Neue Akzente

16 03 2010

Seitdem die komplette Stadtverwaltung in diesem Klotz aus Beton, Stahl und Glas sitzt, kann man sich aber auch leicht verlaufen – neulich bereits hatte ich bloß den Antrag auf Entgegennahme des Vorbescheidsantrags für den Bauantrag der Unteren Bauaufsichtsbehörde abgeben wollen und war von der sauertöpfischen Amtsärztin belehrt worden, die Säuglingsimpfung könnte wesentlich beschleunigt werden, wenn ich schon einmal den Oberkörper frei gemacht hätte. „Der Grünflächenbereich gehört schon auch zur Wohngeldstelle“, bestätigte mir der Mann mit den Ärmelschonern, „aber wo genau die im Hafenamt jetzt sitzen, das dürfen Sie mich nicht fragen.“ Ich tat es trotzdem, wartete die Antwort gar nicht erst ab und lief aufs Geratewohl in den dritten Stock zu Schulbehörde und Gewässerschutz.

Natürlich war das Amtszimmer leer, und schon nach einer halben Stunde begann ich, das treffliche Panorama zu begutachten, das sich beim Blick aus dem Fenster bot. Dreimal zählte ich die Schindeln auf dem gegenüber liegenden Dach nach, da wurde unvermittelt die Tür aufgerissen. „Es tut mir Leid“, keuchte der Beamte, „der Fahrstuhl war außer Betrieb!“ Ich runzelte die Stirn. „Sie hätten doch wenigstens kurz durchklingeln können“, tadelte ich ihn. „Jetzt ist der ganze Zeitplan durcheinander. Na, machen Sie schnell, dann haben wir’s hinter uns.“ Dienstbeflissen nickte der Amtmann und wies mit der Hand auf seine Begleiter. „Herr Oberschmidt, Herr Alberti, und den Kollegen Rotwängler kennen Sie ja bereits.“ Ich nickte den dreien freundlich zu und bat sie, Platz zu nehmen, während ich mich hinter dem Schreibtisch niederließ – offenbar war ich in der Gewerbeanmeldung gelandet, die Papiere handelten sich um Jagdwesen und kommunale Statistik. „Sie haben sicherlich das Memo gelesen“, begann ich die Besprechung, „daher würde ich gern direkt in medias res gehen – haben Sie Fragen?“ Alberti meldete sich verschüchtert. „Dass wir die Arbeitssuchenden zu mehr Flexibilität ermuntern sollen, das war ja laut Dienstanweisung klar. Aber ich hatte nicht ganz verstanden, was das heißt: mehr Kreativität beim Finden neuer Berufsbilder.“

Ich sah ihn nachsichtig über den Rand meiner Brille hinweg an. „Mehr Kreativität – die Berufe liegen auf der Straße! Man muss sie nur aufheben und sinnvoll einsetzen.“ Lässig durchblätterte ich einen Ablehnungsbescheid zum Bewässern von Straßenlaternen. „Was fällt Ihnen denn zum Thema Entsorgungswirtschaft ein? Na, Oberschmidt?“ Er guckte hilflos in die Runde. „Müllmann? Gibt’s das nicht schon?“ „Eben“, versetzte ich und schlug mit der flachen Hand auf den Papierstapel. „Darum braucht’s hier neue Akzente. Müllschlucker!“ Sie glotzten mich entgeistert an. „Oder denken Sie an die Reinigungsbranche. Was wären wir bloß ohne Scheibenwischer? Allzweckreiniger?“ Rotwängler gluckste. „Und Beckenbauer und Zitronenfalter!“ Unter meinem eiskalten Blick erstarb jäh seine unangebrachte Fröhlichkeit. „Herr Kollege“, sagte ich schneidend, „Ihre albernen Späßchen machen Sie bitte nach Dienstschluss. Dazu ist das zu ernst.“

„Sie meinen“, tastete sich Alberti vor, „wir könnten mit einer ganz neuen Nomenklatur die Arbeitssuchenden wieder besser in Lohn und Brot bringen?“ Er hatte es offenbar begriffen. Und ich ließ mich nicht lumpen. „Welches Orchester kommt heutzutage noch ohne einen Geigerzähler aus? Können Sie sich einen landwirtschaftlichen Betrieb ohne einen professionellen Feldstecher vorstellen?“ „Der kann dann auch eine Zusatzqualifikation als Kartoffelpuffer machen“, warf Rotwängler in die Runde. „Na sehen Sie“, meinte ich wohlwollend zu ihm, „Sie haben begriffen, worum es geht.“

Die Köpfe rauchten; binnen einer Viertelstunde entstand in unserer kleinen Runde eine epochale Ideensammlung zur Reform des Arbeitsmarktes. Kein deutscher Mischwald würde mehr ohne einen Raupenschlepper bleiben müssen, kein Arbeitsplatz in diesem Verwaltungszentrum ohne einen eigens dafür abgestellten Bildschirmschoner. Wer sowieso den ganzen Tag in verrauchten Kneipen herumsaß, würde künftig als Barhocker sein Brot verdienen, wer mit einem Zollstock umgehen könnte, hätte eine Chance, sich als Brotmesser zu verdingen. „Aber ob man daraus auch Vollzeitarbeit machen kann?“ Oberschmidts Einwand schien nicht ganz unberechtigt. Doch in synergetischer Teamarbeit kam der rettende Gedanke schnell. „Man müsste“, entwickelt ich meine Arbeitsmarktvision, „einfach zwei uhrzeitabhängige Halbtagsjobs miteinander verbinden – tagsüber Sonnenanbeter, nachts ein Sternenbanner.“ Der frenetische Applaus in der Runde gab mir Recht.

Der Funke war übergesprungen. Schon reichten die Verwaltungsfachleute ihre Berufsbilder von Briefbeschwerer und Deckenfluter, Mauszeiger, Sattelschlepper und Drahtzieher untereinander weiter. Befriedigt nickte ich die Vorschläge ab. Schließlich erhob ich mich von meinem Sessel, fasste die Ergebnisse der Dienstbesprechung in einem kurzen Schlusswort noch einmal zusammen und versprach, sie so schnell wie möglich in einer informellen Dienstanweisung über das Intranet an die zuständigen Abteilungen zu kommunizieren. Ein kurzer Händedruck, mit dem wir die Entente besiegelten, dann brach man in bester Laune auf. „Ach, ehe ich es vergesse“, fasste ich Rotwängler am Arm, „hier lag noch dieses Antragsschreiben herum. Könnten Sie das freundlicherweise auf dem Rückweg bei der Bauaufsicht einwerfen? Man weiß ja nie – wenn man hier nicht alles ständig im Auge behält, gibt es die größte Verwirrung.“