Der Nächste, bitte!

29 03 2010

„Und der Nächste, bitte!“ Während ich an Keudells Schreibtisch Platz nahm, ordnete der Beamte noch akkurat seine Papiere und spitzte seinen Bleistift hingebungsvoll im kurbelbetriebenen Apparat nach. „Holen Sie schon mal Ihren Antrag raus“, sprach er geistesabwesend, „dann kann ich gleich sehen, ob ich Ihre Bewilligung gleich heute weitergebe oder ob Sie vorher noch…“ Ich überlegte, ob ich ihn unterbrechen sollte, aber da hatte er seinen Irrtum auch schon selbst bemerkt. „Bitte vielmals um Entschuldigung! Es ist aber auch ein Betrieb hier – rein zu toll, sage ich Ihnen, rein zu toll. Aber so ist das eben, sie wollen alle nicht arbeiten, keiner von denen will arbeiten. Wenn die mit der Energie, mit der sie sich vor der Arbeit drücken, die Ärmel hochkrempeln und anpacken würden, ich sag’s Ihnen, Deutschland wäre ein Paradies! So sind sie, was soll man machen.“ Er seufzte tief. „Wir können uns die Politiker nun mal nicht aussuchen.“

Die Liste war umfangreich, unlogisch aufgebaut und zu allem Überfluss auch noch von Doubletten gespickt, kurz: ganz genau das, was man von einem Bundesministerium erwartete. „Warum machen Sie sich eigentlich diesen Umstand? Das hat es doch früher auch nicht gegeben.“ Wieder stöhnte Keudell und faltete die Hände. „Der Kündigungsschutz wird gerade wieder einmal gestrafft, das heißt: das, was davon übrig geblieben ist.“ „Kündigungsschutz? Gibt es den noch?“ Er nickte. „Die so genannte Deregulierung ist das neue Zauberwort.“ „Davon hatte ich auch schon gehört“, bestätigte ich, „sie macht wettbewerbsfähig und schafft sofort neue Arbeitsplätze und ist ein großer Anreiz für Investitionen…“ „… und führt dazu, dass dieselben Idioten sich immer wieder neu auf irgendwelche Jobs bewerben, von denen sie keine Ahnung haben. Der Albtraum aller Personalchefs.“ „Immerhin müssen Sie zugeben, dass man wesentlich schneller Leute wieder einstellt, wenn man weiß, dass man sie bei schlechterer Auftragslage auch wieder entlassen kann.“ Keudell schüttelte den Kopf. „Falsch. Blödsinnig und falsch. Man entlässt nicht jemanden, mit dessen Arbeitsleistung man zufrieden ist, weil man fürchtet, dass eine gute Arbeitskraft bei der Konkurrenz unterkommen könnte. Man entlässt Niedriglöhner, weil man weiß, dass man dieselben Leute auf den alten Arbeitsplatz setzen kann, und zwar für einen Euro in der Stunde, den man noch nicht einmal selbst zu berappen braucht. Und wenn man Auftragsspitzen abarbeiten muss, gibt es Leiharbeiter. Erzählen Sie mir keine Märchen.“ „So hat es aber das Arbeitsministerium gesagt“, begehrte ich auf. Keudell fletschte die Zähne. „Eben“, knurrte er, „genau darum.“

Er griff in den großen Stapel hinein und zog treffsicher ein Blatt Papier hervor. „Es gibt sowieso nur noch befristete Verträge, und dann soll es auch noch möglich sein, die Kräfte ohne jeden Grund vor die Tür zu setzen.“ „Das ist ja heute schon fast der Normalfall“, bestätigte ich, „die Hälfte der neu geschlossenen Arbeitsverträge sind inzwischen befristet.“ „Mit dem Ergebnis, dass es den Arbeitnehmern auch völlig egal ist, wo ihre Firma steht – rausgeworfen werden sie sowieso, arbeitslos werden sie ohnehin irgendwann, es ist nur eine Frage der Zeit, also wozu noch Engagement für die Wirtschaft?“ Keudell raufte sich die dünnen Haare. Ich legte tröstend die Hand auf seinen Arm. „So schlimm wird’s doch nun auch wieder nicht sein.“ Er ächzte. „Sie machen sich ja gar kein Bild, was da auf uns zukommt. Auf die ganze Gesellschaft.“

Die Akte auf seinem Schreibtisch war der Vorgang von Franz Josef Jung. „Typisch – wieder so eine lückenhafte Erwerbsbiografie. Hier mal ein bisschen als Verteidigungsminister gejobbt, da hat’s von der Qualifikation her nicht so ganz gereicht, dann als Arbeitsminister, und jetzt darf er nur noch die Aushilfstätigkeiten machen. Das kann doch nicht gut gehen! Am Ende haben wir wieder diese Löcher in der Rentenversicherung und die Politiker kommen bei uns an, weil ihre Grundsicherung nur knapp oberhalb der Armutsgrenze liegt.“ Er riss den Zettel mit einem Knall zur Seite und schlug den nächsten Vorgang auf. „Oder hier, Ursula von der Leyen. Die hat uns das ganze Trauerspiel überhaupt erst eingebrockt!“ „Sie meinen, weil sie das mit den befristeten Arbeitsverträgen so im Koalitionsvertrag haben wollte?“ „Koalition, Schmoalition“, grantelte Keudell, „sie hält es auf keiner Position aus. Und sie sucht sich immer das aus, wo sie irgendwas mit Kindern machen kann, was dann aber nichts mit Kindern zu tun haben darf und den Kindern auch nichts bringt.“ „Dafür ist ihre Stelle aber auch schnell wieder frei, wenn Sie sie loswerden wollen. Betrachten Sie es positiv: das macht Platz für neue Investitionen.“ Er murrte noch immer. „Und dann die mangelnde Motivation für die Lebensplanung! Wenn Sie die heute als Arbeitsministerin einstellen, dann wissen Sie doch nicht, was sie bis morgen alles wieder kaputtgekriegt hat!“

Noch einmal blätterte Keudell um. „Niebel?“ Er nickte. „Schwieriger Fall, er hat ja nicht nur ein Problem mit der Arbeit, er hat ja auch eins mit der Arbeitsvermittlung.“ „Vermutlich weiß er, dass das alles nichts bringt“, mutmaßte ich. „Das wollen wir schon schaukeln“, wiegelte der Amtmann ab. „Schließlich sind wir der FDP auch zu großem Dank verpflichtet.“ Ich begriff nicht. Keudell schmunzelte. „Sie verhalten sich antizyklisch. Sie sind derart versessen darauf, freie Stellen mit Pensionsanspruch zu besetzen, dass ihnen die Aspiranten für die Stellen ausgehen. Ein enormer Vorteil, wenn Sie mich fragen. Sie haben eine einigermaßen gesicherte Altersvorsorge, und ich kann diese Pappmascheefiguren abhaken. Zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Keudell schmunzelte noch immer und schlug schon wieder um. „Auswärtiges – na, mal sehen. Ging ja plötzlich. Da wollen wir mal sehen, wer den Posten jetzt noch haben will.“ Und er vertiefte sich wieder in seinen Bleistiftspitzer. „Der Nächste, bitte!“