Katharsis

24 06 2010

Ein schriller Schrei gellte durch den Korridor, dass mir das Blut in den Adern gefror – mein Atem stockte, als dann mit ohrenbetäubendem Krach etwas auf den Boden geschmissen wurde. Zaghaft klopfte ich an die Türe. Doktor Pflauderer öffnete sofort und führte mich durch den Raum. Ein Mann hockte dort am Boden, keuchend und verschwitzt, vor ihm ein Haufen dessen, was wohl einmal ein Porzellanservice gewesen sein muss. Der Therapeut strich dem Erschöpften über den Scheitel. „Und, wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Besser“, stieß er hervor und japste kräftig, „sehr viel besser – das verfluchte Zeug ist ja nun auch kaputt. Endlich!“

„Unsere Kundschaft“, dozierte Pflauderer, „ist ein durchaus normaler Typ Mensch. Es kann jeder sein, dem Sie auf der Straße begegnen, Sie oder ich, keine außergewöhnlichen Charaktere. Nichts, was Sie als psychologisch auffällig ansehen müssten, keine Anwärter für die Irrenanstalt, falls Sie das denken sollten.“ „Begreiflich“, entgegnete ich. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, arbeiten Sie mit einer Art Anti-Aggressions-Training?“ „Im weiteren Sinne. Um es Ihnen an unserem ersten Patienten zu erklären“ – hier wies er auf den Verschwitzten, der inzwischen ganz fröhlich und entspannt die Scherben auffegte – „er ist ein völlig normaler Mensch, glücklich verheiratet, zwei ganz entzückende kleine Töchter, leitet den Versand bei Bottermanns Zahnbürstenfabrik, erfolgreich, ist im Kegelverein wohlgelitten, aber seine Nachbarn hassen ihn.“ „Geschirr?“ „Seine Schwiegermutter. Sie arbeitet in einer Porzellanfabrik und schleppt jede Woche ein Ess-Service an. Mindestens. Das Haus ist schon nicht mehr zu betreten.“ „Die Nachbarn beschweren sich“, mutmaßte ich, „dass er das Zeug aus Rücksicht auf seine Frau im Keller zerdeppert?“ „Allerdings.“ Pflauderer nickte. „Und es bringt ja auch nicht die gewünschte Linderung, wenn er jede Woche einen neuen Satz Teller gegen die Wand schmeißen muss. Dann soll er es lieber hier tun. Für die psychische Hygiene.“

Ein dünnes Männchen in einer beigefarbenen Windjacke stand am Schalter, hinter dem eine dicke, aufdringlich geschminkte Dame hockte. „Das habe ich Ihnen schon einmal erklärt“, giftete sie, „wenn Sie nicht passend zahlen können, dann müssen Sie an den Automaten. Postwertzeichen werden an diesem Schalter…“ „Gut so, gut so!“ Doktor Pflauderer gab ihr ein Zeichen, sich nicht stören zu lassen. „Aber der Automat gibt auch kein Wechselgeld zurück“, schimpfte das Männchen. „Und Sie haben hier, das sehe ich von hier aus, dass Sie, da hinten haben Sie das Wechselgeld, und wenn Sie mir jetzt nicht auf der Stelle eine Marke zu Einszehn geben, dann…“ „Wir bedienen uns des Rollenspiels“, belehrte mich der Seelenklempner, „um einige Situationen im zwischenmenschlichen Bereich zu bereinigen. Der kathartische Effekt ist dabei immens – warten Sie mal ab!“ Damit wandte er sich dem kleinen Männchen zu. „Jetzt lassen Sie mal Ihren ganzen Frust an dieser Frau raus – zeigen Sie ihr, dass Sie sich nicht alles gefallen lassen. Zeigen Sie ihr, dass Sie ein ganzer Kerl sind!“ Der Mann, noch etwas unschlüssig, ballte schließlich halb und halb seine Faust, er schlug auf den Schaltertisch und, etwas erschrocken noch über seinen eigenen Mut, sprach mit etwas weinerlicher Stimme zu der Frau: „Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!“ Da klatschte Pflauderer in die Hände. Glücklich und noch etwas ungläubig sah er den Psychiater an. „Wundervoll! Jetzt haben Sie’s ihr aber mal so richtig gegeben – weiter so! Nicht nachlassen!“

Wir schritten weiter durch die Räume, in denen sich die Menschen ihrer kleinen Belastungen entledigten. Hier sagte eine Frau ihrem Chef richtig die Meinung, dort zerfetzte ein Mann mit wirrem Lachen eine Batterie gekniffter Paradekissen, die ihn an seine verhasste Ex-Gattin erinnerten. „Man wird frei“, erläuterte Pflauderer, „und führt ein besseres Leben.“ Das interessierte mich. „Es ist also anzuraten, seine Aggressionen in dieser Form zu kanalisieren?“ Er winkte ab. „Aber nein! Nicht kanalisieren – das wäre der falsche Weg. Das sind die Unverstandenen, die im sozialen Umfeld nicht genügend integriert sind, sich im Schützenverein abreagieren wollen und dann, ohne Vorwarnung, Amok laufen. Man schiebt es dann gerne auf äußere Reize, weil sich eine dumme Erklärung besser macht als gar keine. Nicht kanalisieren, direkt die Aggressionen auf das Ziel richten, das sie auslöst.“ Damit hielt er mir ein Büchlein hin; ich war beeindruckt. „Das hätte ich ja nicht gedacht. Der auch?“ „So eine verlorene Wahl ist hart“, seufzte Pflauderer, „und wenn es letztlich Selbsthass ist…“

„Du blöde Sau“, knirschte er zwischen den Zähnen hervor. „Du selbstverliebtes, egozentrisches Arschloch! Du kotzt mich an!“ Dabei hieb er mit einem groben Straßenbesen auf die Stoffpuppe ein, die vor ihm auf dem Boden lag. Schon hatte er die randlose Brille mit einem Schlag zertrümmert und trat dem Balg ins Gesicht. „Du verlogene, korrupte Drecksau!“ Er hatte sich richtig in Rage gebracht und schrie auf das Stoffbündel ein. „Arbeitsscheues Subjekt! Du hochnäsiger Trottel, ich werde Dich lehren, was Respekt ist! Du elende Missgeburt!“ Er drosch in die Puppe, was das Zeug hielt. Schon flog der Kopf weg. Jetzt sprang er mit beiden Beinen dem Torso auf den Brustkorb. „Nimm das, Westerwelle! Kratz endlich ab, Du widerlicher Brüllaffe!“ „Na“, besänftigte ihn Pflauderer, „passen Sie ein bisschen auf Ihren Blutdruck auf, Sie sind ja völlig fertig!“ Da erkannte ich ihn erst. „Herr Doktor Mülschenkelch“, stotterte ich, „Sie hier?“ „Wie Sie sehen“, replizierte er, etwas außer Atem, aber ansonsten durchaus frohgemut auf den Besenstiel gestützt. Immerhin war der Apotheker seit dreißig Jahren Vorsitzender der FDP-Ortsgruppe. „Man braucht das von Zeit zu Zeit, wissen Sie? Und jetzt fahre ich ganz entspannt zum Bundesparteitag.“