Saufschwung

13 09 2010

06:30 – Der Wecker intoniert die Liberalen-Hymne Hoch auf dem gelben Wagen. Rainer Brüderle richtet sich kerzengerade im Bett auf und beschließt, schwungvoll in den Tag zu starten.

06:50 – Auch mehrmaliges Betätigen der Schlummertaste hilft nichts, der Wirtschaftsminister muss aufstehen. Da seine Frau ihm die Bettdecke wegzieht und mit kaltem Wasser droht, erhebt sich das FDP-Urgestein. Er betont dabei, dass er aus freiem Entschluss die Schlafstatt verlässt, denn er sei sich seiner Verantwortung durchaus bewusst.

07:15 – Frau Brüderle hat mal wieder die Nase gestrichen voll. Sie wirft mit Schlappen nach der Schlafmütze, die schlaftrunken ins Bad wankt.

07:22 – Die ersten brillanten Ideen durchzucken Brüderles Geniehirn. Er steckt den Kopf zur Dusche heraus und brüllt seine Frau an, dass er sofort eine Standleitung zur Bundeskanzlerin brauche. Eine erhöhte Neuverschuldung sei ein innovatives Mittel, um die Wirtschaft wieder in den richtigen Marschtritt zu bekommen. Jubilierend entwickelt er den Gedanken weiter, blickt an sich herunter und beschließt, den Aufschwung vorerst nicht auf die Tagesordnung zu setzen. Vielleicht ist die Idee auch viel zu gut und man würde ihm den unausweichlichen Nobelpreis neiden.

08:13 – Zu einer Stippvisite beim Zweckverband der Energieerzeuger erscheint der Minister mit zwei Staatssekretären. Aus räumlichen Gründen sind nur die Kernkraftbetreiber geladen, mehr gibt das kleine Besprechungszimmer nicht her. Um einen weiterhin reibungslosen Ablauf der Energiepolitik ohne die störenden Einflüsse von Wirtschaftsaufsicht oder Umweltgesichtspunkten zu garantieren, schlagen die Atomkonzerne vor, nur absolut kompetente Top-Kräfte mit wirtschaftlichen Interessen zu betrauen. Brüderle unterschreibt das Papier; es sieht seine Laufzeitverlängerung bis 2011 vor sowie ein anschließendes Berufsverbot.

09:11 – Im ersten Interview des Tages wird Brüderle gefragt, was er bisher für die deutsche Wirtschaft getan habe. Er verweist auf die vielen Abmachungen, die schon im Koalitionsvertrag stehen. Auf den Einwand, er selbst habe aber zum Koalitionsvertrag nicht das Geringste beigetragen, erwidert der Liberale, genau das sei sein Verdienst.

09:54 – Beim Fototermin mit einer chilenischen Zeitschrift betont Brüderle, den deutschen Mega-Aufschwung eigenständig herbeigeredet zu haben. Dass zeitgleich die Kanzlerin vor einer schweren Krise warnt, sieht er als Bestätigung. „Wir arbeiten Hand in Hand“, erläutert er. „Sie hat Wirtschafts- und Politikkompetenz, ich bin Minister.“

10:08 – Das Forum deutscher Konsumenten lauscht dem Ökonomiepolitiker bei seiner Kanzelrede. Mit besonderem Interesse hören die Besucher, wie er den Atomdeal als eine revolutionäre Steigerung der Verbrauchersicherheit preist. Brüderle äußert laut und deutlich sein Verständnis dafür, wenn man ihn wegen dieses Geniestreichs mit dem Alternativen Nobelpreis auszeichnen sollte. „In einer sozial orientierten Gesellschaft“, verkündet er, „müssen wir auch Multimilliardäre und Großaktionäre als Verbraucher wahrnehmen, denn sie verbrauchen eine Menge – nicht zuletzt unsere Geduld. Darum ist es nur folgerichtig, ihr Vermögen dem Zugriff der Steuermafia zu entziehen.“

10:46 – Die Tagung der Winzervereinigung Berlin-Brandenburg wird von ihrem Ehrengast mit großem Hallo eröffnet. Die Führungspersonen, Wirtschafts- und PR-Verantwortliche sowie ein Weinhändler stellen sich zum Gruppenfoto auf. Brüderle sagt zu, die Milliardensubventionen für Weinproduzenten aus der Hauptstadtregion erneut anzuheben. Dass gar kein Wein angebaut werde, tue nichts zur Sache.

11:37 – Improvisierte Diskussionsrunde beim Panel der Rentenversicherer. Brüderle argumentiert für die Abschaffung der Rentengarantie. Als die ersten Proteste laut werden, beruhigt er die anwesenden Versicherungsvertreter. In Wahrheit sei damit eine Abschaffung der Renten gemeint, nicht aber eine Abschaffung der Rentenversicherungen. Das Geld, so der Herr der Volkswirte, könne man doch allenthalben sehr gut verwenden, um notleidende Industriezweige wieder aufzupäppeln. „Wer“, ruft Brüderle klagend in die Menge, „kauft denn heute eine Segeljacht oder ein Privatflugzeug? Es sind doch immer dieselben Leistungsträger, die für die Konsumverweigerungshaltung der Unterschichten aufkommen müssen!“ Tosender Applaus begleitet die Vorstellung.

11:57 – Auf einer Betriebsbesichtigung im Wedding wird der Ökonomiechef dem Personal vorgestellt. „Sie sehen matt aus“, ruft er dem Schichtführer zu, „abgearbeitet, müde, krank und verzweifelt. Prima! So wollen wir die deutschen Arbeitnehmer sehen!“ Auf die verdutzten Blicke von Betriebsrat und Belegschaft erläutert Brüderle die just entwickelte Theorie, dass zeitig ablebende Arbeitnehmer den Rentenkassen enorme Beträge sparen können. Die Stimmung kippt.

12:04 – Offensichtlich hat sich Brüderles Tross nur im Grundstück geirrt, denn die Besichtigung war für die benachbarte Firma geplant. Das Personal räumt die Produktionsstätten auf. Der Minister lobt Ordnungssinn und Pflichtbewusstsein der Arbeiter, als der Juniorchef ihm unwirsch erklärt, dass dieses Unternehmen gerade abgewickelt werde, weil die Branche durch Ein-Euro-Jobs zerstört wird. Der FDP-Vordenker ist begeistert. „Das ist ja fein“, klatscht er in die Hände. „Wenn wir alle Arbeiter rauswerfen, dann brauchen wir am Ende gar keine Lohnnebenkosten mehr zu zahlen, und mit den gesparten Kosten für die Rentenversicherung und den Krankenkassenbeiträgen sind das ganz tolle Ersparnisse für die Wirtschaft und wir können bald ganz viele Arbeitsplätze…“ Der Seniorchef tastet nach seiner Wehrmachtspistole.

12:39 – Hastig nimmt Brüderle eine Currywurst am Stehimbiss ein. Doch auch nach der zweiten Wurst und einer Portion Schaschlik will ihn kein Passant erkennen. Erst als er sich das Hemd mit Würztunke bekleckert und unflätig zu fluchen beginnt, reagiert die Ladenbesitzerin. „Komma nach vorne hin“, schreit sie ihrem Gatten in der Küche zu. „Der olle Gierschlund vonne FDP is hier! Der Niebel!“

13:01 – Im Thomas-Dehler-Haus verkündet Brüderle, ELENA solle nach dem Willen der FDP so schnell wie möglich den Betrieb aufnehmen. Dass die Datenschutzpartei die Interessen der Wirtschaft vertrete, sei kein Widerspruch, denn es gehe hier schließlich um Arbeitnehmerdaten, also quasi um unwichtiges Material.

13:20 – Bei der Vertragsunterzeichnung anlässlich der deutsch-ivorischen Konferenz zur Schaffung von Langzeitarbeitslosen in Afrika wird Brüderle von einer neuen, geradezu genialen Idee durchzuckt. Es dauert kaum eine Viertelstunde, bis genügend Reporter anwesend sind, um die tolle Botschaft aufzunehmen. „Wenn wir alle jetzt mehr arbeiten“, so der Minister, „dann gibt es gar keine Arbeitslosen mehr!“ Er ist begeistert. Man sieht es.

14:45 – Auf der Staatssekretärsrunde stellt der Bundeswirtschaftsminister sein Konzept zur Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit vor. Mit einem Begrüßungsgeld von bis zu 80 Millionen Euro sollen Gastarbeiter ins Land gelockt werden. „Dafür bekommt man schon einen Ackermann“, sinniert er.

15:09 – In einem Radiointerview wird Brüderle damit konfrontiert, dass unzufriedene Liberale mit der Parteiführung unzufrieden sind und eine neue Ausrichtung verlangen. Er bejaht die Dringlichkeit dieser Forderung. Vor allem eine starke Verjüngung müsse es geben, es solle mehr Sachverstand in den Vordergrund gerückt werden, die neue Leitfigur müsse kompetent und sexy sein. Er selbst sei sicher, diese Ansprüche trotz des vollen Einsatzes für einen Giga-Aufschwung leisten zu können.

15:55 – Der Wahlkampfslogan Mehr Netto vom Brutto scheint in Vergessenheit geraten zu sein; Minister Brüderle verhilft ihm beim Meeting mit den Steuersachverständigen zu neuem Glanz. Dabei setzt er zum dreistufigen Solms- und dem selbst entwickelten einstufigen Modell ein weiteres, an Kreativität nicht zu überbietendes System in die Welt: ein Einkommensteuermodell mit gar keiner Stufe. „Wir stufen nur ab, ob es für Sie als Steuerzahler in Frage kommt“, erläutert der Finanzfachmann. „Wenn Sie zu wenig Steuern zahlen, dann müssen Sie natürlich hinterher auch mehr zahlen, das ist eine Frage der Gerechtigkeit, aber wenn Sie viel zahlen, müssen Sie hinterher eben gar nichts mehr zahlen – so einfach ist das mit der FDP!“ Sicherheitsbeamten flüstern ihm zu, dass er der Bundeswirtschaftsminister sei und sich das Land nicht mehr im Wahlkampf befinde.

16:40 – Die Potsdamer Wirtschaftsakademie hat zum Vortrag geladen. Knapp hundert Koryphäen aus Journalismus, Politik, Showgeschäft und anderen Zweigen der Freizeitindustrie sind gekommen; der quotenmäßig zugesagte Wirtschaftswissenschaftler konnte in diesem Jahr nicht bezahlt werden. Deutschland befinde sich durch den XXXXL-Aufschwung in einem Investitionsrausch, der jederzeit in eine Innovationspychose abgleiten könne. Lohnzurückhaltung sei deshalb das Gebot der Stunde. Nur Lohnzurückhaltung für die nächsten acht bis vierzehn Legislaturen könne die Weltwirtschaft vor dem Ruin bewahren. Alles andere seien hirnverbrannte sozialistische Vorstellungen.

17:32 – Am Rande einer Tagung mittelständischer Kraftfahrzeughändler überrascht Brüderle die Welt mit seiner fiskalpolitischen Autorität. Schon wieder ereilte ihn eine überragende Erkenntnis, der er mit Nachdruck Nachdruck verleiht. „Wenn wir jetzt alle gar keine Steuern mehr zahlen“, philosophiert der Minister, „dann haben wir auf einmal so viel Geld, dass wir alle ganz viel Steuern zahlen können!“ Die gewisse Unlogik entdecken selbst die Autohändler, doch Brüderle wischt alle Zweifel vom Tisch. Man könne ja die Steuern bei den einen senken und bei anderen erhöhen, in einer sozialen Marktwirtschaft herrsche schließlich Gewaltenteilung.

18:09 – Die gewerkschaftsnahe Stiftung Arbeit erhebt sich, als Rainer Brüderle den Saal betritt. Er umreißt in seiner Rede kurz die Geschichte der Weltwirtschaft, dann schildert er die aktuelle Lage mit deutlichen Worten: Deutschland befinde sich derzeit in einer tiefen, völlig aussichtslosen Krise, die jederzeit in eine Krise münden könnte. Lohnzurückhaltung sei deshalb das Gebot der Stunde. Nur Lohnzurückhaltung für die nächsten acht bis vierzehn Legislaturen könne die Weltwirtschaft vor dem Ruin bewahren. Alles andere seien hirnverbrannte sozialistische Vorstellungen.

18:22 – Auf der Gala der Winzervereinigung Rheinhessen lässt sich Brüderle mit Weinkönigin Luisa-Jacqueline Szeczymiak ablichten. Nach dem Verkosten einer 2004-er Weikenheimer Rosshaut (Spätlese) berichtet er kurz über das aufregende Leben eines Bundesministers – verzückt lauscht man den Ausführungen über die Wiedervorlager des Planfeststellungsverfahrens 34 für die Stahl- und Aluminiumindustrie im Regierungsbezirk Detmold.

18:43 – Auch die Winzer Württembergs wollen ihren Weinminister gerne für ein paar kompetente Worte unter sich haben. Bei einem Mölshaller Sandtäschle (2008, Silvaner) und Weinprinzessin Janine Hubberts plaudert der liberale Schwerenöter noch einmal von den Zeiten, als er den Koalitions- und den Atomgeheimvertrag ganz alleine schrieb, während er mit der anderen Hand den Super-Mega-XXXXXXL-Aufschwung ankurbelte und dreißig neue Jobs im Entwicklungshilfeministerium schuf. Die Gäste sind begeistert. Minutenlang.

19:33 – Im trauten Einvernehmen mit den Winzern aus dem Anbaugebiet Mosel-Saar-Ruwer spricht der Steuersparminister zunächst über die enormen Sparzwänge wegen der gerade herrschenden Krise (Pollheimer Sonnenuhr), bevor er die gerade den tollen Superaufschwung fördernden Leistungsträger (Deibelshofener Arschwisch) mit zusätzlichen Subventionen (Kroneichacher Kotzbeutel) vor dem sicheren Ruin (Ahnsheimer Tretmine) wegen der anhaltenden Rezession (Margenbacher Reiherfeder) zu erretten schildert. Nicht wenige sind nachhaltig begeistert, mache sogar angetan.

19:40 – Die Sicherheitsbeamten werden nervös. Normalerweise beginnen spätestens um diese Zeit schwere Schübe, in denen Brüderle sich für Gott hält. Heute denkt er, er sei Guido Westerwelle.

19:56 – Schwer atmend steht Rainer Brüderle auf dem Podium der Arbeitgebervereinigung. Drei Redebeiträge haben das Publikum bereits darauf eingestimmt, was der Neoliberale den geplagten Wirtschaftsführern zu sagen hat: die Ökonomie stehe geradewegs vor dem Weltuntergang, denn noch immer verlange der Arbeitssklave Löhne, Gehälter und – hier heult das Auditorium auf – Sozialleistungen, Gelder, die der dekadente Pöbel sofort für Schleckeis und Kindersärge aus dem Fenster schmeiße, statt ihn in Hedgefonds oder ungedeckte Leerverkäufe zu investieren. Mit dem ihm eigenen Scharfsinn zieht Brüderle den Schluss und präsentiert eine neue visionäre Vorstellung; man müsse an den Personalkosten ansetzen, um die Volkswirtschaft wieder gesunden zu lassen. „Wenn wir alle Löhne abschaffen“, doziert er, „dann haben wir zusammen mit Rente und dem ganzen anderen da, wie hieß das noch, so viel gespart, dass wir dann alle Löhne bezahlen können für die, wie heißen die, die sind da immer so im Weg.“ Die Wirtschaftskapitäne schluchzen vor Ergriffenheit.

20:22 – Das Ritalin wirkt.

20:54 – Helfer nehmen Brüderle mit sanfter Gewalt eine Flasche Ruländer aus der Hand und geleiten ihn zu seinem Dienstwagen. Auf dem Weg durch das Foyer des Veranstaltungszentrums krallt sich der Polidigga da Frajä Dämoraddischä Badei am Treppengeländer fest und gibt noch ein paar gummunal- und fisgalpoliddische Hinweise über die Zukunft der Wischaaf. Er will unbedingt das Einkommensteuergesetz um einen Satz ergänzen, der klarstellt, dass Streikgelder steuerpflichtig sind. Danach verlässt auch den hartnäckigsten Zuhörer der letzte Nerv.

22:09 – Die Sicherheitsbeamten liefern Rainer Brüderle zu Hause ab. Der Vollwirt kriegt davon nichts mit,seit kurz hinter Neuruppin schnarcht er wie ein defekter Luftfilter. Sie ziehen ihm die Schuhe aus, legen ihn ins Bett und stellen den Wecker für einen neuen, arbeits- und erfolgreichen Tag im von Aufschwung zu Aufschwung eilenden Leben des Bundeswirtschaftsministers.