Seine Augen flackerten wirr, seine Hände krallten sich in meine Rockaufschläge. „Bitte lassen Sie mich nicht alleine!“ Säcker war wirklich mit den Nerven am Ende, er blickte sich um wie gehetztes Wild, und schon beim kleinsten Laut zuckte er in sich zusammen. „Da sind sie“, keuchte er, „da kommen sie wieder, sie wollen mich holen! Schnell, helfen Sie mir! Retten Sie mich!“
In der Tat hallten die Stiefeltritte ziemlich hart wider auf dem abgeschabten Linoleumboden des Katasteramtes. Säcker zitterte am ganzen Leib. „Sie müssen mir helfen, die dürfen mich nicht sehen, verstehen Sie?“ Ich schwankte hin und her, denn einerseits spürte ich Mitleid, andererseits kannte ich ihn und wusste, wie sehr mir seine weinerliche Stimme noch auf den Geist gehen würde. Schnell riss ich die Tür zu einem Abstellraum auf und schob ihn hinein. „So, marsch – ich hole Sie raus, wenn die vorbei sind. Dann können Sie mir auch alles erklären.“ Ehe ich mich versah, hatte er mich auch schon am Schlafittchen gepackt. Eisern klammerte sich sein Griff um meinen Arm. „Sie kommen mit“, presste Säcker hervor. „Sie werden mich jetzt nicht allein lassen!“ Und er zerrte mich mit sich in das enge, staubige Gelass, in dem es kein Licht gab, keine Glühbirne an der Decke, keine Möbel, nur durcheinandergewürfelte Stühle und Kisten und Kästen und Tische und Landkarten und etwas sehr dicht von Spinnweben Verhangenes, das aussah wie ein überdimensionales Kaninchen in Grüngrau, aber ich hatte mich wohl getäuscht.
Er schlängelte sich sofort zu dem Fenster, das auf den Innenhof ging, ruckelte die Klemmhaken beinahe lautlos auf und öffnete die Scheibe einen winzigen Spalt weit, gerade so viel, um die Nase in die nieselige Nebelluft zu stecken. Hastig steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und inhalierte tief den Tabakrauch. „Das ist echt furchtbar“, stammelte er. „Sie machen sich keine Vorstellung, wie es hier seit der Reform zugeht. Wir werden gegängelt wie die Kleinkinder, ausgespäht, niedergemacht – es ist eine Schande!“ Ich rieb mir das Kinn. „Sie sagten doch, Sie selbst hätten die FDP…“ „Nie wieder!“ Säcker blitzte mich aus zornigen Augen an. „Im Leben nicht! Dieses Pack hat doch nichts anderes zu tun als das ganze Volk in die – Vorsicht!“ Hastig schmiss er die Zigarette aus dem Fenster, zog es wieder zu und kauerte sich auf den Boden. „Kommen Sie runter“, wisperte er mir zu. „Wenn sie die Tür öffnen, wird man Sie sehen.“
Einigen Minuten später schlenderten wir ganz unauffällig über den Korridor des Südflügels, als wir in die beiden Schwarzgekleideten hineinliefen. „Dann wollen wir doch mal“, grinste der dicke Kahlkopf, „wir hatten ja schon das Vergnügen.“ Er klopfte Säcker am ganzen Körper ab, als hätte der an seinem Körper Schusswaffen versteckt. Ich fuhr in die Hosentasche, um mir die Nase zu putzen; zu meiner Überraschung ertastete ich ein Päckchen Zigaretten. Der kleine Mann im schwarzen Hemd wackelte ein bisschen mit dem kümmerlichen Schnäuzer, blieb aber stumm. Da zog der Dicke mit einem Wutschrei ein Bonbonpapier aus Säckers Brusttasche. „Da haben wir’s ja!“ Höhnisch rieb der Fettsack ihm das Fetzchen Zellophan unter die Nase. „Fruchtmanns Sahnetraum – das können wir uns also leisten bei unserem Gehalt? Mit diesen Zuckerbomben sorgen wir für Fettsucht, Zahnausfall und steigende Gesundheitskosten?“ „Ich habe es nur eingesteckt, weil meine Tochter keinen Papierkorb gefunden hat!“ Säcker rang seine Hände. „Sie müssen mir das einfach glauben!“ Der Fette ließ ab von ihm. „Einmal noch“, zischte er, „dann zahlst Du zwanzig Prozent höhere Beiträge!“
„Was war denn das?“ Säcker schaute mich entgeistert an. „Sie lesen wohl keine Zeitung, was? oder sind Sie nicht gesetzlich krankenversichert?“ Beschämt blickte ich zu Boden. „Das ist diese Kontrolltruppe, die darüber wacht, dass sich die gesetzlich Versicherten regelkonform verhalten. Nur in Maßen Zucker und Fleisch und Fett und Salz, kein Alkohol, Rauchverbot…“ „… während die Politiker sich fotografieren lassen mit Haxe und Knödeln und einer Maß Bier, stimmt’s?“ „Stimmt“, grantelte Säcker. „Und sie sind ewig hinter uns her. Überall muss man mit den Health Angels rechnen.“ „Mit wem?“ Ich konnte es nicht glauben. „Wie immer, sie haben eine externe Marketing-Agentur mit der Sache beauftragt, und als die gehört haben, dass es um einen FDP-Minister ging…“ „… also um Gewalt, Prostitution, Schutzgelderpressung und finstere Machenschaften im Hinterzimmer…“ „… fiel ihnen natürlich sofort das hier ein. Health Angels. Tätig für Röslers Gesundheitsdeformation: wer einmal bei einem Regelverstoß erwischt wird, zahlt zehn Prozent mehr, dann zwanzig, und ab fünfzig Prozent wird man rausgeschmissen.“ Ich stutzte. „Sie haben aber doch schon die zwanzig angedroht bekommen?“ Säcker schnaufte. „Vorige Woche haben sie mich in der Kantine erwischt, als ich den Salzstreuer über das Eibrötchen hielt. Ich habe nicht zweimal gesalzen, wie es meinem Beitragssatz entspricht, sondern dreimal.“
Da standen sie auch schon in der Glastür. Ein hagerer Mittdreißiger, schlecht rasiert, innen und außen verknittert, ein aufgeschossener Blondinerich mit straff zurückgekämmten Haaren und Quarkhaut über dem schütteren Bartwuchs. „Dann wollen wir mal“, ließ der schneidige Obermotz seine betont joviale Stimme vernehmen. „Haben Sie denn auch Ihre zuckerfreien Erfrischungswaren dabei, wie es Regel 562 vorschreibt?“ Säcker nestelte verzweifelt in seinen Anzugtaschen, unterdessen musterte mich der Lange. Spott spielte um seine Lippen. „Ich wette“, sagte er in einem schneidenden Tonfall, „bei Ihnen wird es gleich schmerzhaft, wenn auch nicht für mich.“ Ruckartig hielt ich ihm den Ausweis unter die Nase – es war, ich muss es zugeben, nur die Kundenkarte von Böhmanns Tapetenparadies, mein Arbeitszimmer hatte es schon seit über einem Jahr nötig gehabt – und sah, wie er zusammenfuhr. „Ich wusste nicht, dass Sie von der Revision sind“, stotterte der Kassenrambo, „Sie waren doch gar nicht angekündigt.“ „Keiner erwartet die Spanische Inquisition“, fauchte ich. „Und jetzt zu uns beiden, mein Lieber. Ich werde den Vorgesetzten des Vorgesetzten Ihres Vorgesetzten zusammenfalten, wenn Sie nicht kooperieren, klar?“ Ein beflissenes Nicken gab mir Antwort. Ich wandte mich an den Unrasierten. „Gefrühstückt?“ „Zwei Scheiben Vollkorn, zuckerfreie Marmelade, eine Tasse Tee ohne Zucker und Milch, ein dreiviertel Glas Orangensaft aus Orangensaftkonzentrat.“ „Und kein Apfel?“ Er guckte verschüchtert. „Bin ich denn hier von Idioten umgeben“, brüllte ich ansatzlos, „wozu erlassen wir denn die Dienstanweisungen, wenn es keine Sau liest? Das Ministerium hat doch vor drei Tagen festgestellt, dass ein Apfel zwanzig Prozent des täglichen Bedarfs an Ballaststoffen enthält – das Polyphenol senkt sogar den Cholesterinspiegel!“ Ich verlor langsam wirklich die Contenance.
Die Verhandlungen selbst dauerten nur wenige Minuten; Säcker würde ab sofort seine Ruhe haben, die Sherifftruppe ein Haus weniger kontrollieren, und die Ein-Euro-Jobber müssten nicht um ihre Zukunft in der Sicherheitsfirma bangen. Der blonde Schlacks dankte mir überaus herzlich. „Ach, nicht der Rede wert“, wehrte ich gelassen ab und ließ das Zigarettenpäckchen in seine Hand gleiten. „Und wenn Sie mal eine Quelle brauchen, wissen Sie ja Bescheid.“
Satzspiegel