Das melodiöse Schnarren der Türklingel riss mich aus der Versenkung. Eben noch in den Untiefen einer Rede zum 75. Gründungsjubiläum der Hörnsbütteler Farbenzwerge e. V. gefangen und mit den schlimmen Folgen der Spirochätose von 1963 konfrontiert, schon hatte mich der Alltag wieder. Es schnarrte nochmals. Hildegard hatte es sicherlich gehört, außerdem war sie, bügelnd zwar, so doch um die halbe Wegstrecke dichter an der Wohnungstür.
„Flitsch“, ließ mich Hildegard wissen, „Flitsch ist vor der Tür.“ Mein Herz setzte fast aus. „Udo Flitsch? Der schlimmste Vertreter südlich des…“ „Reg Dich nicht auf.“ Sie wusste, dass sie sich nur etwas einredete – es klingelte inzwischen im Zwanzig-Sekunden-Abstand – und dass Flitsch, der vor Jahren mit Zeitschriften, Versicherungen und Topfreinigern angefangen hatte, inzwischen über Strom- und Telefongesellschaften, Bestattungs- und Krebsvorsorge sowie Buchgemeinschaften und mundgemalte, fußgeknüpfte, nasengetöpferte Wurzel-, Zahn- und Schweineborstenbürsten in die letzte Bastion des Grauens abgestiegen war: er verkaufte Staubsauger und deren Zubehör. Böse Zungen behaupteten, er schlösse Wetten ab, wer aus purer Verzweiflung wie viele Staubsaugerbeutel kaufe, um Ruhe zu haben von seiner nervtötenden Hausiererei. „Ich schicke ihn weg“, beschloss Hildegard. „Und ich werde ihn auch…“ „Nichts dergleichen“, schnitt ich ihr das Wort ab. Sie blickte mich irritiert an. Ob sie wusste, was sich just hinter meiner Stirn entspann?
Schwungvoll riss ich die Tür auf. Flitsch zuckte merklich zusammen. „Guten äääh… Tag, mein Name ist…“ „Flitsch, Udo Flitsch“, buchstabierte ich präzise und trug ihn in das Formular auf meinem Klemmbrett ein. „Wie fanden Sie diese Wohnung? Mehrere Antworten sind möglich: das Namensschild gelesen – im Adressbuch gesucht – Hausbewohner befragt – durch Zufall entdeckt.“ Er wirkte plötzlich sehr verunsichert. „Sagen Sie, was wird das hier?“ „Sie unterhalten sich mit mir: sehr gerne – gerne – ganz gern – geht so – ungern – sehr ungern.“ Sekunden des Schweigens. „Bitte“, tadelte ich den Mann mit dem Koffer, „wollen Sie oder wollen Sie nicht? Ich habe meine Zeit ja auch nicht gestohlen, also bringen wir’s doch jetzt hinter uns!“ Flitsch zauderte. „Ich verstehe nicht, was das soll.“ Ich ließ das Brett sinken. „Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt – wollen Sie etwas von mir oder will ich etwas von Ihnen?“
Offenbar wuchs dem Vertreter die Situation über den Kopf. Mich ließ das kalt. Hatte ich mir das ausgedacht? Na also.
„So, dann haben wir jetzt einige Fragen zum Themenbereich Arbeit. Ist das Ihr Hauptberuf?“ Flitsch schwitzte. „Aha, Sie wissen es nicht – kein Problem, an Ihrer Stelle wäre ich mir da auch nicht gerade sicher.“ Jetzt begann er zu murren. „Das muss ich mir ja wohl nicht gefallen lassen!“ Ich schaute hektisch in den Fragebogen und suchte den korrekten Anschluss. „Ah ja, hier: üben Sie Ihren Beruf gerne aus?“ „Was hat das denn damit zu tun?“ „Nun, Sie sind ja offensichtlich mit dem Kundenkontakt ziemlich überfordert. Da darf man doch mal nachfragen?“ „Ich verbitte mir diese Unterstellungen“, fauchte der Saugerlieferant. Über den Rand meiner Brille hinweg betrachtete ich seinen Scheitel. „Wenn Sie diesen Job nur gegen Ihren Willen machen, warum machen Sie ihn dann überhaupt? Am Geld wird’s ja wohl nicht liegen, hm? Was verdient man denn so als Vertreter?“ „Das geht Sie einen feuchten Dreck an“, blaffte Flitsch. „Ach Gottchen“, antwortete ich, und Mitleid schwang in meiner Stimme, „so wenig? Haben Sie schon einmal einen Berufswechsel erwogen? Hm?“ „Sagen Sie mal, warum stellen Sie mir eigentlich diese unsinnigen Fragen?“ Ganz entgeistert sah ich von meinem Schreibbrettchen auf. „Also bitte – so geht das doch nun wirklich nicht.“ Flitsch kapierte nicht. „Wenn ich Ihnen das jetzt erzähle, dann sind Ihre Antworten ja nicht mehr unvoreingenommen und würden den ganzen Verlauf dieser Befragung stören. Ihnen ist ja wohl klar, dass damit auch die Repräsentativität gefährdet wäre?“ Er schnappte nach Luft wie ein gestrandeter Karpfen. „Nur mal aus Interesse: Reden Sie eigentlich gerne mit mir?“
Vermutlich nestelte er nur an seinem Kragen, weil die Luft hier im Obergeschoss schnell warm wurde. Ich blätterte entspannt in den Papieren und brachte den Kugelschreiber in Anschlag. „Der nächste Teil geht auch sehr schnell, Sie brauchen einfach immer nur Ja oder Nein zu sagen. Leiden Sie oder ein Mitglied Ihrer Familie unter folgenden Krankheiten: Durchschlafstörungen – Zahnweh – Grübelzwang – Nachtschweiß – Harthörigkeit – Blähungen – eingewachsene Fußnägel?“ Mit einem Ruck lüpfte er seinen Musterkoffer und wandte sich zur Treppe. „Das würde ich mir noch mal gut überlegen“, sagte ich scharf, „ich werde mich bei Ihrem Unternehmen über Sie beschweren, sie hätten sich geweigert, mir Ihren Puck 2000 mit Saugkraftdröselflansch und Parkettschrubber zu demonstrieren!“ Tatsächlich stellte Flitsch das Bürstensortiment wieder ab. „Wissen Sie, mit Ihnen macht das wirklich keinen Spaß“, knurrte ich. „Und jetzt lassen Sie uns diesen Krempel zu Ende bringen, ich habe heute noch Besseres zu tun!“
Keine Viertelstunde später betrat ich in die Küche. Hildegard legte Bügelwäsche zusammen. „Fertig“, konstatierte ich. „Sehr gut“, lobte sie, „nur eins ist Dir nicht in den Sinn gekommen.“ Sie lächelte. „Du hättest ihn reinbitten sollen. Es muss dringend mal wieder durchgesaugt werden.“
Satzspiegel