christmas – nur das Editorial der New York Sun vom 21. September 1897 liest kaum jemand mehr und Francis Pharcellus Church ist auch weitgehend unbekannt geworden. Und auch hier nimmt die Festtagsstimmung einen derart breiten Raum ein, dass es sich darüber zu berichten lohnt.
Mandy Schwidarski von Trends & Friends hat gerade ganz hektisch angerufen und wollte von mir wissen, was man denn dieses Jahr als Verpackung für Weihnachtsgeschenke verwendet. Ich riet ihr zu rotem Geschenkpapier mit goldenen Schleifchen, was Minnichkeit sich auch gleich notiert hat; wenigstens einer, der weiß, wo es langgeht. Maxim muss gerade nach Kuala Lumpur, trendtechnisch, you know, die Blondine aus dem Empfang hat sich nicht wieder gemeldet – was auch daran gelegen haben kann, dass ich ihr die Nummer des Tierheims in die Hand gedrückt hatte – und Miehlke von der Agentur Partner Partner Friends & Partner hat mir einen Flaschenöffner in Gestalt des Kölner Doms (Blattgoldauflage) zukommen lassen. Ich habe ihn im Wertstoffsack entsorgt. Also den Flaschenöffner.
Seyboldt, die Nervensäge von PR-Berater, hatte einen Nervenzusammenbruch. Kein Wunder, ich hatte ihm auch davon abgeraten, diesen Job zu übernehmen. Aber er dachte, die Kanzlerin als Erfinderin des Klimaschutzes mit einem TV-Special sei für ihn eine Fingerübung. Inzwischen schafft er es schon nicht mehr alleine, sämtliche Gäste rechtzeitig auszuladen. Sogar Siebels war skeptisch gewesen. Der große Fernsehproduzent erholt sich in der Karibik – soweit man hier von Erholung sprechen kann, denn Siebels dreht nebenbei die dritte Staffel einer fünftklassigen Telenovela, deren Übersetzung aus dem Bulgarischen spätestens 2019 in einem deutschen Privatsender laufen soll. Ich werde mich also während der Weihnachtstage ganz auf mein Privatleben konzentrieren können.
Hildegard hat sich vor drei Tagen wieder einmal von mir getrennt und verbringt die Festtage bei ihren Eltern. Das letzte, was ich von ihr gehört habe, bevor die Tür krachend ins Schloss fiel, war die Drohung, die sie gestern Abend auf meinem Anrufbeantworter hinterließ; sollte ich es wagen, ihr Weihnachtspäckchen vor dem 24. zu öffnen, seien wir endgültig geschiedene Leute. Außerdem sollten wir uns zwischen den Jahren endlich um Auslegeware für mein Arbeitszimmer kümmern. Am liebsten sei ihr freilich Laminat, ich müsse bloß das Parkett dafür herausreißen. Aber es sei eben wesentlich besser zu wischen als beispielsweise die Strukturschlinge, die unter meinen Bücherstapeln in unangenehmem Eierschalenfarbton liege. Es gäbe ja inzwischen sogar Laminat in Parkettoptik.
Den Donnerstagmorgen werde ich mit den letzten Einkäufen verbringen; knappe zwei Stunden sind dafür eingeplant, denn wie zu jedem Christfest, so hält sich auch heuer hartnäckig das Gerücht, dass danach Eier und Mehl verboten sind. Fürchterliche Szenen werden sich abspielen, Dramen von aischyleischem Ausmaß: Familienväter schreien einander an und bewerfen sich gegenseitig mit tiefgefrorenem Seefisch und Mischgemüseimitat im Polystyrolbeutel, denn es gibt nur noch exakt eine Packung Rindersaftschinken. Dauernswertes Geschlecht, das sein Herz hängt an fahrendes Gut und dazu noch übel geschnittene Outdoor-Jacken in widerlichen Farben anzieht. Da freut man sich doch, dass 2012 an diesem Tag die ganze Chose bereits gelaufen sein wird.
(Aus genau diesem Grund hat mein alter Freund Gernulf Olzheimer am letzten Adventssonntag den Rückzug angekündigt; alles hielte er aus, polterte das Raubein unter den Kulturkritikern, eine Bundestagswahl, ein Florian-Silbereisen-Konzert ohne Gehörschutz oder ein Urologenwartezimmer, in dem nichts als einige ältere Ausgaben von Frau mit Herz auslägen, aber über das Thema Weihnachten als solches war er nicht einmal zu diskutieren bereit. Geräuschvoll kündigte er an, die Feiertage nur im Keller ertragen zu können, und angesichts seiner Laune glaubt man ihm auch, dass er es durchhält. Da er Silvester ebenfalls für eine billige Ausrede hält, sich die Birne zuzugießen, sollte man mit ihm erst in den ersten Januartagen wieder rechnen – ob seine Laune bis dahin merklich besser sein wird, darf angezweifelt werden.)
Um die frühe Mittagszeit schaut wie immer Herr Breschke auf eine Tasse Kaffee und ein paar Plätzchen bei mir vorbei. Er wird, auch dies ist eine hübsche Tradition, den Ausblick auf das Gärtchen bezaubernd finden und verspricht, zur Baumblüte wiederzukommen; es bleibt bis zur folgenden Weihnacht selbstredend wieder beim Versprechen. Nachdem er sein Entzücken über die Katze geäußert hat – „Ach, die kann ja ganz allerliebst Pfötchen geben!“ – wird er mir eins der obskuren Objekte in die Hand drücken, mit denen ihn seine Tochter versorgt. Im vergangenen Jahr war dies eine Flasche mit wasserklarer Flüssigkeit, die er augenzwinkernd auf die Schleiflackanrichte stellte. Offenbar war dem pensionierten Finanzbeamten das Fehlen der Steuerbanderole gar nicht aufgefallen. Tamara Asgatowna, Annes Putzfrau, sandte mir dazu Juri Grigorjewitsch vorbei, ihren Schwager, der nebenbei Hausmeister der Volkshochschule ist. Nach kurzer Rücksprache mit Boris Fjodorowitsch, der wohl ein Fachmann für solche Substanzen zu sein scheint, teilte er mir mit, dass es sich um einen berüchtigten ukrainischen Schnaps handeln müsse, dessen Zusammensetzung kaum zu eruieren sei, da die Fabrikarbeiter in den Arbeitspausen zu viel von dem Zeug konsumierten, um sich die Zutaten bis zum Schichtende merken zu können. Vom Verzehr sei dringend abzuraten, allerdings versicherte Juri Grigorjewitsch, es gäbe keinen zuverlässigeren Pinselreiniger, den man aus Sicherheits- und Geruchsgründen allerdings nicht in geschlossenen Räumen verwenden solle, Boris Fjodorowitsch wisse davon ein Liedchen zu singen.
Jetzt ist es also Heiligtag und ich werde mich mit Bachs Kanonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ BWV 769a befassen. Was manualiter nicht einfach ist, aber der Stutzflügel ist einigermaßen gestimmt, und es ist Weihnachten. Jonas hatte erst Chantal, dann eine Erkältung, jetzt Lea. Am Silvestervormittag wird er sich wieder melden. Da auch Heike es aufgegeben hat, mich mit Weihnachtsgeschenken zu verlocken, wird jetzt nicht mehr viel passieren. Die Dunkelheit sinkt sanft über die Dächer, hier und dort hinterlässt kitschbuntes Grellgeflimmer von Stimmungsleuchtapparaten Netzhautschäden oder löst epileptische Anfälle aus, und der einschläfernde Singsang, der aus Sigunes Wohnung durch das Haus zieht, passt so recht zu Tannenduft, Zimt und Bratäpfeln. Eigentlich wollte sie mal wieder ein Seminar besuchen – Trancetanz in konzentrischen Kornkreisen oder Haarwuchsverbesserung durch Pyramidenenergie – aber sie wusste nicht, wem sie die Zimmerpflanzen übers Wochenende anvertrauen sollte. Ich bin ihr aus guten Gründen seit Monaten schon nicht mehr begegnet.
Anne ist wie immer über die Festtage verreist, und ja, sie hat doch tatsächlich Max Hülsenbeck mitgenommen – genau den, den sie noch vor zwei Wochen als Volltrottel bezeichnet hatte. Sein Auto ist in der Werkstatt und der Arzt hat ihm das Fliegen verboten, so dass sie mit ihrem Wagen in den Harz gefahren sind. Ich bin gewappnet. Im Kühler steht eine Flasche Champagner, belgische Schokolade ist in hinreichender Menge vorhanden, und wenn sie nicht zu viel Verspätung hat, dürfte sie in der Heiligen Nacht gegen halb elf an meiner Tür klingeln, mir schluchzend in die Arme fallen und ihren Staatsanwalt als das dümmste Schwein aller Zeiten bezeichnen. Fünf Gläser und ein Kilo später wird sie mir berichtet haben, wie Hülsenbeck sie blamiert hat – ich tippe auf eine Sache, die über die Feiertage zu diplomatischen Verwicklungen führt und das Auswärtige Amt in Alarmbereitschaft versetzt, so wie kürzlich, als er einen Militärattaché aus der Demokratischen Volksrepublik Korea als Pekinesen bezeichnen zu müssen glaubte – wobei sie den Drahtkorb mit Papiertaschentüchern füllt, die Katze krault (die es an und für sich auf die Schokolade abgesehen hat) und sich selbst Vorwürfe macht, nicht auf mich gehört zu haben. Mit steigendem Pegel wird die Lage ernst; gegen drei, wenn die zweite Flasche Champagner schon im Eiskübel steht, wird sie mir Heiratsanträge machen, an die sie sich zwar am nächsten Tag schon nicht mehr erinnert, aber das macht die Sache nicht angenehmer, denn sie erinnert sich auch nicht mehr an die Selbstkritik. Sobald sie nicht mehr fehlerfrei Fahren unter Einfluss psychoaktiver Substanzen aussprechen kann, liegt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit dieser Tatbestand vor und ich bewahre meine Promillionärin mit robusten Mitteln davor, neben unangenehmen Erinnerungen ihre Karriere als Strafverteidigerin loszuwerden.
Die Bücklerbrüder sehe ich (sollte ich Anne rechtzeitig ins Taxi gesetzt und noch eine Mütze Schlaf abbekommen haben) dann am Mittag des Weihnachtstages. Für die Familie ist ein Tisch reserviert, und dieses Jahr ist mit großer Besetzung zu rechnen: Maja, mein halbwüchsiges Patenkind, mitsamt ihren Eltern; mein Großneffe Kester, der gerade sein Vordiplom bestanden hat und sicherlich allen vom Mößbauer-Effekt und der gravitativen Rotverschiebung der Gamma-Strahlung erzählt; seine Großmutter, Tante Elsbeth, es ist ebenjene, die auf dem Ausflugsdampfer bei Husenkirchens Hochzeit Aal auf den Teller hebelte, auf das empörte „Zwei Stücke?“ des Kellners entgegnete: „Da haben Sie mal Recht, junger Mann“, und sich das dritte nachlegte; und natürlich die Vettern, Basen, Onkel, Schwägerinnen und Schwippnichten, die man das ganze Jahr über nicht sieht. Bruno, der Fürst Bückler, wird höchstselbst das Wägelchen mit den gefüllten Enten um die Tafel schieben, und Hansi kredenzt dazu einen 1995-er Wupperburger Brüllaffen. Zu den Fischen könnte ich noch etwas sagen (liest am Ende jemand aus der Verwandtschaft mit?), Bruno war bis zuletzt auf der Suche nach einem Seezungen-Rezept, und es hat sich gelohnt. Einige Flaschen 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen werden deshalb auch an unserem Tisch landen. Was tut man nicht alles für frischen Blattspinat.
Am zweiten Festtag wird es abends an meiner Tür klingeln, und es wird Reinmar sein; denn in diesem Jahr bin ich Gastgeber. Eine Kanne Tee wird auf dem Stövchen stehen, das Schachbrett ist bereit. Spät in der Nacht, eher gegen Morgen wird Reinmar wieder gehen, und bis dahin werden wir zusammen kein Dutzend Worte gewechselt haben, Begrüßung und Abschied schon mitgerechnet. Er liebt das halboffene Spiel, vermutlich wird er sich mit Caro-Kann verteidigen. Nimmt er auch einen Doppelbauern in Kauf? Man weiß es nicht. Man steckt nicht drin.
Und das wär’s dann auch gewesen. Für dies Jahr. Nach mehr als elf Monaten mit Jonas, Doktor Klengel (der die Festtage bei seiner Schwester verbringt) und Hildegard, Anne, Horst Breschke und Bismarck, dem dümmsten Dackel im weiten Umkreis. Nach sechs Dutzend Gedichten (noch so ein Jahr, und ich kann in den Detailhandel gehen, bekomme Steuervergünstigungen auf Sonette und muss dafür neoliberale Parteistanzen stanzen), wo doch das erste nur als Notlösung diente. Nach einer anstrengenden Zeit mit Gernulf Olzheimer, der beim Vorlesen seiner wöchentlichen Kolumne so fürchterlich grollt, dass er zu platzen droht – und dann doch nach sieben Tagen wiederkommt. Hier kommen jetzt einige Tage Weihnachtspause. Am Montag, den 4. Januar 2010, geht es hier wieder los. Mal sehen, wie und womit.
Allen Leserinnen und Lesern, die diesen Blog immer, regelmäßig, wöchentlich, öfters, manchmal oder versehentlich gelesen oder kommentiert haben, wünsche ich – je nach Gusto – ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.
Beste Grüße und Aufwiederlesen
bee
Danke, werde mir was passendes aussuchen. Aufwiederlesen: Gerne, darauf freue ich mich.
Im Gegenzug freue ich mich auf ein weiteres vergnügliches und interessantes Jahr im Hause L. 🙂
Sind Sie sicher, dass Sie so wie Sie es beschrieben haben, Weihnachten feiern wollen?
Lieber bee, tausendmal Dank für das kurzweilige Jahr!!!
Werde zwischen den Jahren mit Sicherheit bei Ihnen vorbeischauen, um einige „Geschichten“ noch einmal zu lesen.
Na, ob da von Wollen die Rede sein kann?
Außerdem muss ich ja aus den vielen Dingen, die mir in diesem verrückten Leben passieren, das Beste machen, sprich: das Erlebte wiederum erzählen, damit die Geschichten nicht ausgehen 😉
Frohe Weihnachten!
Danke schön, das wünsche ich auch 🙂
Manchmal passiert es mir, dass ich versehentlich Ihr Blog mehrmals täglich regelmäßig lese. Fürs neue Jahr habe ich mir fest vorgenommen, das mal ein wenig zu systematisieren, aber man weiß ja, gegen das Versehentliche ist kein Kraut gewachsen. Bleibt mir nur die Vorfreude auf den 4.10. Alles Gute bis dahin.
…der ging daneben, gemeint war natürlich der 4.1.2010.
Ich muss da möglichst schnell mal eine RSS-Box einrichten, um den Abonnenten das tägliche Wiederlesen zu erleichtern. Und dann freut es mich natürlich, dass es ein tägliches Wiederlesen gibt 🙂