Gernulf Olzheimer kommentiert (LXXIII): Anorexie als Mode

3 09 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Tausende, zehntausende Jahre hat der Hominide es geschafft, ohne Ackerbau zu überleben, indem er sich aufs Wesentliche konzentrierte: Reproduktion und Brutpflege, Ernährung und Immobilienbesitz. Weder Fußball noch Außenpolitik vernebelten sein immerhin schon recht leistungsfähiges Hirn, noch kein neues Auto musste angeschafft werden, um die Nggrs aus der Nachbarhöhle vor Neid grunzen zu machen, kein lästiger Zeitschriftenverkäufer stand am Feierabend plötzlich vor dem Lagerfeuer und wollte der Sippe ein Jahrhundert-Abonnement von Schöner Hausen andrehen – einesteils, da die Schrift noch nicht erfunden war, andererseits jedoch hatte die Neandertalerin Besseres zu tun, als jeden Sonnenaufgang in ein neues Bärenfell zu steigen. Sie hütete das Feuer und den Nachwuchs und wurde darüber fett wie die Venus von Willendorf. Keine Frigitte-Diät, keine Steinzeit- oder Trennkost servierte die Aurignacienne ihrem Mammutjäger, denn sie wusste um die erotische Wirkung, die den Mann aus der Kurve zu tragen geeignet ist: der Steiß ist heiß. Schließlich musste die Art erhalten werden.

Anders heute. Paläolithische Pin-ups sind passé, der Daseinszweck der Dame an sich definiert sich differenzierter – während die eine Hälfte noch den klassischen Aufgabenstellungen der Zivilisation nachkommt und arbeitet, isst, schläft und die Folge der Generationen in stetem Kreislauf erhält, hat sich die andere Portion Femininum längst introspektiv in den Konsumismus und das realitätsresistente Ideal verabschiedet, ein Antikörper zu sein. Nicht mehr das dralle Leben lockt, der bleiche Tod beißt sich die Nägel, verhilft zu pseudoelitärem Teenie-Tuss und rückstandsfreiem Abbau von Hirnsubstanz. Mit üblicher Anorexia nervosa nicht zu verwechseln, doch ein Symptom der Überforderung – denn es gibt diese nie in die Einflugschneise des Geistes geratenen Imitationen, deren einzige Originalität ein gut erhaltener Satz Chromosomenpaare ist. Der Rest ist unter Dreingabe der Perfektion geklont.

Denn jener Perfektionismus, der den Kranken zum Kotzen bringt, ist das irreale Ziel, das dem Bekloppten vor Augen hängt wie die Möhre dem Gaul vor der Nase; durch Hässlichkeit und Verzicht auf ein funktionsfähiges Ego klumpt sich Prollita vom Klamottenladen zur Änderungsfleischerei und turnt jeden an- und für sich ästhetischen Sperrmüll körperbetont nach, als sei ein halbes Gramm Masse mehr von den Knochen ab ein Schritt in Richtung Akzeptanz. Fragt sich, für wen.

Es sind die Insassen einer weit gehend sich selbst entfremdeten Schicht, beregnet von Werbung, zugeschüttet mit Hochglanzmedien, die den in der Kohlenstoffwelt kaum mehr denn als intellektuelle Glimmlämpchen aufgefallenen Modemäuschen einen Instant-Sinn fürs Dasein zurechtschwiemeln. Sie sind gefangen in ihrem billigen Denkfehler, dass Haben gleich Sein ist und das Privileg, zu einer sich ohne Rücksicht auf Leistungsfähigkeit und soziale Konsequenzen selbst verstümmelnden Gruppe zu gehören, auch schon Nachweis der Elite. Was als Vollendung ausgerufen wird, das von sich selbst überzeugte Zerrbild, das kotzende Elend der Lichtgestalten, verkehrt sich ins groteske Gegenteil. Die tüchtigsten Fressspeierinnen mit ihrem Lieb- und Brechreiz springen kopfüber in eine Spirale aus Langeweile, Selbstschädigung und Blindheit, leistungsfähiger, als Alkohol und Drogen je wären. In lichten Momenten wird es den um die Wette reihernden Rotznasen wohl klar, dass sie sich ums Leben bringen, indem sie wie auf einer schiefen Ebene in den Kollaps rutschen, den sie als kulturelles Phänomen abfeiern.

Ist es das Ventil, das auf den Überdruck reagiert, den BMI in den blauen Bereich zu quetschen? Ist Hungern und Speien die neue Gewaltsportart, die Serotonin freisetzt, wo zuvor nur Luftblasen waren, warme Luft und das Lassez-faire, aus seiner Luxusexistenz nichts Sinnvolles machen zu müssen, weil nichts zählt als die Frage, mit welcher Klamotte man am nächsten Tag am wenigsten beschissen aussehen wird. Sie könnten sich auch vornehmen, alle zusammen noch zehn Zentimeter zu wachsen, aber sie pflegen ihre Anorexie, wie sie auf dem Catwalk überhöht über Leichen geht, weil das Ziel physisch zu bewältigen ist – so zumindest sagt es ihnen die gephotoshoppte Bilderwelt, die Gebrauchsanweisung, um die sterblichen Reste bis zum soziokulturellen Minimum wegzuspucken. Der soziale Erfolg, den versehentlich Erwählten der Jeuneusse dorée ansonsten fremd, stellt sich als sekundärer Sachschaden ein, allerdings nicht so, wie er gedacht war. Findet der Wassersuppenkasper endlich Anerkennung, dann unter der Zuckerkruste von Mitleid und nachsichtiger Herablassung. Denn die Schwäche, der puritanischen Leistungsethik nachgegeben zu haben, wird gnadenlos bestraft, und die Gefahr liegt darin, dass das Ideal letztlich erreichbar scheint. Es sind die gottverdammten Blumen auf der anderen Seite des Abgrunds, die das Leben zu Hölle machen. Und es ist der Dummheit des Menschen geschuldet, dass er über jeden Abgrund springt, nur nicht über den, den er in sich selbst vorfindet.