Da kann ja jeder kommen

31 03 2010

„Das hat doch alles keinen Sinn! Das sehe ich doch jetzt schon, wie das ausgehen wird! Das wollen Sie mir doch nicht weismachen! Guten Morgen, Herr Doktor!“ Holtzmann war mächtig erregt, als er mich vom Eingang abholte. Er schritt kräftig aus und gestikulierte wild mit dem Armen. „Das ist ja vielleicht ein verrücktes Wetter heute“, rief er, wobei er sich plötzlich zu mir umwandte und mir mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust stach, „nein, widersprechen Sie mir nicht! Das muss man noch in aller Deutlichkeit sagen dürfen, dass es draußen regnerisch ist! Wo kämen wir denn da hin? Ich frage Sie!“ Ja, ich war richtig hier. Dies also war das Ausfällige Amt.

„Wir mussten das irgendwann mal administrativ zusammenfassen. Hier Westerwelle, da Sarrazin, diese Kakofonie kann doch nicht lange gut gehen! Wir brauchen eine Regierungsstelle, die den ganzen Populismus koordiniert und endlich für einheitliche Ausdrucksweise sorgt – man merkt ja an jedem Wort, dass Sie von der ganzen Angelegenheit überhaupt keine Ahnung haben!“ Offensichtlich eine Berufskrankheit, denn während wir uns im Besprechungszimmer niederließen, hieb Holtzmann schon kräftig mit der Faust auf die Tischplatte ein. „Und Sie ordnen jetzt das populistische Getöse?“ Er nickte heftig. „Es kann doch nicht angehen, dass in diesem Land – lassen Sie mich ausreden! das muss in dieser Schärfe jetzt wirklich einmal ausgesprochen werden – jeder einfach so seine Meinung äußert, und dann entspricht das nicht gängigen politischen Standards, das geht ja nun wirklich nicht. Das wird man wohl noch verlangen dürfen!“ Ich bat um Entschuldigung, dass ich mich in den Sessel setzte, den er mit angeboten hatte („Wenn Sie meinen, dass Sie hier die ganze Zeit stehen können: das läuft so nicht!“), zog ein Papier hervor und blickte mich im Raum um. „Eigentlich hatte ich erwartet, dass Ihre Behörde nach dem Wahlkampf wieder geschlossen würde – Personal ist ja teuer und man kann die Leute sicherlich viel sinnvoller einsetzen als ausgerechnet hier – aber nun sehe ich Hochbetrieb.“ „Das kann ich Ihnen erklären. Ich habe es ja gleich gewusst! Diese ganze unsinnige Sozialstaatsdebatte, statt man mal das Urteil der Verfassungsrichter umsetzen würde, und auch dies hysterische, jawohl! ich nenne das komplett hysterisch, und Sie können mir nicht sagen, dass mit Terrorgefahr und Personalausweisen mit Chips und Nacktscannern oder – jetzt lassen Sie mich doch mal ausreden, Sie wissen doch gar nicht, worauf ich hinaus will!“

„Sagen wir mal so: Sie bestimmen doch jetzt auch zum Großteil die öffentliche Kommunikation der Bundesregierung mit.“ Holtzmann widersprach nicht. „Und trotzdem muss man immer noch feststellen, dass das in der Öffentlichkeit so nicht wahrgenommen wird. Das ist aber einzig und allein auf gewisse Interessen der Medien zurückzuführen, weil wir…“ Das Telefon klingelte. Holtzmann bellte in den Hörer. „Nein, Herr Bosbach, das geht jetzt nicht. Ich kann Ihnen das auch gerne zweimal sagen: Sie hätten diese Polemik nicht nötig, wenn Sie es vielleicht für nötig erachten würden, mir zuzuhören. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Sie Ihre Interessen vertreten, ich vertrete meine!“ Er hieb das Sprechgerät in die Halterung zurück und zuckte mit den Schultern. „Herr Bosbach wollte mich zu Mittag in die Amtskantine einladen mit Frau von der Leyen und Herrn Rüttgers, aber ich esse mittwochs nun mal Stullen.“

Glatt rasierte Beamte mit mächtigen Aktenordnern unter dem Arm schlängelten sich aus den Zimmertüren, stießen auf den Korridoren zusammen, schrien aneinander unbeherrscht an und gingen abrupt weiter. Hier und da hob einer im Rausch moralischer Entrüstung den Zeigefinger, drohte einem imaginären Widersacher und verstummte ebenso plötzlich wieder, um den Gang zurück zu tappen. „Man sagte uns natürlich aus der Opposition nach“, wandte Holtzmann ein, „das hier sei ja alles bloße Theorie – übrigens ist das ein billiger Vorwurf, wenn Sie sich nur ein wenig mit der Materie beschäftigt hätten, wären Sie darauf gar nicht gekommen – und wir haben unser Personal dann auch sofort nachgeschult. Sie werden hier jetzt erstklassig beschimpft, angeschnauzt und auf Wunsch auch mit billiger Polemik – aber was erzähle ich das Ihnen, mit diesen fadenscheinigen Ablenkungsmanövern kennen Sie sich ja bestens aus, Sie und Ihre feinen Freunde!“ „Ist ja gut“, wehrte ich ihn ab. Doch er hatte sich schon fast nicht mehr unter Kontrolle. „Außerdem ist das schon rein verwaltungsrechtlich gar nicht machbar, was Sie da erzählen – sind Sie überhaupt Jurist? Warum gebe ich mich dann mit Ihnen überhaupt noch ab? Haben Sie sich denn mal Gedanken gemacht, was das den Steuerzahler im Jahr, und ich sage hier ganz bewusst, unterbrechen Sie mich gefälligst nicht, wenn ich, das muss ich an dieser Stelle, und ja, das muss auch gerade hier – jetzt lassen Sie mich doch mal!“ Ich hielt ihm den Mund zu. Er ruderte wild mit den Händen. „Holtzmann“, knurrte ich, „Schluss jetzt mit dem Firlefanz! Was soll denn das alles hier? Wozu veranstalten Sie den Zauber eigentlich?“ Er schluckte. „Damit Sie nichts merken.“ Ich blickte ihn fragend an. „Sie haben richtig gehört. Die Regierung berät über Steuererhöhungen, den Bundeswehreinsatz im Inneren, Internetsperren und Sicherheitsgesetze – und Sie sollen sich damit nicht belasten. Sie können sich auf das Geschrei in den Medien konzentrieren.“ Er atmete erleichtert auf. „Das musste mal gesagt werden.“





Lasterausgleich

30 03 2010

„Doch, machen wir jetzt so. Für andere Lösungen bleibt uns ja mittlerweile kein anderer Spielraum mehr, bei diesen Staatsschulden. Und damit müssen Sie jetzt halt leben, wir können es ja auch nicht ändern. Die Zeiten sind schwierig, das Leben ist teuer und ungewiss. Wer weiß schon, wie viel Steuern im nächsten Jahr gezahlt und wie viele hinterzogen werden? Da muss man flexibel bleiben. Nein, nicht Lasten. Laster. Wir haben ja alle über unsere Verhältnisse gelebt, nicht wahr, und deshalb müssen wir uns jetzt alle ein bisschen einschränken. Naschsucht, nicht wahr, die Investitionen, der Sozialstaat. Deshalb Lasterausgleich. Als Ausgleich für die Verfehlungen der Vergangenheit.

Nun, im Grunde genommen ist das alles bloß eine Umwegfinanzierung. Also das ist, warten Sie mal, wie erkläre ich das Ihnen jetzt – also vielleicht so: Sie würden doch Ihrem Nachbarn nicht einen neuen Fernseher kaufen, oder? Sehen Sie, das wollte ich auch gemeint haben. Täte ja auch kein vernünftiger Mensch. Aber wenn Ihr Nachbar nun drei kleine, süße Töchter hätte und die drei kleinen, süßen Töchter würden jeden in der Nachbarschaft jeden Tag um einen Euro bitten – und jetzt sagen Sie nicht, Sie würden das nicht merken, Sie haben doch Augen im Kopf und können Eins und Eins zusammenzählen – na, sehen Sie. Das muss Sie auch nicht kümmern. Hauptsache, er kriegt seinen Fernseher. Irgendwann.

Da sollten wir doch mal froh sein, dass wir eine so unbeugsame Kanzlerin haben, nicht wahr? Sonst hat sie sich doch immer noch weggeduckt und hat erstmal gar nichts getan und abgewartet, ob nicht doch noch ein Wunder passiert. Sie hat doch im Wesentlichen das getan, was man von ihr erwartet hatte: ein bisschen pokern und lamentieren und die harte Tour, und dann ist sie standhaft geblieben wie eine Zinnsoldatin. Wie es sich Frankreich wünscht. Was wollen Sie, es ist doch ein ausgeglichenes Ergebnis? Sie dürfen die griechischen Schulden freiwillig bezahlen. Zwingen wird man Sie erst, wenn es die europäische Wirtschaftsregierung gibt.

Was wollen Sie, das ist doch letztlich gar nicht so viel. Also genau genommen ist das alles, wenn Sie Griechenland jetzt als Störfall mal addieren, also das ist dann alles, warten Sie: ein Viertel BayernLB. Ja, mehr ist das gar nicht. Und wenn wir den einen weiß-blauen Bazis geholfen haben, dann werden wir das diesmal auch wieder hinkriegen, oder? Stabilitätspakt ist out, wir verstehen uns jetzt als eine Schuldengemeinschaft. Alle sitzen im selben Boot, wenn Sie so wollen. Nur, dass die anderen die Küstenlandschaft bewundern und sich beschweren, dass es nicht schneller vorangeht. Und Deutschland rudert.

Na, wie schon? Die Mehrwertsteuer anheben, den Kündigungsschutz aushebeln, notfalls eben die Sparkonten plündern. Also nicht die von Merkel und Westerwelle, damit wir uns da nicht falsch verstehen. Obwohl, ganz im Vertrauen, bei der Kanzlerin wäre da sicherlich nicht so viel zu holen. Ach Gott, der Europäische Währungsfonds… das ist ja ein Ding wie der Außenminister. Jeder redet darüber, aber keiner nimmt das Thema ernst.

Verstehen Sie das als eine verspätete Hommage an das Konzept Multikulti. Jedes Volk in unserer europäischen Weltordnung hat nun mal eben seine ihm gemäße Bestimmung, nicht wahr, das wusste ja schon dieser Arbeiterführer, erinnern Sie sich? Dieser große Mann mit dem schlecht sitzenden Gebiss, wie hieß er doch noch gleich – dieser unerträgliche Sozialdemokrat, na! Rüttgers, richtig, Danke vielmals, also der hat den Rumänen an sich auch korrekt eingeschätzt seinerzeit. Der Rumäne an sich ist ja ein volkswirtschaftlich nicht so relevantes Volk, verstehen Sie, der hat überhaupt nicht richtig zu arbeiten und schon gar nicht in einer Telefonfabrik. Der Rumäne hat sich höchstens als Hütchenspieler in deutschen Fußgängerzonen aufzuhalten, und selbst das nur, wenn er dem freilaufenden Albaner damit nicht ins Gehege kommt. Und was der Grieche ist, der muss ja mit 63 aufhören mit der Arbeit, sonst hat der ja als große Kulturnation gar nichts mehr von seiner Antike und dem ganzen Kram da unten auf der Peloponnes. Außerdem muss der Grieche zu den Schlusslichtern in Europa zählen. Warum? Ja, denken Sie doch mal nach – wenn der Grieche das macht, dann muss es der Deutsche nicht mehr. Logisch, oder?

Schauen Sie, das ist wie mit dem Nachbarn und dem Fernseher: es dauert dann letztlich doch zu lange. Wir könnten ab sofort auch einfach nur noch griechische Waren kaufen, uns ausschließlich von verkohltem Fleisch und Fettfritten ernähren und im Urlaub nach Kreta, Korfu und Kos fahren, aber dann möchte ich nicht hören, was Sie dann meckern würden. Gut, unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten, aber halten Sie das für generationengerecht?

Natürlich war das alles vorher klar. Allen. Sie müssen schon eine ziemliche Nulpe in Wirtschaft sein, wenn Sie diese monetäre Rutschbahn nicht vorhersehen. Aber den Vorwurf dürfen Sie der Kanzlerin nicht machen. Die muss nicht zum Arzt. Die hat keine Visionen. Nie gehabt.

Sozialismus? Hören Sie mal, das ist doch kein Sozialismus! Nein, auf keinen Fall – wissen Sie, wenn das Sozialismus wäre, hätte doch die FDP dem nicht sofort zugestimmt. Musste sie ja auch. Wieso? Na, was meinen denn Sie, wer uns in der nächsten Bankenblase rettet? So, und jetzt machen Sie bitte nicht so einen Zimt – her mit der Kohle, ich muss heute noch den ganzen Wohnblock abarbeiten, sonst schickt man mich zur Strafe ins Villenviertel zurück.“





Der Nächste, bitte!

29 03 2010

„Und der Nächste, bitte!“ Während ich an Keudells Schreibtisch Platz nahm, ordnete der Beamte noch akkurat seine Papiere und spitzte seinen Bleistift hingebungsvoll im kurbelbetriebenen Apparat nach. „Holen Sie schon mal Ihren Antrag raus“, sprach er geistesabwesend, „dann kann ich gleich sehen, ob ich Ihre Bewilligung gleich heute weitergebe oder ob Sie vorher noch…“ Ich überlegte, ob ich ihn unterbrechen sollte, aber da hatte er seinen Irrtum auch schon selbst bemerkt. „Bitte vielmals um Entschuldigung! Es ist aber auch ein Betrieb hier – rein zu toll, sage ich Ihnen, rein zu toll. Aber so ist das eben, sie wollen alle nicht arbeiten, keiner von denen will arbeiten. Wenn die mit der Energie, mit der sie sich vor der Arbeit drücken, die Ärmel hochkrempeln und anpacken würden, ich sag’s Ihnen, Deutschland wäre ein Paradies! So sind sie, was soll man machen.“ Er seufzte tief. „Wir können uns die Politiker nun mal nicht aussuchen.“

Die Liste war umfangreich, unlogisch aufgebaut und zu allem Überfluss auch noch von Doubletten gespickt, kurz: ganz genau das, was man von einem Bundesministerium erwartete. „Warum machen Sie sich eigentlich diesen Umstand? Das hat es doch früher auch nicht gegeben.“ Wieder stöhnte Keudell und faltete die Hände. „Der Kündigungsschutz wird gerade wieder einmal gestrafft, das heißt: das, was davon übrig geblieben ist.“ „Kündigungsschutz? Gibt es den noch?“ Er nickte. „Die so genannte Deregulierung ist das neue Zauberwort.“ „Davon hatte ich auch schon gehört“, bestätigte ich, „sie macht wettbewerbsfähig und schafft sofort neue Arbeitsplätze und ist ein großer Anreiz für Investitionen…“ „… und führt dazu, dass dieselben Idioten sich immer wieder neu auf irgendwelche Jobs bewerben, von denen sie keine Ahnung haben. Der Albtraum aller Personalchefs.“ „Immerhin müssen Sie zugeben, dass man wesentlich schneller Leute wieder einstellt, wenn man weiß, dass man sie bei schlechterer Auftragslage auch wieder entlassen kann.“ Keudell schüttelte den Kopf. „Falsch. Blödsinnig und falsch. Man entlässt nicht jemanden, mit dessen Arbeitsleistung man zufrieden ist, weil man fürchtet, dass eine gute Arbeitskraft bei der Konkurrenz unterkommen könnte. Man entlässt Niedriglöhner, weil man weiß, dass man dieselben Leute auf den alten Arbeitsplatz setzen kann, und zwar für einen Euro in der Stunde, den man noch nicht einmal selbst zu berappen braucht. Und wenn man Auftragsspitzen abarbeiten muss, gibt es Leiharbeiter. Erzählen Sie mir keine Märchen.“ „So hat es aber das Arbeitsministerium gesagt“, begehrte ich auf. Keudell fletschte die Zähne. „Eben“, knurrte er, „genau darum.“

Er griff in den großen Stapel hinein und zog treffsicher ein Blatt Papier hervor. „Es gibt sowieso nur noch befristete Verträge, und dann soll es auch noch möglich sein, die Kräfte ohne jeden Grund vor die Tür zu setzen.“ „Das ist ja heute schon fast der Normalfall“, bestätigte ich, „die Hälfte der neu geschlossenen Arbeitsverträge sind inzwischen befristet.“ „Mit dem Ergebnis, dass es den Arbeitnehmern auch völlig egal ist, wo ihre Firma steht – rausgeworfen werden sie sowieso, arbeitslos werden sie ohnehin irgendwann, es ist nur eine Frage der Zeit, also wozu noch Engagement für die Wirtschaft?“ Keudell raufte sich die dünnen Haare. Ich legte tröstend die Hand auf seinen Arm. „So schlimm wird’s doch nun auch wieder nicht sein.“ Er ächzte. „Sie machen sich ja gar kein Bild, was da auf uns zukommt. Auf die ganze Gesellschaft.“

Die Akte auf seinem Schreibtisch war der Vorgang von Franz Josef Jung. „Typisch – wieder so eine lückenhafte Erwerbsbiografie. Hier mal ein bisschen als Verteidigungsminister gejobbt, da hat’s von der Qualifikation her nicht so ganz gereicht, dann als Arbeitsminister, und jetzt darf er nur noch die Aushilfstätigkeiten machen. Das kann doch nicht gut gehen! Am Ende haben wir wieder diese Löcher in der Rentenversicherung und die Politiker kommen bei uns an, weil ihre Grundsicherung nur knapp oberhalb der Armutsgrenze liegt.“ Er riss den Zettel mit einem Knall zur Seite und schlug den nächsten Vorgang auf. „Oder hier, Ursula von der Leyen. Die hat uns das ganze Trauerspiel überhaupt erst eingebrockt!“ „Sie meinen, weil sie das mit den befristeten Arbeitsverträgen so im Koalitionsvertrag haben wollte?“ „Koalition, Schmoalition“, grantelte Keudell, „sie hält es auf keiner Position aus. Und sie sucht sich immer das aus, wo sie irgendwas mit Kindern machen kann, was dann aber nichts mit Kindern zu tun haben darf und den Kindern auch nichts bringt.“ „Dafür ist ihre Stelle aber auch schnell wieder frei, wenn Sie sie loswerden wollen. Betrachten Sie es positiv: das macht Platz für neue Investitionen.“ Er murrte noch immer. „Und dann die mangelnde Motivation für die Lebensplanung! Wenn Sie die heute als Arbeitsministerin einstellen, dann wissen Sie doch nicht, was sie bis morgen alles wieder kaputtgekriegt hat!“

Noch einmal blätterte Keudell um. „Niebel?“ Er nickte. „Schwieriger Fall, er hat ja nicht nur ein Problem mit der Arbeit, er hat ja auch eins mit der Arbeitsvermittlung.“ „Vermutlich weiß er, dass das alles nichts bringt“, mutmaßte ich. „Das wollen wir schon schaukeln“, wiegelte der Amtmann ab. „Schließlich sind wir der FDP auch zu großem Dank verpflichtet.“ Ich begriff nicht. Keudell schmunzelte. „Sie verhalten sich antizyklisch. Sie sind derart versessen darauf, freie Stellen mit Pensionsanspruch zu besetzen, dass ihnen die Aspiranten für die Stellen ausgehen. Ein enormer Vorteil, wenn Sie mich fragen. Sie haben eine einigermaßen gesicherte Altersvorsorge, und ich kann diese Pappmascheefiguren abhaken. Zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Keudell schmunzelte noch immer und schlug schon wieder um. „Auswärtiges – na, mal sehen. Ging ja plötzlich. Da wollen wir mal sehen, wer den Posten jetzt noch haben will.“ Und er vertiefte sich wieder in seinen Bleistiftspitzer. „Der Nächste, bitte!“





Einkaufszettel

28 03 2010

für Kurt Tucholsky

Nun stehst Du da vor der Vitrine
und blickst so voller Herzeleid –
ganz blaugeblümt in Kreppdeschiene,
es wär Dein allerschönstes Kleid.

    Du liebe Güte! geh doch rein,
    wenn’s Dir nun mal gefällt?
    Probier es an, dann ist es Dein –
    das bisschen Geld!

Herr Schmitz sagt, seine kleine Hanne
wär durchaus Jungfrau noch bis heut
und nähme Dich sogar zum Manne –
schon, weil der Anstand dies gebeut.

    Du liebes Bisschen! lass das sein,
    das ist nicht Deine Welt;
    wasch Dir die Weste einfach rein –
    das bisschen Geld!

Dass Du bei Bleesemann & Duncker
nicht aufkippst – ja, das ist schon rar.
Nur glaubt Dir keiner Dein Geflunker,
am wenigsten der Justitiar.

    Mein lieber Mann! so mancher Schein
    den schönen Schein erhält,
    drum lass Dich auf den Handel ein –
    das bisschen Geld!

Er hat’s geschafft, er ist Minister.
An sich verdient er hübsch dafür,
doch dies vertraute Geldgeknister,
das öffnet Einfluss, Gunst und Tür.

    Ach was. Das geht. Er ist das Schwein.
    Pass Du nur auf: er fällt,
    denn seine Gier, die reißt ihn rein –
    das bisschen Geld…





Hundpropaganda

27 03 2010

für Robert Gernhardt

Ferienbilder: viel, davon die
meisten zeigen ihn mit Blondi,
da der Führer, wo er schlurfte,
selbst der Führung oft bedurfte.

Dass das Tier jedoch Gewissen
hatte, glaubt man nicht notwendig,
denn sonst hätte Blondi ständig
Hitler in den Arsch gebissen.





Gernulf Olzheimer kommentiert (L): Nostalgie

26 03 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der Mensch, er häuft Erfahrungen an, um aus deren Unterschied und Gemeinsamkeit sich eine praktikable Gebrauchsanweisung für die Welt außerhalb der Kalotte zu häkeln. Blau ist kalt, rot ist heiß – solche Erkenntnis prägt, strukturiert und macht fit für den Alltag, auch wenn interimsmäßig Freund Alkohol die Birne blockieren oder Hormone den Weg der Denkkrümmung einebnen sollten. Jedoch adelt den höheren Säuger das Einarbeiten der Komponente Echtzeit in den intellektuellen Prozess, der Ich-Hier-Jetzt-Nullpunkt gewinnt rasch an Bedeutung, wo er die richtigen Fragen stellen lässt. Wer beim Sprung vom Beckenrand feststellt, dass bis gestern definitiv noch Wasser drin gewesen sein muss, hat mit dem Update zu lange gewartet und bricht sich die Gräten nicht zu Unrecht. Wer auch noch den Aufprall ignoriert, macht sich der Nostalgie verdächtig.

Nostalgie, das ist die bekloppte Schwester des Heimwehs; sie wünscht uns auf einen beschissenen, kleinen Planeten zurück, der nie auch nur in einem Paralleluniversum herumexistierte. Alles, was sich seit der guten alten Zeit (nach der Scheidung, mit dem neuen Jahrtausend, vor dem Hintergrund einer sich verfestigenden Erdkruste) verschoben hat, hing zwingend am Bezugssystem und beweist, dass die gute alte Zeit möglicherweise alt war, aber mehr auch nicht. Der penetrant rosafarbene Qualm im Langzeitgedächtnis ist selbst schon eine Illusion, denn hinter ihm verbirgt sich: nichts. Das Paradies, als das sich Erinnerung versteht, aus dem die sich bürgerlich gerierenden Schimmelschädel nicht vertrieben zu werden wünschen, ist Vorspiegelung dessen, was falsch, aber nie Tatsache war – sonst wäre es ja nicht falsch – und die seitenverkehrte Form sinnloser Zukunftsträume.

Das Retro-Modding, das wörtlich den Schmerz am Vergangenen bedeutet, macht eben diesen zu seiner eigenen Therapie; logisch, bei Kopfweh hilft es ja auch, ordentlich mit dem Schädel an die Wand zu ballern. So hält sich der Erfolg fetischistischer Befassung mit dem Perfekt auch in Grenzen, die Bastelstunde mit Leichenteilen gebiert, wie denn auch, kaum Neues. Der Bekloppte wird von seiner Vergangenheit bewältigt, mehr passiert nicht. Das namenlos Schöne, in konkrete Form geschwiemelt – früher waren die Brötchen billiger, das Wetter war besser, die kleinen Mädchen trugen noch Röcke und die Polizei schoss in die Menge – dient nur dazu, das eigene Koordinatensystem zu synchronisieren mit verpfuschter Unschuld und ramponierten Tugenden zu einer rücksichtslosen Beschönigung des Wertlosen: keiner gäbe je zu, eine völlig überflüssige Randexistenz als Beknackter in einem Haufen von Bescheuerten an die grenzenlose Blödheit des puren Daseins verschleudert zu haben, nicht wesentlich wichtiger als eine Fruchtfliege, die man zwischen den ungewaschenen Fingern zerreibt, weil man ihr Fetzchen Bewusstsein für weniger bedeutsam hält als seine eigene Knallchargenrolle in einer Population freischaffender Mehlmützen, die versehentlich geboren werden, lächerliches Schuhwerk tragen, zu beschränkt sind für Graphentheorie oder Seerecht und dann unter zu viel Geräuschentwicklung erheblich zu spät den Sauerstoffverbrauch einstellen.

Um professionelle Nostalgiker stufenweise in den Wahnsinn zu treiben, den Hauptdarsteller in einem Hieronymus-Bosch-Gemälde erleben, lohnt es allemal, sie konsequent in diese Spirale der ewigen Heimkehr zu stoßen, die beim Einstrudeln gleich einer Regression in den Mutterleib Schritt für Schritt in der Zivilisation zurückstolpert: der Gegenwartsmensch preist die 80-er Jahre, der Achtziger die frühen Siebziger, der 68-er die Vorkriegsepoche, der die Kaiserzeit, und über Biedermeier, Frührenaissance und spätrömische Dekadenz landet der Betrachter im Hirn einer Dungmücke, die gerne Pantoffeltierchen wäre, um sich nicht ständig ein paar Tausend Namen für die Eier merken zu müssen. In ebendiese Kerbe drischt der Behämmerte, der das Archaische aufpustet, bis es sich zum Götzen eignet – ein Instant-Mythos, so windschief wie unausgegoren. Alles das dient allein der Biografiebereinigung, denn in einem quasi keimfreien Idyll voller Rosen und Puschelquark ist alles moralisch, politisch, ästhetisch und sonst wie dufte, der Bescheuerte selbst ein Mustermann vor dem Herrn und über jeden Zweifel erhaben perfekt, weil die Verhältnisse ihn so erschaffen haben. Erst mit dem Einbrechen der beschissenen Wirklichkeit in dies untadelige Sein beginnt der Niedergang, und er entschuldigt alles, was der Dumpfmull an Wirrsinn denkt, sagt, tut, lässt oder duldet, kurz: die aus Unsinn zusammengezimmerte Vita des typischen Brezelbiegers von nebenan. Er stemmt sich verzweifelt gegen die ihm eigene Unzulänglichkeit, gegen das Allzumenschliche, gegen die präexistierende Vergänglichkeit. Das ist sein gutes Recht. Dennoch geht er allen anderen damit auf die Plomben. Und er kriegt es nicht weg. Auch wenn wir uns bald schon zurücksehnen werden nach dem, was übermorgen gewesen sein wird. Denn Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie nie war.





Vorwärts!

25 03 2010

„Und Sie haben auch wieder nicht an die nötigen Papiere gedacht – Herrgott, dass man Ihnen aber auch alles dreimal erklären muss! Was meinen Sie wohl, warum wir das hier veranstalten, Gabriel? Aus Schikane bestimmt nicht. Aber von alleine bekommen Sie ja den Hintern nicht hoch. Und Sie wollen das doch immer: Ordnung. Ordnung!

Gut, dann eben Ordnung. Sie müssen es wissen. Ihr Laden hat es ja gerichtet, und deshalb läuft es jetzt so toll. Natürlich, so haben wir das verstanden. Oder hatten wir uns wieder alle verhört, Gabriel? Hat Ihnen das Ihre Vorzimmerdame eingetrichtert? dieser Sekretärinnengeneral? Oder haben Sie das noch von Ihren vorbestraften Heuschrecken? Hartz? Schuster? Volkert? Wer war das damals noch, der dem Rücktritt von Hartz so schnell ins Visier stolperte? Fällt Ihnen der Name wieder ein? Nicht? Gabriel, was denken Sie sich eigentlich? Dass wir hier nur auf Sie gewartet haben? Ihnen vor lauter Freude das Geld hinten und vorne reinstecken und ganz erpicht sind, Sie ständig wiederzusehen mit Ihrer Grabflüchtermannschaft? Eben, Sie haben es erraten. Sie können uns gestohlen bleiben.

Sie wollen frech werden? mir drohen? Dann werden wir hier mal andere Saiten aufziehen, Gabriel. Dann werden wir das hier nach Ihren Regeln machen. Beschweren Sie sich nicht. Sie wollten das so. Jetzt werden Sie es ausbaden.

Natürlich werden Sie arbeiten, und zwar den ganzen Tag. Zehn Stunden, zwölf Stunden, da wird uns schon etwas für Sie einfallen. Sie werden zu den volkswirtschaftlichen Produktivkräften gehören mit Ihrer Bagage – hört sich das nicht prima an? Eben drum, die Arbeiterwohlfahrt kassiert 200 Euro für Sie im Monat, die Senioren drücken nochmals acht Euro pro Stunde ab, und Sie bekommen davon einen Euro, der selbstredend mit Ihrem Regelsatz verrechnet wird. Noch Fragen? Ja nun, wenn Sie das stört, Gabriel, dann hätten Sie vielleicht nicht an den sozialen Rand rutschen sollen. Bisschen früher mal reagieren und nicht immer nur jammern, dann klappt das schon, nicht wahr? Nicht wahr? Was kann ich denn dafür, dass die SPD ihre Miete nicht mehr zahlen kann, habe ich die beschissenen Gesetze gemacht oder Sie? Dann flennen Sie hier auch nicht herum, Gabriel.

Zumutbarkeit? Was meinen Sie damit? Dass Sie dem deutschen Rechtsstaat nicht mehr zuzumuten sind? Das wussten wir schon ein bisschen länger. Die größte Zumutung für den Sozialstaat, das sind die Schmarotzer, die Lügner, die Parasiten in der Hängematte, die Ausnutzer und Nutznießer, die… Sie brauchen hier gar nicht so begeistert zu tun, Gabriel. Ich rede von Ihnen. Von Ihnen und Ihrer neoliberalen Klientel, die Sie mit dem Genossen Gasmann an die Börse bringen mussten. Damit man nicht merkt, dass Sie mal eine Arbeiterpartei waren. Oder es auf dem Weg in den Abgrund vergisst. Oder gar nicht wahrhaben wollte, dass der Dicke plötzlich nicht mehr an der Macht war.

Was haben Sie denn noch an Programm? An Maßstab? Was? Gabriel, jetzt kommen Sie mir nicht mit Menschenrechten oder irgendeinem Getöse, das ist doch nicht Ihr Ernst! Haben Sie sich mal gefragt, warum Sie schon wieder dieselben Fehler machen? Wenigstens haben Sie sich sofort gemeldet. So ist das bei der SPD: Kein Konzept, keine Richtung, aber die Geschwindigkeit! Einmal Huschhusch, dann legen Sie schon Ihre gesammelte Weisheit aus der Schublade auf den Tisch und peitschen den Krempel durch den Parteiapparat, damit niemand mitkriegt, was Sie sich da wieder für einen Quark zusammenfantasiert haben. Meine Güte! Ist Ihnen etwa zwischendurch aufgefallen, dass man den Arbeitslosen im Eifer des Gefechts nicht gleich auch noch das Wahlrecht aberkannt hat? Sie haben Angst um die Stimmen? Dann schmeißen Sie Ihren Sarrazin raus, dieser Freizeitskinhead kostet Sie mehr, als Sie mit Ihrer Schonvermögensgymnastik jemals wieder reinkriegen könnten!

Selbstkritik? Gabriel, das meinen Sie doch nicht ernst. Die wirklichen Schweinereien haben Sie doch nicht einmal mit der Kneifzange angefasst. Die willkürlichen Sanktionen, die Aufforderung zur Verfolgungsbetreuung, die vertreibende Hilfe – das Abschieben in eine Beschäftigungstherapie für Arbeitsbeschaffer, als ob Kohl noch Kanzler wäre und die Republik ein kollektiver Freizeitpark, das haben doch nicht Sie sich ausgedacht? Und dann diese tiefenbescheuerte Kopie von Westerwelles Volksfront an der Schneeschaufel – wollen Sie auch ganz sichergehen, dass keiner von denen jemals in die Nähe eines sozialversicherungspflichtigen Jobs kommt? Haben Sie sich überhaupt mal überlegt, was ein Ein-Euro-Job oder gemeinnützige Arbeit im Lebenslauf eines Erwerbslosen für potenzielle Arbeitgeber bedeuten, Gabriel?

Aber ja doch. Verregelung! Wachstum ist der Normalfall bei Kindern – dann ist es also auch der Normalfall, dass man sich die Zehen in zu kleinen Schuhen klemmt und sich in zu kurzen Hemden den Arsch abfriert. Menschenrechtsverstöße sind ja tolerierbar, wenn man sie aus Prinzip immer nur für einen Übergangszeitraum festschreibt.

Machen Sie so weiter, Gabriel. Das scheint ja das Erfolgsrezept zu sein. Erst mal los, vorwärts! und wenn man nicht gleich auf die Schnauze fällt, war’s anscheinend richtig so. Wer braucht da noch ein Parteiprogramm oder eine Mitgliederbefragung? Ich bewillige Ihnen das jetzt für ein Jahr. Unter der Auflage, dass Sie sich weiterbilden. Sie und Ihre Spezialdemokraten, Gabriel. Pfeifen Sie auf den Apparat. Sie brauchen Grundsätze. Ansonsten: bleiben Sie mir vom Leib!“





Schuld war nur der Bossa Nova

24 03 2010

Ein Jahr nach Winnenden, unter dem Eindruck zahlloser missbrauchter Kinder, die Nation hockte wieder einmal ratlos im Gehäuse, hatte Angst, weil ihr davon niemand ausdrücklich abgeraten hatte – es ergab sich so – und suchte einen Schuldigen. Die Arbeitslosen hatte der Außenminister gerade kaputtgespielt, die Kommunisten waren für die Wahl in Nordrhein-Westfalen reserviert, Ausländer – die Ausländer – waren viel zu unspezifisch, zumal es sich nicht gerechnet hätte, die deutsch-dänischen Beziehungen für einen kurzfristigen Propagandaerfolg der Regierung zu ruinieren. In einem pawlow’schen Anfall ließ der Freizeitpsychologe Pfeiffer die Presse wissen, dass die Gewaltexzesse krimineller Banden aus der Kenntnis von Killerspielen herrühre. Damit hätte man das Kapitel abschließen können, auch wenn die Hells Angels protestierten. Mit Ballercomputern gäbe man sich gar nicht erst ab. Eine Zwickmühle. Denn nicht, dass ein hirnrissiger Vergleich eines unqualifizierten Pensionärs den Sündenbock zum Gärtner machte, war der Skandal. Den Rockerclub gab es seit mehr als sechzig Jahren.

Hektische Überlegungen folgten. Ausgerechnet die der deutschen Regierung just so eng vertraute Schweiz schoss quer und schleifte ein Spielverbot durch den Ständerat. Sensible Naturen unter den Waffenbesitzern befürchteten schon, man würde mit dem Finger auf sie zeigen und sie zu spontanen Schießereien zwingen. Durfte man einen Teil der Staatsbürger einfach schutzlos den Diffamierungen einer enthemmten Öffentlichkeit preisgeben?

Rettung nahte aus konservativen Kreisen. Während andere noch ihre Vorurteile nach Preisen sortierten, hatten fortschrittliche Rückschrittskräfte um den Vorsitzenden der Bischofskonferenz bereits hatten den Feind ausgemacht. Negermusik, erklärte Erzbischof Zollitsch, sei noch immer und an allem Schuld gewesen. Dies Dogma gelte seit nunmehr fast sechzig Jahren, also und da es bekanntlich nur von allen denen bestritten würde, die ohnehin böse seien und zufällig selbst Negermusik hörten, sei der lückenlose Beweis erbracht. Die Klänge einer gottlosen Generation seien es, die die Saat der Gewalt hätten aufkeimen lassen.

Horst Seehofer und Bushido zogen sich nach Wildbad Kreuth zurück, bevor sie ihre gemeinsame Presseerklärung verschickten.

Nichts hielt nun die Gesellschaftspfleger davon ab, die Republik von Schmutz und Schund zu befreien. Einige Saubermänner übertrieben es zwar deutlich, indem sie allnächtliche Verbrennungen missliebiger Artikel auf öffentlichen Scheiterhaufen forderten, doch die christlichen Parteien lehnten diese Forderung im Bundestag rundheraus ab; die Kanzlerin ließ sich aus Klimaschutzgründen nur zu wöchentlichen Autodafés überreden und selbst das nur, wenn die Wiederverwertung nicht vermiedener Abfälle gesichert sei. Der Koalitionspartner indes ging weiter, schon um die immer noch ausstehende soziale Frage endlich vom Tisch zu bekommen. Guido Westerwelles Beschäftigungsprogramm Sozialistische Aufklärung für Ein-Euro-Jobber fand rasch Anklang bei der Bevölkerung, weil das Kürzel SA vielen Mitbürgern noch in angenehmer Erinnerung war. Auch die kulturelle Bereicherung war deutlich zu spüren, das Kampflied Bau ab, bau ab gehörte von da an zum deutschen Alltag. Selbstverständlich achtete die Bundesregierung darauf, dass die Zeilen „Für eine bessere Zukunft richten wir die Heimat zugrund’!“ nicht mit undeutschen Rhythmen unterlegt waren. So rückte die Nation in wohliger Wärme zusammen.

Es schlug die Stunde der Denker. In einer messerscharfen Analyse wies Bettina Röhl, die große alte Dame der Vulgärsoziologie, nach, wie die 68-er die Swingjugend hervorgebracht hatten, der sie die Schuld am Scheitern von Stalingrad gab. Auch die katholische Kirche nahm die Moralübung begierig auf. So stellte die Bischofskonferenz fest, das afroamerikanische Getrommel habe bei vielen Kindern und Jugendlichen bereits verheerende Wirkung gezeitigt; sie seien inzwischen derart verroht, dass sie sich unschuldigen Pfarrern in unsittlicher Weise genähert hatten. Das komplette Archiv des ZDF stand vor einer Generalrevision; Roland Koch nahm sich der Aufgabe selbstlos an.

Daneben galt es vorwiegend, Plattenläden und Antiquariate auszumisten, da dort der Schund der Vergangenheit noch haufenweise lagerte. Dennoch rief das sittenreine Kontrollgremium zu maßvollem Durchgreifen auf. Während Little Richards Tutti Frutti in historischen Originalaufnahmen von eifrigen Bürgern auf dem Pflaster zertreten wurde, ließ man die gleichnamige Fernsehsendung ungeschoren. Negative Einflüsse der allenfalls drittrangigen Hintergrundmusik waren hier nicht zu bemängeln gewesen.

Mag es sein, dass die Bekämpfung gewalttätiger Umtriebe etwas aus dem Ruder lief, denn an einem lauen Frühlingsabend geriet Christian Pfeiffer selbst ins Visier der Fahnder. Eben noch hatte er heimlich zersetzenden Unflat in seinen Schrank geräumt – es sickerte durch, man habe ihn auf frischer Tat ertappt, eine Doppel-LP von Hazy Osterwald in den Händen – da stürmte die Truppe das Haus. Während ein Teil den Ex-Politiker krankenhausreif prügelte, verwüstete der Rest der Rotte vorsorglich das Haus. Noch leierte der Plattenspieler: Schuld war nur der Bossa Nova. Die Nadel kratzte kreischend über das Vinyl, dann war Stille. Man hatte, so der Sprecher des BKA, vermutlich einen Amoklauf verhindert. In letzter Sekunde.





Wischiwaschi

23 03 2010

Der Frühling zog langsam ein, bald würde man nicht mehr Schnee fegen, sondern Pollen. Ein Blick auf den Kalender bestätigte mir meine Vorahnung: es würde knapp, jetzt noch alle Freunde für ein Festtagsmenü zusammenzubekommen. Ich stellte die Kaffeetasse auf den Schreibtisch, schritt in die Küche und fand Hildegard über einem Stapel von Aufsatzheften. „Was hältst Du davon“, schlug ich leichthin vor, „wenn wir Ostermontag…“ Sie hob nicht einmal den Kopf. „Du wäschst ab.“

Aus baustatischen Gründen verträgt die Küche keine Geschirrspülmaschine. Da es sich um meine Küche handelt, kann ich, wenn überhaupt, auch nur leisen Protest anmelden, und selbst hier muss ich zur Kenntnis nehmen, dass die Betonung meist auf dem Anmeldevorgang liegt. Allerdings hält das Hildegard nicht davon ab, für ihre Ess- und Trinkgewohnheiten Besteck und Geschirr in rauen Mengen zu verschmutzen. Kaffeetassen pflastern ihren Weg, wenn sie am Wochenende zwecks Marktbesuch, Briefkastengang und mehrmaliger Ausflüge auf den Balkon die Wohnung verlässt und hinterher eine neue Tasse aus dem Küchenschrank nehmen muss, Löffel inbegriffen, denn sie trinkt ihren Kaffee schwarz. Sonnige Nachmittage, deren Geräuschpegel sie manchmal unentwegt zwischen Arbeitszimmer und Altan pendeln machen, führen rasch zu dem Gedanken, dass auch eine kurzfristig angeheuerte Spülhilfe mit dem 24-teiligen Service nicht mehr rechtzeitig fertig würde, wenn meine Beste einen Anfall von Porzellanmangelsyndrom erlitte. Böse Zungen behaupten, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Aber was soll ich tun, wenn sie nicht den Löffel abgeben will.

Nun wäre es nicht halb so problematisch, lüde ich mir eigene Gäste ein. Das Verhältnis zwischen meinem Freundeskreis und Hildegard ist einerseits von Befremden, milder Ironie und leiser Furcht geprägt, andererseits von kalter Ablehnung. Jonas treffe ich nur aushäusig, Reinmar hält sie nervlich nicht aus. Ich koche für ihre Kolleginnen, deren Männer vormittags absagen – hartnäckig vermute ich, sie sitzen bei einer guten Flasche Wein um den Tisch und ziehen Streichhölzer; der Gewinner darf anrufen.

„Wir könnten diesen chilenischen Feuertopf machen oder ein Hammelragout“, schlug ich vor. Hildegard war verärgert. „Ich kann nichts dafür, dass Du Deine Suppentassen immer auf den Boden schmeißt!“ Sie hatte Recht; als ich vor einiger Zeit einen großen Topf mit Kartoffel-Lauch-Suppe gekocht hatte, aß sie am Nachmittag und bis in den späten Abend hinein immer noch ein bisschen vom allmählich erkaltenden Eintopf, genauer: sie füllte sich ungefähr einen Esslöffel voll davon in eine der siebzehn Suppentassen ab, die von den dreimal sechs übrig geblieben waren – es war der letzte Geburtstag gewesen, den Hildegard noch unter Nennung des wahren Alters gefeiert hatte, und zwar in meiner Wohnung, wobei sie es sich nicht hatte nehmen lassen, mir die verbleibende Tasse aus der Hand zu schlagen, so dass sie (die Tasse, nicht Hildegard) auf dem Küchenboden zersplitterte. Die Spüle stand voller Suppentassen, so dass ich noch nachts den Abwasch machen musste. Hildegard hatte es abgelehnt, für nur einen Löffel Suppe gleich einen tiefen Teller zu verschmutzen.

Die Krise weitete sich aus. Kaum hatten wir uns auf einen einzigen Hauptgang geeinigt, ließ sie ihre Abneigung gegen Suppen spüren. Als sei nur Suppe geeignet für einen einzigen Gang, weil man sie in einem einzigen Topf kochen und in einer Tasse servieren könne, wobei sie auch nur ein einziges Teil an Besteck forderte. Zur Auflockerung erfand ich aus dem Stegreif das Patchwork-Essen, eine Weiterentwicklung der Bottle-Party mit anderen Mitteln: der Gastgeber bereitet die Speisen zu, Geschirr und Besteck jedoch bringen die Gäste nach Lust und Laune mit. Hildegard stichelte, ich sei zu geizig, ihren Gästen Pappteller zu kaufen. Einen kurzen Augenblick lang hielt ich es für einen passablen Scherz, ich fand mich jedoch in die raue Wirklichkeit zurückkatapultiert, als sie zunächst aus Teegläsern Kaffee trank (die Küchenspüle stand schon wieder voll), dann aber ein Großgebinde an Einwegtassen aus geschmacksneutralem Kunststoff – die Geschmacksneutralität bezog sich offenbar nur auf das Design – in die Küchenecke stellte.

Als ich vor ihren Augen eine Porzellantasse umspülte, abtrocknete und auf den Küchentisch stellte, verlor Hildegard die Contenance. „Das wirst Du bereuen“, presste sie wutentbrannt hervor. Da sie unmittelbar danach anfing, ihre Kolleginnen zum Essen einzuladen, wurde mir klar, dass es sich um keine leere Drohung gehandelt haben sollte. Eine weitere Verhandlungsrunde über Essen auf Rädern, im Karton gelieferte Pizza und Salatboxen aus dem Schnellrestaurant endete in ihrer Ansage, nie wieder meinen Kaffee aus meinen Tassen in meiner Wohnung zu trinken; eine Sekunde lang freundete ich mich mit diesem Gedanken an. Auch die Tatsache, dass Hildegard einen immensen Sack voller Umrührstäbchen durch die Wohnung trug, so dass ich schon nach einer knappen Stunde wieder die Dielenbretter unter den aus dem Riss in der Folie quellenden Plastestäben entdeckte, machte mich seltsam entschlossen, der Sache ein Ende zu bereiten. Schon hielt ich zwei Tassen in der Hand, zögerte jedoch, sie auf die Fliesen zu pfeffern.

Die Stimmung in Bücklers Landgasthof war gelöst, bis Hildegard den von mir geladenen Gästen die Augen öffnete. Ich sei mir nicht zu fein, für sie zu kochen; ich sei mir zu fein, für meine Gäste abzuwaschen.





Volkssolidarität

22 03 2010

Der Zug näherte sich dem Auswärtigen Amt. Es mussten eine halbe Million Bürger sein, die sich durch die Hauptstadt wälzten. Obwohl niemand wusste, woher die Menschen kamen, was sie fordern würden oder was sie zu tun entschlossen waren, befand sich der Außenminister in Panik. Zitternd hockte er unter der Tischplatte und schickte seinen Generalsekretär ans Fenster; wozu war er auch Parteivorsitzender.

Allenthalben warfen die Einsatzkräfte wirre Gerüchte in den Raum; hier munkelte man, das Volk fordere Westerwelles Kopf, dort zischelte man bereits argwöhnisch, die aufgebrachte Meute wolle den Zweitkanzler zu Hartz IV auf Lebenszeit verurteilen. In die Menge schießen? Keiner traute sich, den Einsatzbefehl zu geben, als das Volk sich in endloser Schar den Schlossplatz hinabwand und den Staatsrat links liegen ließ. Es strömten immer mehr heran; fluktuierende Scharen erweckten den Eindruck, die Menschen wollten bloß einen Blick auf die Glasfassade des Amtsgebäudes erhaschen und sich dann fortspülen lassen. Erste Pappschilder wurden in die Höhe gehalten, Arme reckten sich, Transparente wuchsen den Bürgern über die Köpfe, und schließlich stieg er, der Anführer der Bewegung auf die mitgeführte Trittleiter und zeigte sich seinen Genossen, anderthalb Meter über dem Grund, der erwerbslose Maschinenschlosser Eduard Korittke, eigens aus Greifswald angereist.

Da flatterten die Spruchbänder im Wind. Planmäßiger Abbau des Sozialismus und Für ein selbstgerechtes Steuersystem. Sie verlangten den Vize zu sehen, der noch immer bangend unter dem Tisch kauerte. Mit Mühe beruhigte Korittke die Werktätigen, die nun lauschten, wie er zu den Beamten am Fenster sprach. „Die deutsche Bevölkerung bittet darum, sofortige Steuersenkung fordern zu dürfen!“ Ein Raunen – schon setzte er wieder an: „Wir würden uns auf einen Kompromiss einlassen und einer Absenkung in drei Stufen zustimmen, wenn…“ „Kommt gar nicht in die Tüte“, schrie eine Stimme aus dem Hintergrund. Auch der Prinz Solms hatte sich zur Besprechung diverser Flugreisen ins Außenministerium begeben. „Wir fordern weiterhin eine Vereinfachung der Einkommenssteuer auf ein dreistufiges Modell, das…“ „Macht Euch doch nicht lächerlich, Ihr Vollidioten“, tönte es zurück. „Was glaubt Ihr, was hier gespielt wird?“ Korittke rang die Hände; fast wäre er vor Enttäuschung von der Trittleiter gekippt. „Aber Sie hatten es uns doch versprochen, ausdrücklich!“ Jetzt hielt es den Kassenwärter nicht mehr zurück, er trat ans Fenster. „Seid Ihr noch ganz bei Trost? Wie soll man das finanzieren?“

Während die Menge langsam zu toben begann – Sprechchöre wie „Guido, Guido, rette unser Vaterland“ oder „Wir tragen Eure Leistung mit“ stiegen zum Hauptstadthimmel empor – überlegte die Parteispitze, die eben noch über die flexible Zweckentfremdung von Diplomatenpässen beratschlagt hatte, was man den Leuten sagen könne, um sie vorübergehend in Schach zu halten. Lindner stellte sich der harrenden Horde, indem er ausrief: „Glaubt Ihnen kein Wort, daran ist nur die Regierung Schuld!“ Es war später nicht mehr herauszufinden, wer ihn gestoßen hatte; der liberale Lautsprecher fiel von der Brüstung.

Dienstbare Geister informierten den Chef von dem Kollateralschaden, doch der ließ sich nicht aus der Weltuntergangsstimmung bringen. In aller Eile briefte man Brüderle, der im Gespräch mit den Unterhändlern den entscheidenden Fehler beging, indem er zugab, dass der Koalitionsvertrag nur deshalb aus unverfänglichem Gewäsch bestand, um sich an nichts halten zu müssen. Es rumorte.

Korittke schwang sich erneut aufs Podestchen und schaltete die Flüstertüte an. „Wir möchten recht gerne ganz entschieden verlangen dürfen, dass es zu keiner kommunistischen Machtübernahme in den Krankenkassen kommt. Weiter will die werktätige Bevölkerung, dass die Lohnnebenkosten“ – ein leichtes Murren ging durch die Menge, da Korittke nicht explizit die Löhne genannt hatte, sondern in seiner notorischen Arbeitnehmerfreundlichkeit immer noch auf dem Arbeitgeberanteil herumritt – „deutlich gesenkt werden, um der Globalisierung auch im Friseurhandwerk, bei Gebäudereinigern und Tagesmüttern zu begegnen.“ Die Stimmung erreichte ihren verzweifelten Höhepunkt, als eine Gruppe junger Gewerkschaftsfunktionäre aus Leibeskräften „Was hat uns zu Sklaven des Systems gemacht? – Der Mindestlohn, der Mindestlohn!“ skandierten, antiphonal hin und her über die Straße.

Hinter der Front des Auswärtigen Amtes diskutierte die Planfindungskommission, ob man dem Pöbel eine höhere Kopfpauschale ohne steuerlich finanzierten Sozialausgleich, die vollständige Streichung des Kindergeldes oder Zwangsarbeit für kinderreiche Familien anbieten sollte, als der Außenminister unter seinem Tisch hervorkroch. Schreckensbleich sahen sie, wie er ans Fenster schritt, sich straffte, den Kopf in den Nacken drückte und in die atemlose Stille hinaus auf den Schwarm sah. Er holte tief Luft und krähte es in die erstaunten Gesichter, Silbe für Silbe heraushämmernd: „Das war vor der Wahl!“

Das Wetter an jenem 8. Mai neigte zu leichten Böen; man beeilte sich, schnell daheim zu sein.