05:03 – Ein neuer Tag beginnt. Die sanfte Nachtkühle weicht gemächlich der Sommerluft, die einen sonnendurchfluteten, schönen Julitag mit sich bringen wird. Es ist Ferienzeit, ganz Deutschland freut sich auf die Genüsse der heißen Jahreszeit: Strand, Eiscafés und sinnlose Aggressionen im stockenden Autoverkehr, wie die leichte Berührung des Kotflügels durch einen Radfahrer mitten auf der Berliner Kantstraße Slobodan Z. (48) dazu bringt, die Tür aufzureißen und den radelnden Rowdy zu Boden zu reißen, was dieser, ein Sportstudent und nebenberuflich Türsteher eines Techno-Clubs in Mitte, ebenso wenig duldet wie die Ankündigung des erbosten Autofahrers, sich seiner, des Radlers, Mutter sexuell zu nähern – das Ergebnis sind ein komplizierter Bruch des Nasenbeins und eine mehrdimensional diese Verletzung wiedergebende Motorhaube. Die Temperaturen steigen.
06:04 – Die Nachwirkungen der vergangenen Tage sind nicht zu verleugnen, dieser Morgen baut auf wackeliges Fundament: kaum, dass die Sechs-Uhr-Nachrichten und einige Verkehrsmeldungen über den Äther gegangen sind, moderiert Chris M. (31), der Publikumsliebling der mittleren Generation auf den Wellen von Radio Berolina, seine Magazinsendung an mit dem Versprechen auf „Greatest Hits“. Der versehentlich sofort ins Studio durchgestellte Hörer, der englischen Sprache eher weniger mächtig als der lautstarken deutschen, bringt das Ausgangssignal locker in den roten Bereich und macht für Momente die Metropole zusammenzucken vor Ohrenschmerz. Das in letzter Sekunde eingeschobene Last Christmas entspannt die Situation nicht wirklich.
06:39 – Die ersten Vorortzüge leiden unter der Hitze des Tages. Bei einer Routinekontrolle findet ein Kontrolleur den schlafenden Roman H. (19) auf dem Sitz eines Schnellbahnwaggons. Er ahnt nichts Gutes, und tatsächlich verläuft der Fall wie viele andere dieser Tage: mit vereinten Kräften müssen zwei Bahnmitarbeiter den Jugendlichen vom Sitz entfernen, dessen Kunststoffoberfläche mit der schweißdurchtränkten Hose des Volltrunkenen eine sekundenkleberartige Verbindung eingegangen war. Sie sind froh, dass sie nicht, wie es bei Rosalia T. (33) nötig war, mit der Gegenwehr des Opfers zu rechnen hatten, war doch jene stark übergewichtige Frau nur in einem luftigen, kurzen Rock und mit nackten Armen im Sitz geschmolzen.
08:05 – Die Berliner Liberalen errichten auf dem Kurfürstendamm einen Informationsstand, der überraschenderweise ganz in frischem Blau gehalten ist. Fähnchen, Plakate, Handouts und ein großer Sonnenschirm verkünden den Slogan, mit dem die Steuersenkungsversprecherpartei um Sympathie buhlt: Das kalte Grauen. Das Ergebnis ist für die FDP-Mannen, denen nach kurzer Zeit der Angstschweiß auf der Stirn steht, eine herbe Enttäuschung. Die Berliner nehmen Westerwelles Schnöselverein nichts mehr ab, und sei es auch ausnahmsweise einmal ehrlich.
09:13 – Auf der Redaktionskonferenz von BILD geht es heiß her. Während die Schlagzeilenredaktion „Super-Sonne: So heiß ist Deutschland!“ empfiehlt, versucht der Panikbeauftragte „Furchtbare Mörder-Glut: Wir werden alle sterben!“ durchzudrücken; sein vehementes Pochen auf die Tatsache, dass die enormen Temperaturen und der Druck von 200 Milliarden bar im Sonnenkern quasi sofort tödlich für einen normalen Bundesbürger wären, lassen die Stimmung langsam kippen. Kurz vor einer Kompromisslösung, die die Verantwortlichen in „Wahnsinn – die ganze Wahrheit über die Sonnengefahren aus dem Weltall!“ finden, lässt sich das Kanzleramt durchstellen. Die Direktive, mit „Sommer gewuppt! Super-Angie macht ganz tolle Vorschläge gegen die Klimaveränderung!“ zu titeln, wird wie üblich mit Kadavergehorsam umgesetzt.
10:28 – Nach der Schlappe des Nichtraucher-Plebiszits in Bayern setzt der Bundesverband der Tabakwarenhersteller ein Zeichen in Richtung Gesundheitsbewusstsein. Auf seiner Website empfiehlt er, möglichst viel Wasser zu trinken. Die sofort angestrengte Klage der Brauereiwirtschaft kommt überraschend.
11:02 – Bundesjugendministerin Schröder weiht in Marzahn einen Spielplatz ein. Die anwesenden Fotografen dürfen jedoch erst knipsen, als zwei Mitarbeiter die Kinder arbeitsloser Eltern von der Wippe und aus dem Sandkasten geschmissen haben. Sie teilt mit, das sei nicht gerecht gegenüber denen, die arbeiteten. Die Fotos werden schnell geschossen, man stellt dabei fest, dass Schröder obenherum schon recht braun ist.
11:24 – Passanten machen die Polizei darauf aufmerksam, dass Holger Apfel nun schon eine ganze Stunde lang am Potsdamer Platz seine Rede an die national gesinnten Landsleute hält. Der Sprachakrobat hat sich dazu auf die Transportkiste eines reichsdeutschen Bananenzüchters gestellt und tümelt völkisch in die Berliner Luft. Beobachter fürchten, die NPD-Figur habe sich bereits einen Hitzschlag zugezogen, denn Apfel stammelt mit hochrotem Kopf. Ein eilig hinzugezogener Notarzt kann jedoch Entwarnung geben; von einem Hirnschaden könne bei Holger Apfel nicht die Rede sein. Da sei nichts zu beschädigen.
11:55 – Auf die Minute pünktlich beginnt die Pressekonferenz der Deutschen Bahn AG, die um gute Publicity nach den hitzebedingten Ausfällen auf den ICE-Strecken bemüht ist. Leider häufen sich auch hier die Pannen. Weder sind die für die wartenden Journalisten gedachten Getränke angeliefert worden, noch hatte jemand bedacht, wie man 190 Pressevertreter in einem mit 32 Einheiten Sitzmobiliar, davon 10 für Bahn-Chef Grube und seine engsten Mitarbeiter, aufbewahren soll. Das PR-Event wird nun mit körperwarmem Apfelsaft knapp an der Grenze des natürlichen Gärprozesses im Foyer durchgezogen, da hier ausreichend Steh- und Außenplätze hinter der Frontscheibe vorhanden sind. Dummerweise wurde Rüdiger Grube nur sehr oberflächlich in die technischen Hintergründe des Projekts eingeführt, so liest er zwar flüssig von den ihm zugesteckten Kärtchen ab, stellt aber den erstaunten Zeitungsschreibern eine Aktion vor, bei der die Bahn pro Grad Celsius einen Euro teurer wird. Die Sache verläuft unbefriedigend.
12:18 – Die Wirtschaft muss sich den Gefahren einer neuen globalen Krise stellen, wie sie die Klimaveränderung darstellen dürfte. Arbeitgeber und Kapitaleigner, Industrie und Innere Sicherheit müssten nun an einem Strang ziehen, so Funktionär Dieter Hundt. Die volkswirtschaftlichen Kosten der durch die Erderwärmung hervorgerufenen Schäden seien noch gar nicht zu beziffern, man müsse also vom Schlimmsten ausgehen; auch die Folgekosten für den Krankenstand, der ausschließlich aus dem Verschulden erkrankter Arbeitnehmer resultiere, dürfe man jetzt nicht verschweigen. Das einzige Mittel, um das ungebremste Wachstum der Aktien an ausländischen Finanzplätzen zu beschleunigen, sei konsequenter Lohnverzicht – man könne vorerst mit einer Kürzung um 100%, befristet bis 2050, eine relative Planungssicherheit erreichen.
13:37 – Erste Anzeichen einer parlamentarischen Arbeit sind spürbar. Die Gerüchte, die Regierung wolle zur Haushaltssanierung eine Hitzesteuer einführen, werden vom Bundesfinanzministerium empört zurückgewiesen. Diese Meldung entbehre jeder vernünftigen Grundlage.
13:40 – Der zwischenzeitlich veröffentlichte Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministers sieht vor, die Steuer einzuführen, sie jedoch nur auf Sozialleistungen und kleine Renten aufzuschlagen. Man dürfe nicht zulassen, so Brüderle, dass die Leistungsträger in Deutschland über Gebühr mit Angelegenheiten des Staates behelligt würden.
13:46 – Das Hitzeerschwerungsbeschleunigungsgesetz werde selbstverständlich sofort in Kraft treten, betonte Innenhilfsminister Westerwelle; er selbst, so der Hilfsinnenminister, werde auch dafür Sorge tragen, dass nicht versehentlich eine Steuersenkung passiere.
14:21 – Eine Straßenumfrage führt zu dem Ergebnis, dass 87,3% der Personen die Frage, ob sie es heiß fänden, uneingeschränkt bejahen. Nur 1,2% stimmen dem generell zu, geben jedoch der Vorgängerregierung die Schuld an den momentanen Entwicklungen auf dem Temperatursektor.
15:03 – Auf Grund einer Störung im Kühlwasserkreislauf schaltet das Atomkraftwerk Brunsbüttel sich selbsttätig ab. Der Betreiber weist Zusammenhänge mit der Temperatur des Flusses weit von sich. Die vorsorgliche Abschaltung sei in der Folge einer Warnung vor Überlast geschehen, die durch die zahlreichen in Deutschland laufenden Ventilatoren verursacht wurde. Wer beim Anblick eines Windkraftwerks, so ein Vattenfall-Sprecher, nicht bemerke, dass die erneuerbaren Energien nur erfunden worden seien, um Deutschland in eine nukleare Katastrophe zu manövrieren, der fördere damit den globalen Terrorismus. Man werde, um diese Kränkung seelisch zu verkraften, sofort die Strompreise erhöhen.
15:32 – Die durchschnittliche Temperatur des Wassers steigt in ganz Deutschland an, was vor einer Erwärmung des Leitungswassers nicht Halt macht. In einem selbstlosen Akt der Solidarität mit den am Boden zerstörten Kernkraftwerkern kündigt der Verband der Wasserversorger an, die Preise für Warm- und Warmwasser – Kaltwasser könne man das nicht mehr nennen – zu vereinheitlichen. Auf dem Preisniveau von Warmwarmwasser.
15:46 – Die Temperaturen sind noch immer viel zu hoch. In einem heftigen Schlagabtausch geben sich Regierung und Opposition gegenseitig die Schuld; die Liberalen werfen der SPD auf der ganzen Linie Versagen bei Tiefdruckgebieten vor, während Abgeordnete der Bündnisgrünen höhnisch darauf verweisen, dass die Kanzlerin auf ihrem fliegenden Teppich in letzter Zeit über schlechte Thermik geklagt hatte. Ein Kompromiss kommt erst in Sicht, als die Klimaanlage des Plenarsaals schwächelt. Man beschließt, Verhandlungen aufzunehmen.
16:00 – Scharfe Proteste der Wasserverbraucher führen dazu, das Berechnungsmodell nochmals zu überdenken. Man werde, so die Wasserversorger, dann doch nur das erwärmte Kaltwasser preislich anpassen, eine Steigerung von einem Cent pro Grad und Liter sei als gerechtfertigt anzusehen. Wem dies nicht passe, könne sein Wasser ja aus den Mineralbrunnen beziehen.
16:48 – Auch im Konrad-Adenauer-Haus ist die stickige, verbrauchte Luft spürbar, und so verzichtet die CDU auf weitere Rücktritte auf Führungsebene. „Morgen“, verkündet der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder, „ist ja auch noch ein Tag.“
17:05 – Die rasch zusammengetrommelten Ausschüsse haben zwei Modelle erarbeitet: während sich Union und FDP für eine Steigerung der Ausgaben bei gleichzeitiger Beibehaltung der Außentemperaturen in den besseren Bezirken aussprechen, verneinen SPD und Grüne diesen Vorschlag als nicht verfassungskonform, sozial unverträglich sowie äußerst demokratiefeindlich. SPD-Chef Gabriel schlägt eine Senkung der Temperatur in drei Schritten vor. Der Entwurf der CDU/CSU wird mit allen Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen angenommen; die Linke enthält sich, wie zuvor angekündigt, einstimmig, da der Deutsche Bundestag nicht bereit ist, Israel die Schuld für die Sommertemperaturen zu geben.
18:02 – Ein auf dem Schiffbauerdamm torkelnder Passant wird von mitleidigen Bürgern in der Spree erfrischt. Die Umstehenden sind der Ansicht, der Mann habe dies bei Gleichgewichtsstörungen und Kopfweh sehr nötig gehabt, schließlich habe er gegen die Hitze zuvor schon zehn Glas Bier getrunken – ohne Erfolg.
18:57 – Die Klimaanstrengungen zeigen erste Erfolge. Zwar sind die Auswirkungen mit Luftfeuchtigkeit und Luftozongehalt noch immer unangenehm, doch sieht Kanzlerin Merkel hier einen enormen Fortschritt.
19:04 – In einer eigenen Pressemitteilung lässt Sigmar Gabriel die Presse wissen, dass die jetzige spürbare Entlastung der Temperatur eine Folge der an sich unmenschlichen, verfassungswidrigen und zutiefst amoralischen SPD-Wetteragenda sei, der man vorwerfe, sie wolle Deutschland auf Dauer in ein Niedrigluftdruckland verwandeln; die Erfolge der ad hoc vorgenommenen Senkung seien jedoch vollkommen gerechtfertigt, wenngleich die SPD auch nicht verhehlen wolle, dass die Deutschen in den vergangenen Sommermonaten über ihre Verhältnisse geschwitzt hätten – die Energiebranche und der Auslandstourismus seien eben auch für wichtige Arbeitsplätze verantwortlich in den Vorstandsetagen der Frühstücksdirektoren. Auf jeden Fall sei die Regierung zur Verantwortung zu ziehen.
19:52 – Kurz vor den Abendnachrichten lässt sich Außeninnenminister Westerwelle noch einmal für einen TV-Bericht interviewen. Er betont, dass sich die Liberalen aus Vernunft der Temperatursenkung nicht verschlossen haben, gleichwohl es eine klare Teilung geben müsse: die Aktionärselite müsse es schön warm haben, während dem Prekariat die Aufgabe zufalle, ihn nicht zu belästigen. Eine einfache, niedrige und gerechte Temperatur für die Besserverdienenden könne es jedoch dauerhaft nur mit dem Projekt 18 Grad Celsius geben. Wegen eines Wutanfalls beim Stichwort Transferleistungsempfänger wird Westerwelle erst fertig, als die Tagesschau schon komplett über die Bildschirme geflimmert ist.
20:29 – Kurz vor dem Bahnhof Zoologischer Garten bleibt ein Fernzug im Gleisbett stecken. Die Verantwortlichen würden gerne helfend eingreifen, wenn sie wüssten, ob sie dazu technisch in der Lage wären. Nach einer längeren Beratung, während der die Fahrgäste im hermetisch abgeriegelten Zug ausharren müssen, bescheidet man das Ansinnen mit einer abschlägigen Antwort. Die Bahn hat nicht genug Schotter.
23:04 – Die Abendkühle senkt sich hinab auf die Häuserschluchten der Hauptstadt, und kurz vor dem Schlafengehen zieht es Karl-Otto F. (53) doch noch einmal in die stillen Seitenstraßen Moabits, wo er, in Trainingshose, Feinrippunterhemd sowie blaue Badeschlappen gekleidet, noch ein bisschen frische Luft schnappen will, ein launiges Liedchen auf den Lippen, im Herzen eigenwillig, aber doch stets keck und froh, wie die Berliner nun mal sind. Bei der Einlieferung in die Charité wird festgestellt, dass sich die abnorme Stellung der Wirbelsäule und der Luftröhre durch eine mit kurzem, aber heftigem Druck in F.s Oberkörper eingeführte Vuvuzela erklären lässt. So endet ein Tag in Berlin, ein schöner und ereignisreicher Reigen der Stunden, in denen ein paar ganz normale Menschen einfach nur die Sommersonne genießen wollten.
Satzspiegel