Tante Erika musste großes Glück gehabt haben. Der Geschirrschrank, der schon seit einigen Tagen leicht geächzt und sich millimeterweit von der Wand entfernt hatte, brach erst aus dem Mauerwerk und zerstörte die Anrichte, als der Erdbeerkuchen schon auf dem Fensterbrett stand. Das setzte eine ganze Reihe logischer Folgen in Gang, an deren Ende Hildegard beschloss, dass nun jemand schnellstens für neue Teller und Tassen zu sorgen hätte. Wobei ich mir schon hatte denken können, wer das sei.
„Ich kenne Tante Erika nicht einmal“, begehrte ich auf. „Genau genommen kennst Du sie auch nicht.“ „Sie hat mir zur Taufe ein Häkelmützchen geschenkt“, setzte Hildegard mich in Kenntnis, „das wollen wir doch bitte nicht vergessen.“ „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, das war das einzige Mal, dass Ihr einander begegnet seid.“ Sie funkelte mich an. „Meine Verwandtschaft war Dir ja schon immer egal!“ Was richtig war, beruhte es doch auf herzlicher Abneigung seitens ihrer Familie. Der einzige, der an mir Anteil nahm, war ihr Vater. Zu Ostern noch hatte er mich wissen lassen, dass er sich einen Schwiegersohn wünschte, einen, der völlig anders wäre als ich.
Der Verkäufer in der Haushaltswarenabteilung war bemüht. „Natürlich ist das spülmaschinenfest. Und dann hätten wir natürlich auch noch ein eher zeitgemäßes Dekor, wenn Sie einmal schauen möchten?“ Er zeigte uns eine Kollektion eckiger Teller mit lila-gelb-orangefarbenem Rand; mein Spannungskopfschmerz kam zurück. „Sechsteilig“, informierte er uns. Hildegard beäugte es kritisch. „Es war an sich eher für eine ältere Dame gedacht.“ „Ach so“, reagierte der Geschirrmann, „sagen Sie es doch gleich! Da haben wir gerade die Serie Emsland im Ausverkauf, wenn Sie einmal schauen möchten?“ Es handelte sich um ein zwölfteiliges Konvolut in Rosé, entworfen von der Bundeskoordinationsbehörde zur rechtwinkligen Ausrichtung von Magengeschwüren. „Wundervoll“, krächzte ich, „ganz bezaubernd. Was meinst Du?“ Hildegard verzog keine Miene. „Das schenkst Du ihr. Ich werde mein Erbteil mit so einem Kitsch jedenfalls nicht aufs Spiel setzen.“
Daher also wehte der Wind. Na warte, dachte ich mir. So haben wir nicht gewettet! „Schön“, wandte ich mich an den Verkäufer, „sehr schön. Haben Sie etwas Vergleichbares mit Maiglöckchen und Goldrand?“ Hildegard biss sich auf die Zunge. Vermutlich würde es bei passender Gelegenheit fliegende Untertassen geben. „Unbedingt Goldrand! Tante Erika schätzt das bestimmt sehr!“
Ich hatte Mühe, sie auf der Straße einzuholen; Hildegard stapfte mit hoch erhobener Nase vor mir weg. „Wir können ja immer noch zu Öchselmann. Der hat sich auf antikes Geschirr spezialisiert.“ „Auf unverschämte Preise auch“, fauchte sie. „Ich will jetzt auf der Stelle ein neues Service für Tante Erika!“ Ich schlug als Alternative den Besuch des Straßenflohmarkts vor, doch sie bleckte nur die Zähne. „Ich will in einer Stunde ein vollständiges Teeservice! Haben wir uns verstanden?“ Da waren wir auch schon. Ich hielt ihr die Tür auf.
„Sie wünschen?“ Mit unendlicher Herablassung blickte Herbert Öchselmann erst an mir, dann an Hildegard hinab. „Wir kommen um ein Teeservice“, begann ich die Verhandlung. Er fiel mir sofort ins Wort. „Wir haben da einige Restposten. Gucken Sie halt, ob Sie sich das leisten können, aber machen Sie gefälligst nichts kaputt.“ Mir lag die Antwort schon auf der Zunge, da blickte ich plötzlich in ein vertrautes Gesicht. „Das ist eine Überraschung!“ Sonst hätte ich auf Husenkirchen gerne verzichtet, hier jedoch kam er mir ganz gelegen. Galant gab er Hildegard einen Handkuss. „Lassen Sie sich nicht stören“, schwafelte der Staatsanwalt, „ich hole nur eine Kleinigkeit für Kollegen Tummermann, seine Tochter wird am Sonntag getauft.“ Ein anmutig kleines Becherchen ruhte in seiner Hand, darauf in Silber getrieben heiteres Schäfervolk sich im Tanze drehte. Ich griff nach einem Stück in der Auslage. „Sie interessieren sich für Porzellan?“ Bevor sie etwas sagen konnte, hatte ich Hildegard auf den Fuß getreten. „Ein kleines Mitbringsel für eine liebe Verwandte – man schenkt sich ja so selten edle Dinge, nicht wahr?“ „Ein Schöngeist“, nickte der Jurist, „da kann ich Sie wirklich beglückwünschen. Wie ich hörte, möchte Ihr Herr Vater auch bald eine Vermählung, Gnädigste?“
Inzwischen hatte ich die Untertasse genauer in Augenschein genommen. Dem Schildchen nach war sie zu Lebzeiten des seligen Josiah Wedgwood entstanden, wunderhübsch und filigran. Deliziöses Rankenwerk umschmeichelte den Rand. Sanfte Blumen äugten darin. Lieblich krümmte sich an der Unterseite der Schriftzug Made in the People’s Republic of China.
„Herr Staatsanwalt“, sagte ich, jede Silbe einzeln betonend, während ich den Daumennagel an die entscheidende Stelle hielt, „das ist doch mal ein ausgesprochen gut erhaltenes Stück.“ Öchselmann schwitzte. „Aber dieses Zwiebelmuster ist doch wirklich auch interessant. Komplett, wie ich sehe?“ „Das ist unverkäuflich“, würgte der Antiquar hervor. Ich ließ die Brille ein kleines bisschen tiefer auf die Nase rutschen. „Ich wollte natürlich sagen: nur für echte Liebhaber.“ Zwischen den Fingern drehte ich noch immer die Teller-Mine, bereit, die Sache auffliegen zu lassen. „Wir werden uns da schon einig, Öchselmann“, sprach ich sanftmütig. Hildegard war von dem alten Charmeur inzwischen in ein reges Fachgespräch über das Wetter verwickelt worden. „Was wollen Sie?“ „Sie werden dies Zwiebelmuster heute Nachmittag gut verpackt bei dieser Adresse abliefern“, instruierte ich ihn und reichte ihm dazu ein Kärtchen mit Tante Erikas Anschrift. „Sie ruinieren mich“, ächzte er. „Nehmen Sie’s gelassen, Öchselmann“, tröstete ich ihn. „Bis auf das Service haben Sie ja noch alle Tassen im Schrank. Verlassen Sie sich auf meine Diskretion.“
Punkt vier hielt der Lieferwagen am Heinrich-Heine-Platz. Öchselmann hatte rasch, aber recht behutsam die kostbare Töpferware in Seidenpapier und Ummengen von Holzwolle gehüllt. Vier große Kartons schleppte ich in den dritten Stock, wo Hildegard vor Tante Erikas Etagentür wartete. Die alte Dame wusste vom Besuch ihrer Großnichte, freute sich über eine Tasse frisch gebrühten Assam und war freigiebig, was den Erdbeerkuchen betraf. Nur mich sah sie durchaus misstrauisch an. Sie guckte und guckte, dann packte sie Hildegard am Arm. „Das Sahnekännchen“, schnaubte sie voller Argwohn, „das habe ich vor 55 Jahren geerbt, da hatte es aber einen Riss über dem Henkel!“ Ihre Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, wie es bei Hildegard in der Familie zu liegen scheint. „Der Mann da führt doch etwas im Schilde.“
Was soll man machen. Der Elefant ist die Mutter der Porzellankiste.
Satzspiegel