Geliebter Führer

20 07 2010

Gödeke holte mich gerade noch ein, obwohl auch ich ziemlich rasch, nicht zu sagen im Laufschritt zur U-Bahn unterwegs war, fast zwei Minuten über der Zeit, das Telefon hatte noch mal geklingelt, der Nachbar mich aufgehalten, und als ich Gödeke aus dem Augenwinkel erblickt hatte, war ich erst recht schneller geworden. „Sie schon das Exposé“, jappte er atemlos, „wollte Ihnen das gestern schon!“ Und als wir die Kaiserallee ganz hinaufgerannt waren, hatten wir die Treppe erreicht.

Seltsame Klänge hallten aus dem Lautsprecher. „Wir sind eine fortschrittliche Partei, die den Willen hat, den Willen hat, den Willen, Willen, den Willen hat…“ „Hat die Platte einen Sprung“, mokierte ich mich, „oder was soll dieses Gedudel?“ „Hören Sie doch zu“, zischte Gödeke. „Das motiviert doch. Also es soll zumindest.“ „… Willenwillenhat, hat, das Volk, das Volk in seiner Werktätigkeit zu unterstützen, damit die Leistungsträger, die…“ Ich stopfte mir die Finger in die Ohren. „Aufhören!“ Einige Dutzend Augenpaare schauten mich an. Wo war ich nur gelandet? In einer Indoktrinationsdisco nach Breschnews Bauplan? „Gucken Sie genau hin, dann wissen Sie es.“ Ein Westerwelle hing neben dem anderen, ein Dutzend pickeliger Brüllaffen pro Kachelfront onkelten ihr schmieriges Gegrinse in den Bahnschacht. Überall der Große Vorsitzende. War ich hier bei Big Brother gelandet? Nein, dann hätte man ja den Innenminister an die Wand gestellt – eine Sache, sagte ich mir, die man so oder so mal ins Auge fassen sollte.

„Haben Sie das denn nicht schon vergangene Woche mitbekommen?“ Offenbar war Gödeke öfter mit der U-Bahn gefahren. „Natürlich, ich wohne doch gleich hier nebenan. Da ist auch die Zentrale.“ „Welche Zentrale“, fragte ich irritiert. Hatten die Irren hier ihr Quartier aufgeschlagen und wollten den Rest der Bevölkerung in den Wahnsinn treiben? „Die FDP-Parteizentrale natürlich. Hätten Sie sich auch gleich denken können, oder?“ „Wegen der Grinseguidos? Ja, hätte man.“ „Pah“, entgegnete er, „den sehen Sie doch inzwischen in jeder Talkshow. Nein, ich meine natürlich diese jungen Leute.“ Er machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm, dort standen sie auf dem Bahnsteig, Bänkervisagen, denen man ein abwaschbares Standardlächeln angetackert hatte, Polyesteranzugträger, die sich für die Elite hielten und doch nur Befehlsempfänger waren, denen man auftrug, hässliche Krawatten mit blau-gelbem Streifenmuster um den Kragen zu krempeln. Alles biss sich wie doof auf die Zähne und lächelte krampfig in den Tunnel, als sei hier der Faschingsball einer Kiffersekte ausgebrochen.

Da rollte der Zug herein, der die restlichen Ankömmlinge bringen sollte. Die Bahn stoppte, die Türen öffneten sich zischend, eine amorphe Masse rückgratloser Duckmäuser quoll aus den Wagen auf die Plattform. Alle zusammen stellten sich, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, in Reihen auf und legten die Hände an die Hosennaht. Sie warfen die Beine im Takt der schmetternden Schlagermusik. Ich tippte mir an die Stirn. „Die sind doch komplett gehirngewaschen!“ „Was wollen Sie denn da groß waschen“, erwiderte Gödeke lakonisch.

Es ging los. Eine dünne Groschentrompete, in der Stimmlage Birgit Homburger nicht unähnlich, quarrte durch die Station. „Guido, wir vertrauen auf Deine große Weisheit“, fistelte der Chor der Hotel- und Erbenfinanzierungsgesellschaft, „ich fühle mich der Neuen Sozialen Marktwirtschaft, der Neuen Sozialen Marktwirtschaft, Marktmarkt…“ „Schon wieder ein Hänger?“ Gödeke schüttelte den Kopf. „Markt-Schreier. Kennen Sie doch.“

Unablässig quiekte und leierte die Schalltapete weiter. „Nein, Gödeke, jetzt mal ernsthaft. Sie können mir doch nicht erzählen, dass sich die FDP eine U-Bahn-Haltestelle mietet, um eine derart blöde Selbstbeweihräucherungsshow abzuziehen. Das glaubt Ihnen nicht mal die Presse.“ Er lächelte. „So ist es ja nicht. Das ist Geschlossenheitstraining für die Parteimitarbeiter.“ Ich riss die Augen auf. „Geschlossenheitstraining? Wollen die rausfinden, ob sie noch ganz dicht sind?“ Gödeke brach in schallendes Gelächter aus. „Ach Gott, nein! Sie wollen das ständige parteiinterne Gezänk von der Backe kriegen. Eine Disziplinierungsmaßnahme, mehr nicht. Allerdings zugegebenermaßen eine reichlich perfide.“ Ich schaute mich auf dem Bahnsteig um; Westerwelle-Plakate, Westerwelle als Handzettel und Fähnchen, Westerwelle in Zeitungsseiten am Kiosk. Wer sich das ausgedacht hatte, muss sehr verzweifelt gewesen sein. Schon wieder plörrte die Musik los, diesmal in Gestalt einer pathetischen Hymne. „Voran, voran, in den Sieg der Partei!“ Dieser fernöstliche Sound ließ mich aufhorchen. „China?“ „Fast“, nickte Gödeke. „Westerwelle hatte vor ein paar Wochen Kontakt mit Nordkorea, und diese Inszenierung muss ihm wohl sehr gefallen haben.“ „Voran, voran, die Partei hat immer den richtigen Weg!“ Ich verzog das Gesicht. „Dass die das mitmachen! Westerwelle würde doch einen Wutausbruch bekommen bei diesem sozialistischen Einheitskram!“ Er runzelte die Stirn. „Als wäre der Mann jemals konsequent gewesen – haben Sie jetzt etwa mehr Netto?“ Ich verneinte. „Eben. Die Arschkriecher wissen jetzt wieder, wer das Sagen hat.“ „Unser großer Führer, der ruhmreiche Guido, Geliebter Führer, mach uns fünf Prozent, mach ein Wunder, ein Wunder, mach fünf Prozent!“ Die U-Bahn aus der Gegenrichtung klappte die Türen zu. „Zurücktreten“, knarrte es blechern aus den Lautsprechern. „Zurücktreten!“ Gödeke war zufrieden. „Mal bloß gut, dass sie noch dies bisschen Realitätssinn behalten haben.“