Keine Experimente

23 06 2010

Es war dann doch alles sehr schnell gegangen, als der Euro abstürzte. Die Ruinen rauchten noch, ein neuer Bundespräsident war weit und breit nicht in Sicht, und die Bundeskanzlerin tat in einem Reflex aus Versehen das einzig Richtige: sie übernahm die Regierungsgeschäfte. Auch wenn in der gefühlten Schlussphase des bürgerlich-liberalen Kleinkriegs nichts mehr auffiel, da das Kabinett inzwischen täglich, meist kurz nach der Mittagspause, einen raschen Neustart verkündete. Angela Merkel kannte keine Deutschen mehr – was niemanden wunderte – und auch keine Parteien.

Aus Bequemlichkeitsgründen hatte man zuerst den guten alten Koalitionsvertrag aus der Schublade geholt und mit einem neuen Titel versehen: Freiheit im Sozialismus. Damit war der größte Teil der Zukunftsarbeit getan, zumindest für Guido Westerwelle; bei einem einheitlich bemessenen Durchschnittssteuersatz, dem nur die Avantgarde des Proletariats sich durch Gesetz entziehen konnte, waren sämtliche Positionen erreicht, für die er je gestritten hatte. Als stellvertretender Vorsitzender der Union des Demokratischen Sozialismus, einer Neugründung aus altem Regierungsmaterial, befasste sich der Ex-Liberale nun vornehmlich mit Sonntagsreden.

Das Volk begriff schnell, wobei vor allem die Bürger aus den alten Bundesländern sich für die Segnungen eines allumfassend sorgenden Staates erwärmen konnten. Politik wurde nicht betrieben, aber der Dauerwahlkampf, der sich wie Mehltau auf das Land gelegt hatte, nahm ein Ende. Das neu ins Amt gerufene Präsidialpolitbüro, deren Vorsitzende Merkel die ehemalige Kanzlerin in den Staatsrat berief, wo sie von der ehemaligen CDU-Chefin in einstimmiger Entscheidung zur Vorsitzenden gewählt wurde – die anderen hatten sich auf Heiner Geißler geeinigt, der als Erzfeind der CDU scharfe Ablehnung erfuhr – ernannte zunächst die Minister. Auf die Wahl von Stellvertretern wurde zunächst verzichtet; die Staatsratsvorsitzende fühlte sich sicherer, wenn die zweite Reihe hinter ihr leer blieb.

Die Medien erstatteten fleißig Bericht, wenn auch nach der Ausgliederung Deutschlands aus der internationalen Informationsgemeinschaft ein wenig das Material ausging. Das deutsche Fernsehen, das deutsche Internet bemühten sich, die Reste der deutschen Fußball-Weltmeisterschaft an den Mann zu bringen, wobei wegen der Meinungsvielfalt die Sichtweise der Partei als die einzige notwendig war, um das Publikum auf dem Laufenden zu halten. Zwar waren andere Sichtweisen als diejenige des Bundesinnenministeriums nicht direkt verboten, sie durften auch geäußert werden, sogar im Fernsehen, aber nicht mehr im deutschen. Einzig den Zeitungsverlagen machte das nicht viel aus; sie hatten bereits vorher freundlich darum gebeten, gleichgeschaltet zu werden. So teilten sie die Einnahmen der deutschen Urheber unter sich auf und waren’s zufrieden.

Auch SPD und Grüne ließen sich von den Visionen der Staatsratsvorsitzenden anstecken; sie bemerkten tief in ihren Parteiprogrammen noch ein Glimmen der Positionen, die die neue Gesellschaft jetzt vertrat. Allein die Linke verweigerte sich standhaft jeglicher Kooperation und wollte keine Experimente, nicht aus Gewohnheit, man war es auch der Wählerschaft schuldig, die mit den PDS-Nachfolgern das gute Gefühl hatte, etwas für den Sozialismus zu tun – und gleichzeitig zu wissen, dass er mit denen garantiert nie kommen würde.

Erste Erfolge kamen nach herben Rückschlägen; noch war allen in Erinnerung, wie Westerwelle bei der Zwangsvereinigung mit den Linken gescheitert war. „Ihr“, keifte der glühende Marx-Verehrer den Besuchern des inneren Bundesparteitags entgegen, „kauft mir den Sozialismus nicht ab!“ Noch rieben sich manche die Augen, wie schnell aus Sau- ein Paulus werden konnte, und nur wenige begriffen, dass bereits in der mildtätigen Zuwendung an die volkseigenen Übernachtungsbetriebe ein Keim von freundschaftlicher Solidarität mit von Verarmung bedrohten Subventionsempfängern steckte. (Andere meinten, die Versorgung in der UdDSR für Bonzen und Parteiapparat sei nur eine Fortsetzung der Hotelgeschenke und dazu noch übertrieben.) Auch das überlebensgroße Standbild in Wandlitz, die spätrömisch-golden gefasste Doppelstatue von Angela und Guido führte hinter vorgehaltener Hand zu leiser Kritik, vor allem bei den ehemals christ-sozialistischen Staatsratsmitgliedern. Doch leicht war das deutschen Volk wieder zu besänftigen in eitel Sonnenschein, wie es feststellte, dass sich alles, auch die schönsten Erinnerungen an die Zeit des Aufbaus, wiederholen kann, wenn nur die rechte politische Führung am Ruder ist. Es gab keine Bananen mehr.

Abend senkte sich über den Majakowskiring, wo die Staats- und Parteiführerin nach einem langen Tag mit den Singe- und Propagandagruppen der FDJ in Bautzen noch schnell alte Akten unter dem Teppich verschwinden ließ. Die deutsche, hübsch und demokratisch anzuschauende Republik war ein gelungener Schlussstein ihres politischen Lebenswerks und sollte nun, bei guter Pflege, über vierzig Jahre lang halten. Die Bundeskammer hatte noch schnell das Beschäftigungsprogramm zur inoffiziellen Bürgerarbeit durchgedrückt, dem Staatssicherheitshaupt würde das Personal so schnell nicht wieder ausgehen. Vielleicht, so dachte sie sich, war jetzt auch die Vision des Dicken in der Wirklichkeit geworden: Abwärts immer, aufwärts nimmer.