„Aber ich bitte Sie, das ergibt doch keinen Sinn!“ „Das ist es ja.“ „Aber ich frage Sie, warum macht er es dann? Das muss doch einen Sinn haben. Sie sehen doch selbst: dieser Mann ist nicht mehr zu bremsen. Das kann man ja nicht mehr mit ansehen.“ „Müssen Sie auch nicht. Über kurz oder lang wird es sich erledigt haben. Dann ist Westerwelle weg vom Fenster.“ „Endgültig?“ „Ist man mit einer Kugel im Kopf noch politisch relevant?“
„Sie müssen doch aber zugeben: das hat keiner vorhersehen können.“ „Warum haben es dann alle vorher gesagt?“ „Was? Dass die Kosten für das Prekariat viel zu…“ „Dass diese ganzen Parolen, Steuersenkung, Kopfpauschale, Aufschwung und alles, dass das nur hohles Gewäsch ist? Das hat jeder gewusst, der die Grundrechenarten kennen gelernt hat. Gewäsch, Gefasel, Geplapper. Und alle haben es nachgeschwatzt, die Zeitungen haben es geschrieben, und keiner hat auf das gehört, was sofort nach der wirtschaftspolitischen Phrase kam: Außenminister. Sein ganzes Leben lang wollte der Mann da oben stehen und Deutschland sein. Auf alle anderen wollte er herabblicken und ihnen zeigen, dass er viel mächtiger ist als alle anderen.“ „Und was ist daran verkehrt?“ „Dass er mit mehr als einer Realität zurechtzukommen versucht. Das geht nicht.“ „Wie soll man das verstehen? Weil er nicht in der Regierung angekommen ist und noch immer Opposition spielt?“ „So, wie ich es sagte: er ist Außenminister. Und das bricht ihm das Genick.“
„Seien Sie doch mal ehrlich, Westerwelle hat doch mit keinem Wort Arbeitslose beleidigt. Das wird ihm alles nur in den Mund gelegt von einer gewissen Clique Interessierter, die…“ „Und warum hat er diese Debatte begonnen?“ „Weil Deutschland in einer Schieflage ist, wir können auf Dauer…“ „Sie meinen, weil nach den 1.500 Milliarden, die wir nach der Bankenkrise den Tätern in den Rachen geworfen haben, 36 Milliarden im Kreislauf fehlen? Oder weil der FDP auffiel, dass die Erhöhung des Schonvermögens, so sinnlos sie auch war, bei der Mittelschicht, die die bestellte Steuersenkung in die Küche zurückgehen ließ, nicht gut ankam?“ „Die Mittelschicht ist doch aber genau die, die das alles finanziert! Um die muss man sich jetzt auch mehr kümmern als um die sozial Schwachen, oder?“ „Sie geben also zu, dass alle Versuche, den Niedriglohn zu verteufeln, nur auf die Mittelschicht zielen?“ „Aber ja! Hat man je etwas anderes behauptet?“
„Also gut, dann rechnen Sie: wenn die Kellnerin weniger hat als der Arbeitslose, was macht man?“ „Den ganzen Faulenzern das streichen!“ „Dann hat die Kellnerin hinterher noch weniger.“ „Und was würden Sie vorschlagen? Den Mindestlohn?“ „Das erzählen Sie doch mal den Arbeitgebern.“ „Und warum muss man jetzt deshalb die Schmarotzer so in den Mittelpunkt…“ „Weil die Mittelschicht ein Feindbild braucht.“ „Wozu denn ein Feindbild?“ „Gibt es eine Steuersenkung? Wird das Benzin preiswerter? Steigen die Reallöhne? Na?“ „Sie meinen, das, was die Bankenkrise verursacht – nein, aber warum sollte man das machen?“ „Weil die Mitte der Gesellschaft nicht auf die Bonzen schießen darf. Man benebelt sie. Sie brauchen ein Feindbild, das sich nicht wehren kann.“
„Ich will Ihnen nicht zu nah treten, aber denken Sie doch mal ernsthaft nach. Das kann doch gar nicht funktionieren. So blöd ist doch keiner.“ „Ach ja? Blocher? Wilders? Haider? So blöd ist keiner?“ „Ich bitte Sie – in Österreich, ja, aber hier? Bei uns in Deutschland? Machen Sie sich nicht lächerlich!“
„Sie meinen also immer noch, Westerwelle sei bloß ein verkappter Sozialstaatsreformer, der das Wohl der Gesellschaft im Auge habe?“ „Wenn Sie die Zeitungen mal ernsthaft läsen, hätten Sie längst bemerkt, dass er Verfehlungen in der Wirtschaft kritisiert.“ „Ja, allerdings. Man nutzt Praktikanten aus. Schlimm, schlimm.“ „Eben, das ist eine…“ „Und mehr fällt Ihnen nicht ein?“ „Das ist doch wirklich eine bodenlose…“ „Dass es inzwischen Kräfte gibt, die für weniger als einen Euro in der Stunde arbeiten, das muss man nicht wissen? Es wirkt wie seinerzeit unser Dornröschen von der Leyen – da weckt sie doch glatt einer nach zehn Jahren Tiefschlaf auf und teilt ihr mit, dass es in diesem Land Personalsauslagerung in Zeitarbeit gibt, damit sich das Lohndumping für Konzerne besser rechnet. Wer klebt dieser Frau täglich die Scheuklappen an?“ „Und was hat das mit Westerwelle zu tun?“ „Der Mann macht sich ja lächerlich – entweder weiß er von den skandalösen Verhältnissen nichts, dann ist er eine Luftnummer als Regierungsmitglied, oder er weiß es und lügt dem deutschen Volk einfach dreist ins Gesicht.“ „Jetzt müssen Sie mir erklären, warum er überhaupt die Wirtschaft kritisiert.“ „Weil er zurückrudern muss. Weil er feststellt, dass man ihm sein banales, monokausal ausgerichtetes Modell nicht abkauft. Weil man ihn kompetenter demontiert, als er hetzen kann. Er hat sich ein kleines bisschen aufgeregt, feige, wie das so seine Art ist, und hat dann den Schwanz eingezogen. Es blieb ihm auch nicht viel übrig, sonst hätte er sich ein Schild um den Hals hängen müssen: ‚Wer mich wählt, ist asozial.‘“
„Sie meinen also, Westerwelle sei so eine Art… nein, das glaube ich nicht. Das will ich nicht glauben!“ „Doch, sprechen Sie’s aus. Danach ist Ihnen leichter.“ „Er ist eine Art Schutzschirm für Industrie und Banken?“ „Na also, es geht doch!“
„Aber wenn es wirklich nur darum ging, die Wut der Mittelschicht zu kanalisieren, warum hat Westerwelle dann die Arbeitslosen ins Visier genommen? Weil die ihn nicht wählen?“ „Auch. Aber das ist nicht entscheidend. Er kann nicht anders, weil seine Parallelwirklichkeit es nicht mehr zulässt.“ „Welche Parallelwirklichkeit? Das mit der Opposition?“ „Sein Amt als Außenminister.“ „Was hat das denn damit zu tun?“ „Jeder andere Populist, der die Mittelschicht in Raserei versetzen will, braucht ein Opfer, das sich nicht wehren kann. Das war noch nie anders.“ „Sie sagten es bereits – was soll das mit seinem Amt zu tun haben?“ „Gehen Sie an die Stammtische in Europa. Hören Sie sich an, wie dort die ‚Freien‘, die Rechtspopulisten die Gesellschaft fragmentieren, Teile herausbrechen, gegen Wehrlose hetzen. Es ist nirgendwo anders.“ „Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“ „Auf das, was sie alle sagen, was Sie in jedem Land hören werden, die Resonanz der niedersten Instinkte: Neger stinken, Ausländer nehmen uns die Frauen weg, die Juden sind unser Unglück.“ „Ich… das… nein, das ist… Sie glauben doch nicht, dass…“ „Doch. Und genau hier hat er den Fehler gemacht. Er wollte Außenminister sein. Sein ganzes Leben lang war er nur davon zerfressen und hatte nie einen anderen Wunsch. Und man sollte vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht – am Ende geht es noch in Erfüllung.“ „Sie meinen also – nein, aber die Leute haben ihn doch gewählt!“ „Die Leute glauben lieber an den Messias, wenn sie wissen, dass er nicht zu ihren Lebzeiten aufkreuzt. Das hieße nämlich: Weltuntergang.“
„Das heißt jetzt, Westerwelle kann mit seiner Sozialdebatte gar nicht punkten?“ „Er kann sich nur für eine Art des Versagens entscheiden. Macht er so weiter wie bisher, wird man ihm bescheinigen, dass er außer Heißluft nicht viel produziert habe; rudert er zurück oder knickt ein oder gibt auf, dann ist er ein Versager, der es sich mit allen verscherzt hat.“ „Und wenn er jetzt – nein, ich kann das immer noch nicht glauben! Wenn er wirklich…“ „Er weiß genau, dass er als deutscher Außenminister kein falsches Wort sagen darf. Eine missverständliche Bemerkung über Ausländer, Muslime, er wäre innerhalb kürzester Zeit nicht nur weg vom Fenster, er hätte nicht nur keine nennenswerte Reputation – er wäre ein zweiter Pim Fortuyn. Und ich schwöre es Ihnen, derjenige, der ihm eine Kugel in den Kopf jagt, wird als Volksheld gefeiert.“
„Sie glauben nicht, dass er noch umkehren wird?“ „Wozu noch? Und vor allem: wie denn? Wenn Sie von einem Hochhaus herunterspringen, glauben Sie, Sie könnten es sich nach der Hälfte des Sturzes noch mal anders überlegen?“ „Kein normaler Mensch würde das denken!“ „Eben. Nur Westerwelle.“
Satzspiegel