
Gernulf Olzheimer
Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.
Der Mensch, er häuft Erfahrungen an, um aus deren Unterschied und Gemeinsamkeit sich eine praktikable Gebrauchsanweisung für die Welt außerhalb der Kalotte zu häkeln. Blau ist kalt, rot ist heiß – solche Erkenntnis prägt, strukturiert und macht fit für den Alltag, auch wenn interimsmäßig Freund Alkohol die Birne blockieren oder Hormone den Weg der Denkkrümmung einebnen sollten. Jedoch adelt den höheren Säuger das Einarbeiten der Komponente Echtzeit in den intellektuellen Prozess, der Ich-Hier-Jetzt-Nullpunkt gewinnt rasch an Bedeutung, wo er die richtigen Fragen stellen lässt. Wer beim Sprung vom Beckenrand feststellt, dass bis gestern definitiv noch Wasser drin gewesen sein muss, hat mit dem Update zu lange gewartet und bricht sich die Gräten nicht zu Unrecht. Wer auch noch den Aufprall ignoriert, macht sich der Nostalgie verdächtig.
Nostalgie, das ist die bekloppte Schwester des Heimwehs; sie wünscht uns auf einen beschissenen, kleinen Planeten zurück, der nie auch nur in einem Paralleluniversum herumexistierte. Alles, was sich seit der guten alten Zeit (nach der Scheidung, mit dem neuen Jahrtausend, vor dem Hintergrund einer sich verfestigenden Erdkruste) verschoben hat, hing zwingend am Bezugssystem und beweist, dass die gute alte Zeit möglicherweise alt war, aber mehr auch nicht. Der penetrant rosafarbene Qualm im Langzeitgedächtnis ist selbst schon eine Illusion, denn hinter ihm verbirgt sich: nichts. Das Paradies, als das sich Erinnerung versteht, aus dem die sich bürgerlich gerierenden Schimmelschädel nicht vertrieben zu werden wünschen, ist Vorspiegelung dessen, was falsch, aber nie Tatsache war – sonst wäre es ja nicht falsch – und die seitenverkehrte Form sinnloser Zukunftsträume.
Das Retro-Modding, das wörtlich den Schmerz am Vergangenen bedeutet, macht eben diesen zu seiner eigenen Therapie; logisch, bei Kopfweh hilft es ja auch, ordentlich mit dem Schädel an die Wand zu ballern. So hält sich der Erfolg fetischistischer Befassung mit dem Perfekt auch in Grenzen, die Bastelstunde mit Leichenteilen gebiert, wie denn auch, kaum Neues. Der Bekloppte wird von seiner Vergangenheit bewältigt, mehr passiert nicht. Das namenlos Schöne, in konkrete Form geschwiemelt – früher waren die Brötchen billiger, das Wetter war besser, die kleinen Mädchen trugen noch Röcke und die Polizei schoss in die Menge – dient nur dazu, das eigene Koordinatensystem zu synchronisieren mit verpfuschter Unschuld und ramponierten Tugenden zu einer rücksichtslosen Beschönigung des Wertlosen: keiner gäbe je zu, eine völlig überflüssige Randexistenz als Beknackter in einem Haufen von Bescheuerten an die grenzenlose Blödheit des puren Daseins verschleudert zu haben, nicht wesentlich wichtiger als eine Fruchtfliege, die man zwischen den ungewaschenen Fingern zerreibt, weil man ihr Fetzchen Bewusstsein für weniger bedeutsam hält als seine eigene Knallchargenrolle in einer Population freischaffender Mehlmützen, die versehentlich geboren werden, lächerliches Schuhwerk tragen, zu beschränkt sind für Graphentheorie oder Seerecht und dann unter zu viel Geräuschentwicklung erheblich zu spät den Sauerstoffverbrauch einstellen.
Um professionelle Nostalgiker stufenweise in den Wahnsinn zu treiben, den Hauptdarsteller in einem Hieronymus-Bosch-Gemälde erleben, lohnt es allemal, sie konsequent in diese Spirale der ewigen Heimkehr zu stoßen, die beim Einstrudeln gleich einer Regression in den Mutterleib Schritt für Schritt in der Zivilisation zurückstolpert: der Gegenwartsmensch preist die 80-er Jahre, der Achtziger die frühen Siebziger, der 68-er die Vorkriegsepoche, der die Kaiserzeit, und über Biedermeier, Frührenaissance und spätrömische Dekadenz landet der Betrachter im Hirn einer Dungmücke, die gerne Pantoffeltierchen wäre, um sich nicht ständig ein paar Tausend Namen für die Eier merken zu müssen. In ebendiese Kerbe drischt der Behämmerte, der das Archaische aufpustet, bis es sich zum Götzen eignet – ein Instant-Mythos, so windschief wie unausgegoren. Alles das dient allein der Biografiebereinigung, denn in einem quasi keimfreien Idyll voller Rosen und Puschelquark ist alles moralisch, politisch, ästhetisch und sonst wie dufte, der Bescheuerte selbst ein Mustermann vor dem Herrn und über jeden Zweifel erhaben perfekt, weil die Verhältnisse ihn so erschaffen haben. Erst mit dem Einbrechen der beschissenen Wirklichkeit in dies untadelige Sein beginnt der Niedergang, und er entschuldigt alles, was der Dumpfmull an Wirrsinn denkt, sagt, tut, lässt oder duldet, kurz: die aus Unsinn zusammengezimmerte Vita des typischen Brezelbiegers von nebenan. Er stemmt sich verzweifelt gegen die ihm eigene Unzulänglichkeit, gegen das Allzumenschliche, gegen die präexistierende Vergänglichkeit. Das ist sein gutes Recht. Dennoch geht er allen anderen damit auf die Plomben. Und er kriegt es nicht weg. Auch wenn wir uns bald schon zurücksehnen werden nach dem, was übermorgen gewesen sein wird. Denn Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie nie war.
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