Falscher Hase

4 03 2010

Wo blieb Pöckelmeyer? Der Himmel zog sich zu, als käme jeden Augenblick wieder ein Regenguss; ich schlug den Mantelkragen hoch und blickte an der Fassade des Stadtverwaltungszentrums empor: grau guckten die Fenster wie taube Augen in den Spätvormittag, desinteressiert, als gäbe es dahinter kein Leben. „Denn kommense ma“, nuschelte die Stimme neben mir. Er hatte einen Zahnstocher im Mund und trug eine fleckige, aber karierte Schürze und ein speckiges Schiffchen auf dem Kopf.

Das Scharnier knarzte fürchterlich. „Nich so wild“, erklärte er an seinem Zahnstocher vorbei, „Öl is aus. Margarine is auch zu teuer.“ Wir stiegen über die Falltür ein und kletterten die steile Treppe hinab. Es roch leicht süßlich mit einem muffigen Unterton. Wo war ich hier? Es beklomm mich. „Sagen Sie mal, Wenke“, fragte ich, den Namen hatte ich inzwischen dem Schildchen an seiner Brust entnommen, „sind das die Abfälle, die hier so unerträglich stinken?“ „Nee“, gab der gleichmütig zurück, „gar nich.“ Ich war schon erleichtert, da setzte er sich in Bewegung. „Es sind die Vorräte.“

Offenbar musste er mich verwechselt haben; wir schritten durch den Keller des Bürokomplexes, der die Kantine der Stadtverwaltung beherbergt. „Hier is nu das Gemüse“, klärte er mich auf. In dem Gelass lagerten Pappkisten bei Zimmertemperatur. „Die Karotten biegen sich ja schon halb“, monierte ich. „Wartense ma ab“, sprach Wenke begütigend auf mich ein. „Die sind ja auch noch nich reif. Vor nächsten Mittwoch könnense die nich kochen.“ Warum man das ganze Zeug denn so lange hier im Keller liegen ließe? „Wegen die Vitamine“, sagte er, den Zeigefinger gewichtig in die Höhe hebend. „Wenn das Gemüse nu schon so weich wird, muss das nich so lang gekocht werden. Dann bleiben auch die Vitamine frisch.“ Ich schmiss den labberligen Strunk, der wohl einmal ein Salatkopf gewesen sein musste, in die Schütte zurück.

„Vorsicht mit die Wagens“, warnte Wenke, und wirklich: zwei metallene Loren standen im Weg, eine voller kaltem, pappigem Reis, die andere mit harten, halb rohen Nudeln gefüllt. „Haben Sie es nicht geschafft, das Zeug hier auf den Kehricht zu bringen? Das muss doch mindestens seit gestern hier herumstehen!“ Wenke zückte aus seiner Küchenschürze einen Thermometer, den er tief in die Teigwaren eindrückte. „Knapp oberhalb der Körpertemperatur.“ Er wischte das Rohr ab und gab es wieder in die Schürzentasche. „Alles gut so. Die können in einer halben Stunde serviert werden.“ Ich war noch ein bisschen verständnislos. Doch er kam mir zuvor. „Das is Komponentenessen, nich wahr. Das muss so.“ Komponentenessen? „Wegen die Temperatur und die Konsistenz. Die Temperatur muss stimmen – kalter Reis, dazu Hacksteak direkt aus dem Bratfett und lauwarmes Wurzelgemüse, das macht im Durchschnitt, äääh, 50 Grad. Und von die Konsistenz her auch. Das Gemüse weich, der Reis halb roh, und das Fleisch kriegense mit das normale Messer und etwas Einsatz geschnitten.“ Im Hintergrund sah ich, wie die Klopse auf einem Förderband in einen Raum hineingefahren wurden. Ich blickte durch die Tür. Drei junge Damen mit Kittelschürzen und Plastikduschhauben steckten Wimpel in die Buletten. „Hier wird konfektioniert“, teilte mir Wenke mit. Er legte zwei Plattbratlinge nebeneinander. „Hier haben wir einmal Hacksteak Brandenburg“, ließ er mich wissen, indem er Schwarz-Rot-Gold ins linke, ins rechte Stück aber ein USA-Fähnchen steckte, „und einmal Hacksteak Florida.“ Mein Einwand, unter Florida hätte ich mir etwas mit Ananas oder wenigstens ein bisschen Tomatensauce vorgestellt, schien ihn gar nicht zu kümmern. „Mit Ananas heißt hier Hawaii, und wenn wir paar Tomatenreste haben, machen wir hinterher immer italienische Wochen.“

Es wummerte und bummerte; die gewaltige Bessemerbirne in der Mitte des Saals mochte wohl an die hundert Jahre nicht mehr im Einsatz gewesen sein, dennoch wurde sie aus mehreren dicken Rohren beschickt. „Sie erhitzen hier Kochwasser, nehme ich an“, schrie ich Wenke ins Ohr. Doch der schüttelte den Kopf und öffnete ein Sichtfenster zu einer der Rohrleitungen: Erbsen mit Suppengrün. Ein anderes: Möhrenhäcksel. Ein weiteres: weiße Bohnen. „Da könnense Mischgemüse mit machen“, brüstete sich Wenke, „da habense ein Quartal lang denselben Geschmack. Keine Qualitätsverluste.“ Ich fuhr mir mit dem Finger am Kragen entlang. „Aber Sie müssen das Ding doch mal auskippen und säubern!“ „Imprägniert“, trumpfte er auf, „total imprägniert – als die gekauft wurde, hammwer die erst mal mit zwanzig Durchgänge Kartoffeleintopf ausgeglüht. Sie, da sind aber keine Schlacken mehr drinne, gar nich!“ Unterhalb blubberte es in einer Wanne. Was roch da so streng? „Das is das Vegane für heute. Gulaschsuppe.“ „Gulaschsuppe?“ Ich war entgeistert. „Gulaschsuppe“, nickte Wenke, die Brust vor Stolz geschwellt. „Kein Gramm Fleisch mehr nachzuweisen!“ Ich taumelte und griff nach einem Absperrschieber. „Nein! Nich!“ Wenke zog mich zur Seite, doch es war schon zu spät. Das heiße Gas schoss durch das Ventil und pfiff nur um Haaresbreite an mir vorbei. Ich schnupperte. „Das ist doch…“ „Ja, Kohldampf“, gab er zu. „Wegen die Geruchsgestaltung mit die Beilagen. Das soll ja auch einheitlich sein, nich wahr.“

„Das ist mir schrecklich peinlich“, keuchte Pöckelmeyer und reichte mir rasch die Hand. „Diese Ausschusssitzungen dauern! Jetzt haben wir gleich eins – wissen Sie was? Wir gehen erst einmal einen Happen essen. Kennen Sie die Kantine hier? Einen delikaten falschen Hasen gab’s da neulich!“


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2 responses

4 03 2010
lamiacucina

eine Grossküche, der durch Verwendung von Kittelschürzen und Plastikduschhauben das Prädikat „hygienisch einwandfrei“ verdient.

4 03 2010
bee

Wobei doch eine gewisse Stimulation für das Immunsystem gar nicht so verkehrt ist 😉

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