Natürlich hatte ich sie sofort erkannt, denn sie stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus und steckte sofort den Zeigefinger in den Mund; beim Versuch, diese Getränkedose zu öffnen, hatte sie sich empfindlich den Fingernagel umgeknickt. „Frau Söbeneiner?“ Sie drehte sich schwungvoll um, wobei sie die zuckrige Zitronenlimonade größtenteils auf ihren Rock sprudeln ließ. „Sehr erfreut“, strahlte sie mich an. „Haben Sie vielleicht ein Taschentuch für mich?“ Während sie sich noch einen Nagel an der Taschentuchverpackung anriss und die Zellstofftüchlein schließlich im weiten Bogen um sich herum verteilte, bemerkte ich, dass sie ganz in Gelb gekleidet war. „Ach ja, das.“ Sie winkte ab. „Eigentlich wollte ich ja die weiße Seidenbluse tragen, wie ich es gesagt hatte, aber mir ist beim Anziehen ein Knopf abgerissen.“
Es waren nur einige Schritte bis zu den Bänken, die an der Promenade standen. Sie konnte sich gerade noch an meinem Arm festhalten, als ihr auf dem Kiesweg der Schuhabsatz abbrach und sie das Gleichgewicht verlor. „Vorsicht“, rief ich. Doch da war es zu spät. Sie hatte sich schon auf die einzige Bank gesetzt, an der noch das Schild Frische Farbe hing; aparte weiße Streifen zierten ihre Hinteransicht. „Was für ein entzückendes Wetter“, sprach sie, während ein kleiner Windstoß ihr das letzte Taschentuch aus der Hand riss. „Mögen Sie vielleicht ein Pfefferminz?“ Mit Mühe fing ich eins auf, bevor das Silberpapier sich löste und die ganze Rolle auf den Boden fiel. Siebels hatte mir nicht zu viel versprochen. Frau Söbeneiner war wirklich ein Naturtalent.
„Das ist ja das Schöne daran“, schildert sie mir, während sich das dünne goldene Kettchen um ihr Handgelenk heillos in der Schließe ihres kleinen Täschchens verhedderte, „dass ich das alles gar nicht spielen muss. Es passiert einfach so, ich muss ja gar nichts dazutun.“ Schon war das Armband gerissen. „Wie hat man Sie denn entdeckt“, fragte ich, „haben Sie sich etwa bei einem Talentscout beworben?“ „Ach nein“, lächelte sie. „Es war gar normal. Ich stand an einem Bratwurststand und versuchte, eine Bockwurst mit Senf zu essen. Schräg gegenüber war dieser Agent, der mir seine Karte zusteckte. Schon einen Tag danach haben wir die ersten Probeaufnahmen gemacht mit einer Zahnpastatube. Sie haben mich vom Fleck weg engagiert.“ „Seitdem machen Sie das beruflich?“ Sie nickte. „Ich habe mich spezialisiert.“
Ihr Versuch, das Armkettchen aus der Handtaschenschließe herauszupfriemeln, führte dazu, dass der vollständige Inhalt ihrer Handtasche – Puderdöschen, Lippenstift, eine Busfahrkarte, ein großes Päckchen Heftpflaster, Klappspiegel, ein Kugelschreiber, ein Schlüsselbund, ein Tübchen Handcreme und das Portemonnaie, das sich genau in dem Augenblick mit der Öffnung abwärts auftat, als sie es fangen wollte – zwischen die Ritzen der Sitzbank fielen, unter der zwar glücklicherweise nur Sandboden lag, der jedoch unglücklicherweise just zuvor gesprengt worden war. Nasse Flecken zierten meine Knie. Frau Söbeneiner nickte mitfühlend. „Ich kenne das, glauben Sie mir. Unschön. Manche sagen, nach einer Viertelstunde färbte ich ab.“
Während sie die Überreste des Lippenstiftes vorsichtig in die Hülse zurückdrehte, sammelte ich die Splitter des Handspiegels auf. Da lag auch die Schraube, die aus ihrem Brillengestell gefallen war. „Übrigens liegt das bei uns wohl in der Familie“, teilte sie mir mit. „Kennen Sie diese Werbung für Kopfschmerztabletten? Diese neue?“ Ich meinte, mich erinnern zu können. „Das ist Hubert, mein Vetter. Er hatte immer schon eine leichte Neigung zum Hypochonder. Zuerst wollte er ja Schauspieler werden. Dann fiel er mit der Darstellung eines Bandscheibenschadens im Kreiswehrersatzamt auf, er fiel sogar durch die Musterung – ein Star war geboren! Inzwischen macht er großartige Reklame damit. Seine Paraderolle ist übrigens Sodbrennen. Wissen Sie, wenn er Sodbrennen hat, verkauft der Imbisswagen am Studio keine Currywurst mehr.“
Wie ich sie so von der Seite betrachtete, fiel mir eine gewisse Ähnlichkeit auf. „Sagen Sie“, begann ich vorsichtig, „Sind Sie etwa mit einer gewissen Hermine Buttersäckel verwandt?“ Sie errötete. „Ja, sie ist meine Großtante. Wie gesagt, es liegt in der Familie bei uns.“ Und dabei war jene Hermine Buttersäckel bis heute unerreicht als Vorher-Modell; keine hatte auf Kommando so struppiges Haar, das sich nicht einmal mit einer Drahtbürste frisieren ließ, und niemand verfügte über einen Teint, der auf Bestellung fleckig, bleich, fettig werden konnte, spröde, matt und runzlig. Weniger Erfolg war ihr beschieden, als sie die Großmutter gab, die ihren Enkeln die falsche Schokolade mitbrachte und den Gästen nicht den richtigen Kaffee aufzubrühen wusste, so dass Martha Grappschneider, die Gattin eines Kameramannes, mit einem besserwisserischen „Da nimmt die kluge Hausfrau eben Kauzmanns Kräftigen, den mit der Vorzugsröstung“ sich einmischte, und alles war wieder gut, nur dass bis heute kein Mensch eigentlich wusste, was um alles in der Welt denn nun Vorzugsröstung sei.
Sie erhob sich, wobei sie mit dem rechten Bein an der Strumpfhose ein wenig an der Sitzbank hängen blieb; die Folge war eine erhebliche Laufmasche in den Nylons. „So, ich muss jetzt aber wirklich – es steht noch einiges an. Gleich werde ich einen Käsekuchen nicht aus der Springform bekommen, dann kann ich Fischstäbchen nicht in der Pfanne wenden, und heute Abend habe ich noch einen Wasserrohrbruch. Wünschen Sie mir Glück!“
Satzspiegel