Alles fließt

10 02 2010

Es rumpelte. Kurzfristig hörte es sich an, als hackte jemand mit einer Axt ein kleines Wäldchen in handliche Holzscheite, dann wieder meinte man, das dumpfe Schlurren lebloser Körper auf bebenden Dielenbrettern zu vernehmen, kurz: Sigune war zu Hause. Vermutlich schmiss sie die Stühle durch die ganze Wohnung. Erst das Schnarren der Türklingel weckte mich aus der meditativen Ruhe, die das leise Klirren des Geschirrs in meinem Küchenschrank erzeugt hatte. Ob ich ihr nicht helfen könne?

Immerhin hatte Sigune die gröbsten Arbeiten bereits erledigt, das Bett stand ordentlich in Nord-Süd-Richtung, Tische und Stühle waren nach den Wasseradern des Nachbargrundstücks verrückt worden, die ganze Wohnung vermittelte spontan den Eindruck von galoppierender Paranoia. „Es ist eigentlich bloß noch der Kleiderschrank“, teilte sie mir mit treuherzigem Augenaufschlag mit, „er soll nämlich an der Westwand stehen.“ Das Ding war ein altertümlich bemaltes Bauernmöbel, nur knapp übermannshoch (wenn man gut zwei Meter groß ist) und mit soliden Standfüßen ausgestattet, die den Transport über das wellige Parkett zur mühevollen Balance würden geraten lassen. Sigune machte sich zur Vorsicht klein und piepsig. „Ich glaube, der ist mir auch viel zu sperrig.“ Womit dann auch geklärt war, wie die Aufgabenverteilung aussehen würde.

Ich nahm Maß. Alleine, das stand bereits jetzt fest, würde ich das Monstrum nicht einmal quer durch das Schlafzimmer bewegen können, schon gar nicht, ohne das schmiedeeiserne Bettgestell wieder aus der kunstvoll eingenordeten Position zu verschieben. Das bekannte Schlurren setzte wieder ein. Misstrauisch schaute ich um die Ecke. Jetzt erst wurde mir klar, warum die komplette Flora – ungefähr der Gegenwert eines Gewächshauses an Schling-, Blüh- und sonstigen Grünpflanzen samt Zubehör stapelte sich in dieser Bude – verschwunden war. Alles war jetzt auf mehrere Etagen verteilt vor der Ostmauer des Wohnzimmers drapiert, genauer: von der Ostmauer aus zog sich eine größengetreue Kopie des Regenwaldes bis knapp vor die Türschwelle. Mein Blick fiel auf das kleine Beistelltischchen, das zwischen Tür und Angel klemmte. Feng Shui. Was auch sonst.

Sigune stakste durch eine Herde von Begonien und Schnittlauch, trat versehentlich in eine Azalee und entfernte einige Sukkulenten aus dem Genpool. „Eigentlich wollte ich den Zimmerbrunnen in die Reichtumsecke stellen, aber vielleicht könnte das zu schädlichen Energien führen, wenn sich die Wasserkräfte hier stauen.“ „Natürlich“, antwortete ich trocken, „zu viel Wasser ist mit Sicherheit nicht gut für die Zimmerpflanzen.“ Sie runzelte die Stirn. „Das ist nicht witzig!“ Ich widersprach durchaus nicht. „Es kommt doch darauf an, dass sich die verstockten Energien wieder in Bewegung befinden und dass das Chi ungehemmt fließen kann.“ Was dieses Verhau anging, wer es ausgeheckt hatte, musste sich beim Chisprung gewaltig die Birne gestoßen haben.

Ungefähr drei Dutzend Blumentöpfe später – „Und wieso sollen die Plastepötte jetzt die Energie weiterleiten?“ „Weil sie aus China kommen.“ – stelzte Sigune aus dem Raum und schob mich ins Schlafzimmer, den Schrankverschub zu vollenden. „Das Leidenschaftliche und Feinfühlige muss hier wieder ausgeglichen werden“, befand sie. „Wenn man sich die Anordnung ansieht, das ist schneidend und bedrohlich, diese beschleunigten Strukturen werden von den spitzen Kanten des Schrankes gebündelt!“ Offenbar war ich in eine natürliche Störzone hineingeraten, die jegliche Hirntätigkeit auszuknipsen schien; einmal den rechtwinkligen Holzschrank durch den Raum schieben, und schon würde er sich zu amorphem Pudding verwandeln, der absolut parallel zu Einzugsdatum, Erdstrahlen und Beziehungsdrachen an der Wand klebt. Fast war es, als würde der Kleiderkasten leise kichern, während mich eine Irre von nicht abschätzbarem Gefährlichkeitsgrad mit glasigem Blick anlächelte.

Ich schob, vielmehr wuchtete ich Zentimeter für Zentimeter den Trumm über die Bodenbretter, wobei sich der Schrank langsam, aber stetig um die Achse drehte. Ungefähr in der Mitte des Raums hatte ich den Eindruck, als wisperte ein Teufel mir aus dem Inneren der Kiste zu. „Du bist an eine Bekloppte geraten“, höhnte der Höllenfürst zwischen Batikkleidern und Hüftschmückern. Es muss die geballte negative Energie gewesen sein, redete ich mir ein. Und schließlich war es soweit; der Kasten stand an K’un, dem südwestlichen Ende der Wohnung, und verlieh mit dem Mordsgewicht seiner massiven Wände der Position der Mieterin einen gewissen Ausgleich. Wenigstens war sie jetzt für das Chi ihres Schlafzimmers nicht mehr zu übersehen. Zu übersehen war sie jetzt nur, weil der Schrank in voller Breite und Höhe das Fenster verdeckte. „Ich schließe eben den Lampion an“, beeilte sie sich zu sagen und griff nach der Schnur. Der detaillierte Überblick über die energetische Gesamtsituation des Schauplatzes zeigte mir, dass mit Energiedurchflüssen hier nicht mehr zu rechnen war; das mütterliche, Leben spendende Element, die einzige Steckdose des Raumes nämlich, sie befand sich hinter dem Schrank.

Wie ich wieder in meine Wohnung gelangt war, weiß ich nicht. Schweißnass und schwer atmend lag ich auf dem Sofa und goss zitternd eiskalten Wodka in mich hinein. Tief unter mir lauschte ich, wie jemand schreiend eine ganze Wohnung in ihre Einzelteile zerschlug. Gut, warum nicht. Es war ja nicht meine Energie.