Das Gebäude war nicht nur ein ziemlich verwinkelt und unübersichtlich anmutender Altbau, voll von Treppenaufgängen, halben und ganzen Längs- und Querkorridoren, Seitenflügeln, Hofgebäuden, Gartenhäusern, Pavillons und unvermittelt in der Mitte eines Flurs abzweigenden Ein- und Aus- und Zwischengängen von wahrhaft kafkaeskem Aufriss, es war auch beschissen ausgeschildert. „Wo ist das Seminar von Herrn Professor Pauli, bitte?“ Die Dame mit dem ausladenden Hüftschwung plinkerte kräftig mit den Augen. „Raum 23“, zwitscherte sie und ging den Korridor entlang, nicht, ohne sich noch einmal mit verführerischem Augenaufschlag nach mir umgedreht zu haben.
„Da sind wir“, sagte Pauli und öffnete Raum 43. Die Eleven waren bereits vollständig versammelt. Der Kursleiter machte mich mit ihnen bekannt, und ich setzte mich unauffällig in die hinterste Reihe. Doch kaum hatte ich mich einigermaßen zurecht gefunden, da beugte sich ein Schüler, ein junger Mann mit auffällig korrektem Scheitel und blank gewienerten Schuhen, zu mir herüber. „Pssst“, zischelte er, „die mit dem roten Rock hat was mit dem Professor.“ Ich war erst doch verwirrt. „Der Typ da“, wisperte es von der anderen Seite, „hat gerade seinen Führerschein verloren, weil er trinkt. Und das jetzt schon zweimal!“ Und dann begriff ich es auch: dies war ja schließlich das Seminar für angewandtes Mobbing.
„Zunächst können Sie Ihre normalen Aktivitäten beibehalten“, dozierte der Gelehrte; die Teilnehmer schrieben aufmerksam mit. „Allerdings müssen Sie genau darauf achten, die Zielperson auszuschließen. Sie gehen also weiter in die Kantine, setzen sich aber nicht mehr an den Vierer-, sondern an den Dreiertisch.“ Eine junge Schülerin schnippte mit dem Finger. „Darf ich denn in Abwesenheit die E-Mail-Korrespondenz lesen?“ „Sie sollten sich von wichtigen Nachrichten Sicherheitskopien anfertigen und diese auch gut geschützt aufbewahren. Was Sie nicht verwenden können, sollten Sie auf jeden Fall löschen, damit Ihre Konkurrenten den Überblick über ihre Arbeit verlieren. Noch Fragen?“ Der Gescheitelte neben mir zeigte auf. „Muss man mit dem Beginn der konzertierten Aktion stets warten, bis das Opfer innerbetrieblich aufsteigt?“ Pauli schüttelte energisch den Kopf. „Was habe ich Ihnen denn den halben Kurs über erzählt“, gab er mit vorwurfsvollem Unterton zurück, „wer wiederholt? Frau Kloppensteiner?“ „Ein gemeinsames Vorgehen gegen eine ausgewählte Person“, leierte die blonde, aufgehübschte Frau (es war dieselbe, die mich in die Irre geschickt hatte, dass ich das Zimmer gar nicht erst fände), „ist schon dann sinnvoll, wenn sich ernsthafte Anzeichen von Kompetenz an der potenziellen Konkurrenzperson zeigen.“ Pauli nickte wohlwollend. „Exakt so! Wir müssen so früh wie möglich einschreiten. Und damit fünf Minuten Pause, meine Damen und Herren.“ Die Schar ging hinaus auf den Hof, Pauli öffnete ein Fenster.
Absichtslos hatte ich ein Stück Kreide von der Tafel genommen. „Sie bringen den Leuten hier also Krieg bei.“ Er lächelte. „Nennen wir es mal eine überlebenssichernde Kulturtechnik. Mobbing ist heute längst zur Schlüsselqualifikation geworden, um erfolgreich zu sein.“ „Sie meinen, um auf dem Arbeitsmarkt nicht wie der letzte Idiot dazustehen und die beschissensten Jobs abzukriegen – wenn es denn überhaupt für Arbeit reicht?“ Noch immer lag dieses leicht bittere Lächeln um Paulis Lippen. „Ich rede längst von einer sozialen Qualifikation.“ „Sie meinen, wer nicht mobbt, der ist gesellschaftlich abgeschrieben?“ Pauli nickte. „Ja. So ist es.“ Erschrocken legte ich das Kreidestück zurück an die Tafel. „Sie werden es überall in der Gesellschaft finden, oben und unten, in Familien und Betrieben und Vereinen, Parteien und Hausgemeinschaften. Wer sich nicht zur Wehr setzt, ist schon verloren.“
Ich blätterte in den Unterlagen auf dem Tisch. „Schlechte Organisation, Monotonie, mangelhafte Kompetenzverteilung – das liest sich wie eine Beschreibung von Deutschland.“ „Richtig“, bestätigte er. „Die Gesellschaft ist tief gespalten, sie wird tief gespalten. Man weiß auch nicht, an wen man sich noch halten soll – sie haben alle ein Legitimationsproblem, die uns eigentlich eine feste Struktur geben sollten.“ „Die Politik?“ Er winkte ab. „Wenn es das nur wäre. Die Kirche verheizt die Moral, die Gewerkschaften lassen sich von der Industrie breitschlagen, die Medien heucheln Neutralität vor, Wirtschaftswissenschaftler quaken von einem Aufschwung, den es gar nicht gibt, weil das Geld dazu schon nicht mehr existiert. Die Parteien sind doch längst nur noch ein Klecks oben auf diesem Haufen. Man wird zerrieben und an den Rand gedrängt.“ „Aber woher kommt das bloß? Ist es allein die Spaltung?“ Professor Pauli putzte seine Brille mit großer Gründlichkeit. „Aus der Spaltung resultiert, dass sich die Menschen in die sozialen Tiere verwandeln. Wir werden wieder zu Arten: der Unternehmer und der Arbeitnehmer, der Arme und der Reiche und der Mittelständler, Deutsche und Ausländer, Liberale und Konservative, und es geht letztlich nur darum, die eigene Art zu erhalten.“ Ich schluckte. Er fuhr fort. „Sie wussten es vielleicht nicht, aber Mobbing ist eine durchaus natürliche Reaktion im Tierreich. Eine Gruppe greift einen überlegenen Gegner an, zum Beispiel einen Fressfeind. Dutzende von Gänsen gehen auf einen Fuchs los. Die Mittelschicht hetzt gegen Arme, die Arbeitsverarmten verteidigen sich, indem sie Arbeitslose angreifen. Die Arten vereinzeln sich. Sie sehen, dass der Kampf nichts verspricht, aber sie haben wenigstens einen Verbündeten in dieser sinnlosen Auseinandersetzung.“ „Sie meinen damit eine Art Gruppenzwang?“ „Durchaus“, bestätigte er, „sie greifen an, was die Art durch Abweichung schwächt.“
Die Unterrichtsmappe enthielt viele praktische Kniffe, wie man sich etwa eines Vorgesetzten zu entledigen habe, wie man aber auch als Chef seine Angestellten gezielt diskreditieren konnte, Tipps für einen Krieg über dem Gartenzaun, Winke für ein zerrüttetes Verhältnis mit den Geschwistern lange vor einem Erbschaftsstreit, Ratschläge für Querulanten und solche, die es werden wollten. „Und das hilft?“ „Der Erfolg gibt uns Recht“, lächelte Pauli. „Betrachten Sie diesen Kurs als eine kleine Hilfe zur Selbstverteidigung. Sie müssen ja irgendwie bestehen in einer Gesellschaft, in der die Gegner Sie vernichten wollen, um nicht auf ihren gewohnten Luxus zu verzichten. Es mag etwas kompliziert sein mit dem Gewissen, aber Sie kennen das ja – das Fressen, die Moral…“
Die ersten Schüler waren wieder in den Raum zurückgekehrt und nahmen ihre Plätze ein. Ich verabschiedete mich von Professor Pauli. Da stand auch die Blonde wieder in der Tür. Im Vorbeigehen flüsterte ich ihr zu: „Übrigens, dieser Typ mit dem Seitenscheitel, der hat gesagt, Sie seien leicht zu haben?“ Und ging den ganzen Querflur lang, bis ich auf den Korridor stieß, der zum Ausgang führt.
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