Ein Jahr nach Winnenden, unter dem Eindruck zahlloser missbrauchter Kinder, die Nation hockte wieder einmal ratlos im Gehäuse, hatte Angst, weil ihr davon niemand ausdrücklich abgeraten hatte – es ergab sich so – und suchte einen Schuldigen. Die Arbeitslosen hatte der Außenminister gerade kaputtgespielt, die Kommunisten waren für die Wahl in Nordrhein-Westfalen reserviert, Ausländer – die Ausländer – waren viel zu unspezifisch, zumal es sich nicht gerechnet hätte, die deutsch-dänischen Beziehungen für einen kurzfristigen Propagandaerfolg der Regierung zu ruinieren. In einem pawlow’schen Anfall ließ der Freizeitpsychologe Pfeiffer die Presse wissen, dass die Gewaltexzesse krimineller Banden aus der Kenntnis von Killerspielen herrühre. Damit hätte man das Kapitel abschließen können, auch wenn die Hells Angels protestierten. Mit Ballercomputern gäbe man sich gar nicht erst ab. Eine Zwickmühle. Denn nicht, dass ein hirnrissiger Vergleich eines unqualifizierten Pensionärs den Sündenbock zum Gärtner machte, war der Skandal. Den Rockerclub gab es seit mehr als sechzig Jahren.
Hektische Überlegungen folgten. Ausgerechnet die der deutschen Regierung just so eng vertraute Schweiz schoss quer und schleifte ein Spielverbot durch den Ständerat. Sensible Naturen unter den Waffenbesitzern befürchteten schon, man würde mit dem Finger auf sie zeigen und sie zu spontanen Schießereien zwingen. Durfte man einen Teil der Staatsbürger einfach schutzlos den Diffamierungen einer enthemmten Öffentlichkeit preisgeben?
Rettung nahte aus konservativen Kreisen. Während andere noch ihre Vorurteile nach Preisen sortierten, hatten fortschrittliche Rückschrittskräfte um den Vorsitzenden der Bischofskonferenz bereits hatten den Feind ausgemacht. Negermusik, erklärte Erzbischof Zollitsch, sei noch immer und an allem Schuld gewesen. Dies Dogma gelte seit nunmehr fast sechzig Jahren, also und da es bekanntlich nur von allen denen bestritten würde, die ohnehin böse seien und zufällig selbst Negermusik hörten, sei der lückenlose Beweis erbracht. Die Klänge einer gottlosen Generation seien es, die die Saat der Gewalt hätten aufkeimen lassen.
Horst Seehofer und Bushido zogen sich nach Wildbad Kreuth zurück, bevor sie ihre gemeinsame Presseerklärung verschickten.
Nichts hielt nun die Gesellschaftspfleger davon ab, die Republik von Schmutz und Schund zu befreien. Einige Saubermänner übertrieben es zwar deutlich, indem sie allnächtliche Verbrennungen missliebiger Artikel auf öffentlichen Scheiterhaufen forderten, doch die christlichen Parteien lehnten diese Forderung im Bundestag rundheraus ab; die Kanzlerin ließ sich aus Klimaschutzgründen nur zu wöchentlichen Autodafés überreden und selbst das nur, wenn die Wiederverwertung nicht vermiedener Abfälle gesichert sei. Der Koalitionspartner indes ging weiter, schon um die immer noch ausstehende soziale Frage endlich vom Tisch zu bekommen. Guido Westerwelles Beschäftigungsprogramm Sozialistische Aufklärung für Ein-Euro-Jobber fand rasch Anklang bei der Bevölkerung, weil das Kürzel SA vielen Mitbürgern noch in angenehmer Erinnerung war. Auch die kulturelle Bereicherung war deutlich zu spüren, das Kampflied Bau ab, bau ab gehörte von da an zum deutschen Alltag. Selbstverständlich achtete die Bundesregierung darauf, dass die Zeilen „Für eine bessere Zukunft richten wir die Heimat zugrund’!“ nicht mit undeutschen Rhythmen unterlegt waren. So rückte die Nation in wohliger Wärme zusammen.
Es schlug die Stunde der Denker. In einer messerscharfen Analyse wies Bettina Röhl, die große alte Dame der Vulgärsoziologie, nach, wie die 68-er die Swingjugend hervorgebracht hatten, der sie die Schuld am Scheitern von Stalingrad gab. Auch die katholische Kirche nahm die Moralübung begierig auf. So stellte die Bischofskonferenz fest, das afroamerikanische Getrommel habe bei vielen Kindern und Jugendlichen bereits verheerende Wirkung gezeitigt; sie seien inzwischen derart verroht, dass sie sich unschuldigen Pfarrern in unsittlicher Weise genähert hatten. Das komplette Archiv des ZDF stand vor einer Generalrevision; Roland Koch nahm sich der Aufgabe selbstlos an.
Daneben galt es vorwiegend, Plattenläden und Antiquariate auszumisten, da dort der Schund der Vergangenheit noch haufenweise lagerte. Dennoch rief das sittenreine Kontrollgremium zu maßvollem Durchgreifen auf. Während Little Richards Tutti Frutti in historischen Originalaufnahmen von eifrigen Bürgern auf dem Pflaster zertreten wurde, ließ man die gleichnamige Fernsehsendung ungeschoren. Negative Einflüsse der allenfalls drittrangigen Hintergrundmusik waren hier nicht zu bemängeln gewesen.
Mag es sein, dass die Bekämpfung gewalttätiger Umtriebe etwas aus dem Ruder lief, denn an einem lauen Frühlingsabend geriet Christian Pfeiffer selbst ins Visier der Fahnder. Eben noch hatte er heimlich zersetzenden Unflat in seinen Schrank geräumt – es sickerte durch, man habe ihn auf frischer Tat ertappt, eine Doppel-LP von Hazy Osterwald in den Händen – da stürmte die Truppe das Haus. Während ein Teil den Ex-Politiker krankenhausreif prügelte, verwüstete der Rest der Rotte vorsorglich das Haus. Noch leierte der Plattenspieler: Schuld war nur der Bossa Nova. Die Nadel kratzte kreischend über das Vinyl, dann war Stille. Man hatte, so der Sprecher des BKA, vermutlich einen Amoklauf verhindert. In letzter Sekunde.
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