„Schauen Sie sich in aller Ruhe um.“ Doktor Evelinde Rasmussen tippte mit dem Finger auf die Tafel an der Wand. „Hier und da sind die Fahrstühle, dort ist der Reden-Saal, und hier gleich links ist die Garderobe. Legen Sie doch ab.“ Es war etwas nasskalt, so war ich im Mantel gekommen. Rasmussens Vorbereitungsinstitut lag aber auch zu schön in den Weinbergen versteckt, ein schnuckelig kleines Schlösschen mit rosaroter Fassade und vier putzigen Türmchen. Niemand ahnte, dass hier die künftige Elite aus Politik, Wirtschaft und Medien ihre Ausbildung zielsicher genoss. „Die fachexterne Kommunikation – also die Botschaft, die aus der Politik an Nichtpolitiker gerichtet wird – sie krankt zunehmend daran, dass wir keine verlässlichen Strukturen vorfinden.“ Rasmussen zog eine Mappe aus dem Schreibtisch. „Sehen Sie sich nur die Berichterstattung zu diesem Bahnhof an. Oder den CSU-Vorsitzenden. Oder die Sozialgesetzgebung. Lauter mangelhafte Versuche. Das sollte besser klappen. Und das wird besser klappen.“ „Sie haben hier also eine Fachschule für Rhetorik, richtig?“ Sie lächelte. „Nicht ganz. Aber kommen Sie mit in den Kurs. Sie sehen es schon.“
Zwei Dutzend Studierende saßen kerzengerade auf den Stuhlkanten, als wir den Saal betraten. Ein junger, schneidiger Offizierstyp fuchtelte mit dem Zeigestock vor der Tafel herum. „Da die Löhne zu hoch sind, müssen wir sie senken.“ Eine junge Elevin schnickste mit dem Finger und stand auf, um zu antworten. „Da die Vorgängerregierung die Löhne nicht genügend gesenkt hat, sind sie immer noch zu hoch und müssen gesenkt werden.“ Der Magister nickte. „Richtig“, lobte er, „die anderen haben Schuld. Und wenn sie schon einmal etwas richtig gemacht haben, dann war es entweder zu viel oder zu wenig. – Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.“ Jetzt stieg ein unauffälliger, graumäusiger Schüler aus der letzten Bank schier in die Luft. „Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.“ Der Pädagoge nickte. „So ist’s recht: eine Befindlichkeit, die an sich Folge ist, wie eine Ursache behandeln und ohne Rücksicht auf mögliche Korrelationen sofort Maßnahmen fordern.“ Der Studiosus lief zur Hochform auf. „Und dann die Opfer der Ausgrenzung“, sagte er mit roten Ohren auf, „zu den Tätern der Integration machen.“ Der Lehrer zückte schon seinen Notenkalender; bevor er den Einser eintrug, machte er noch einmal die Probe aufs Exempel. „Und warum nehmen diese Opfer nicht an einer Debatte über Integration teil?“ Die Antwort kam prompt. „Sie nehmen nicht teil und sind deshalb nicht diskursfähig, weil die Deutschen die Debatte ja gar nicht führen wollen.“ „Sie sehen“, sagte Rasmussen nicht ohne einen Anflug von Stolz, „wir bereiten den Nachwuchs praxisnah auf seine Aufgaben vor. Sie werden hervorragende Fachkräfte.“
Der Reden-Saal, ein kleines Auditorium, war angenehm gefüllt. Ein Student übte sich in Großraumrhetorik. „Deutschland ist auf einem guten Weg“, deklamierte er. „Niemals zuvor gab es dank der großen Wirtschaftsleistung eine so sichere und verlässliche Lohn- und Sozialpolitik. Zugleich schickt sich die Bundesrepublik an, in den Punkten Bildung und erneuerbare Energie zum Spitzenreiter in Europa zu werden – allein durch den Ausbau der regenerativen Energien werden wir eine solche Menge an neuen Arbeitsplätzen schaffen, dass wir durch die steigenden Steuereinnahmen…“ „Sagen Sie mal“, fragte ich die Institutsleiterin, „was nehmen denn die? Und was soll das sein? kreative Volksverdummung?“ „Nein, hören Sie doch hin.“ Doktor Rasmussen zog eine Augenbraue mokant in die Höhe. „Sie lügen.“ Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. „Sie lügen? Was habe ich mir darunter vorzustellen?“ „Dass sie die Unwahrheit sagen.“ Ihr Wort klang wie ein Säbelhieb. „Sie üben sich in der Lüge, die man für das politische Geschäft braucht.“
Unterdessen hatten sich mehrere Studentinnen zu uns gesetzt. „Wir lernen hier, ein neues Weltbild zu erschaffen, indem wir die Fantasievorstellungen der Menschen zu einem gemeinsam denkfähigen Gebilde fügen.“ Offenbar glaubte sie schon selbst, was sie mir da erklärte. „Wir üben uns ein in dem flexiblen Umgang mit gefühlten Wahrheiten, mutmaßlichen Statistiken, für wahr genommenen Klischees – wir sagen Ihnen, was Sie hören wollen.“ Ich wies das von mir; die Wahrheit wollte ich hören, auch dann, wenn sie schmerzte, aber nicht vorsätzlich angelogen werden. „Aber ja doch, Sie wollen beschissen werden! Und Sie wissen das auch. Glauben Sie etwa den Wahlversprechen eines Politikers? etwa auch dessen, den Sie hinterher doch wählen?“
Rasmussen zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von meiner Ablehnung. „Natürlich kann das nur so funktionieren. Und Sie wissen selbst, dass die Gesellschaft aus Lügen besteht, größtenteils aus plumpen und unverschämten Lügen. Es ist ein Konglomerat aus immer wieder neu formierten Halb- und Unwahrheiten. Wir bringen den jungen Leuten bei, sich darin zurechtzufinden. Man muss die Lüge systematisieren, dann wird sie zur Wahrheit. Und zur Wirklichkeit.“ „Gut“, wandte ich ein, „die Wirtschaft scheint ein Paralleluniversum aufgebraut zu haben. Das leuchtet mir ein. Aber wozu muss man da so ausgefeilt lügen lernen?“ Sie lächelte wieder. „Denken Sie an das Rechtswesen. Das fußt auch auf einer eigenen Anschauung, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Und was meinen Sie, was man braucht, um in die Politik zu gehen oder in die Diplomatie, wo Lüge und Wahrheit schon nicht mehr zu unterscheiden sind?“ Da fiel es mir auf, dass sie Recht hatte. „Sagen Sie jedem seine eigene Lüge. Und hüten Sie sich, alle gemeinsam belügen zu wollen. Denn dann haben Sie schnell eine Einheit gegen sich.“
Kaum war es Mittag, da fing es wieder an zu nieseln. Ich schlüpfte in den Mantel. Doktor Rasmussen reichte mir die Hand. „Haben Sie vielen Dank für Ihren Besuch“, sagte sie. „Sie sollten bald einmal wiederkommen.“ Ich schritt über den feucht knirschenden Kiesweg. Plötzlich hielt ich an. Wie hatte sie das gemeint?
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