Todsicher

28 10 2010

Die Herbstsonne schien mild auf den Rasen. Unter der Kastanie häuften sich aufgeplatzte, stachelige Hüllen. Braun erglänzten die Früchte. Die Vögel zwitscherten. Ein letzter Schmetterling gaukelte durch die Luft. Glaskow nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette, drückte sie in den großen Kristallteller und schritt auf die Tür zu. Der Boden knackte kalt unter seinen Schuhen. Ihn fröstelte.

Die cremefarbene Fassade reflektierte die Sonne ein bisschen. Schoppmanns hatten ihren Bungalow sofort nach dem Einzug schwarz verklinkern lassen. Weiter rechts wuchs eine gewaltige Hecke. Kaum jemand wusste, wer sich dahinter verbarg. Nur wenige waren noch wach und lauschten auf, wenn die schweren Limousinen durch das eiserne Gatter rollten. Manche sagten, das rotbraune Haus gehöre einem Milliardär, der alle Wochen wieder eine neue Kurtisane dort unterbringe; andere behaupteten, es residiere dort ein ehemaliger Minister, in elf Staaten als Kriegsverbrecher gesucht und in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Einer, vielleicht auch zwei ahnten, dass das eine das andere nicht ausschließen müsse. Glaskow blinzelte in den Himmel, der wie dünnscherbiges Glas hinter trüben Wolken lag.

„Das kann da aber nicht liegen.“ Der fette Mann riss ihn aus der Stille. Behäbig wie ein großer Gartenzwerg stand der Alte an der Rasenkante und zeigte mit dem Finger auf das Kinderrad,.das dort auf dem Grün lag. Glaskow lief bedächtig an dem kleinen, metallenen Gegenstand vorbei, streifte den glitzernden Rahmen mit einem nachlässigen Blick, und schon stand er dem Mann gegenüber. „Sie, das kann hier nicht…“ „Kann es nicht?“ Scharf sah er den Eindringling an. „Ich meine“, stammelte der Fette, „das ist doch ein Kinderfahrrad, und wer hat denn hier ein Kinderfahrrad, und es gehört sich ja nicht, wenn so ein Kinderfahrrad…“ „Schnauze“, zischte Glaskow. „Das ist mein Haus, das ist mein Rasen. Das Rad gehört meiner Tochter. Es gehört mir. Hören Sie?“ Seine Augen loderten. „Mir! Das hier gehört mir!“ „Aber wie sieht das denn aus“, begehrte der Mann auf. „Schauen Sie, ich will Sie nicht kritisieren – aber Sie sehen doch…“ „Mir!“ Glaskow hatte einen Satz auf ihn zu gemacht und packte den Mann am Arm. „Das ist mein Haus“, schrie er, „das ist mein Grundstück, auf dem Sie stehen! Verschwinden Sie, oder ich werde…“

Mit fahrigen Fingern zündete Glaskow eine neue Zigarette an. Fast zwei Jahre war das nun so gegangen. Zwei Jahre, in denen man sie ignoriert hatte, freundlich gegrüßt und kurz vor dem ersten Jahrestag ihres Zuzugs als neue Nachbarn bemerkt. Zwei Jahre, in denen Glaskow versucht war, den Konzertflügel im Terrassenzimmer mit dem Beil zu zerhacken, nur um zu sehen, ob jemand den Lärm bemerkt hätte. Zwei Jahre, in denen er von seinem Nachbarn nur wusste, dass es sich um jemanden handelte, der sein Haus noch nie betreten hatte. Ein Dutzend Afrikaner versorgte das Anwesen, doch mehr war nie zu sehen gewesen. Verhältnismäßig wenig, wo kaum so viele ständig hier lebten.

Das kleine Kästchen an der Tür surrte. „Sergej Andrejewitsch“, krackste die dünne Stimme aus dem kleinen Lautsprecher, „ich bin’s. Dekabr!“ „Dekabr“, antwortete Glaskow hastig und drückte auf den weißen Knopf. Irgendwo am Tor löste sich jetzt die elektrische Sperre und ließ Nikolai Iwanowitsch Sadowkin eintreten.

„Kalt geworden“, sagte Sadowkin und trat in die geräumige Halle. Der Kamin an der Westseite gab dem Haus ein ungewohnt altmodisches, wenngleich behagliches Ambiente. Zwei kleine, schmucklos gerahmte Gauguins gaben der hellen Vertäfelung die Farbigkeit zurück. An der Ostseite stand ein zierlicher Sekretär, daneben einer der acht Louis-Quatorze-Stühle, gegenüber das Stehpult. „Vera und die Kleine?“ „Sind zu Hause“, gab Glaskow dumpf zurück. „Klar“, meinte Sadowkin. „Natürlich.“

Glaskow stand an der Fensterfront, die Hände in die Taschen vergraben. „Zwei Jahre“, presste er hervor. „Gottverdammte Scheiße, zwei Jahre. Zwei Jahre!“ „Komm“, sagte der Andere besänftigend, „Serioscha, komm – es ist ja vorbei. Du hast es Dir vielleicht einfach vorgestellt hier, aber es ist ja vorbei.“ „Zwei Jahre“, presste Glaskow mit kaum gedämpftem Hass hervor. „Nika, sie haben mich und Vera – das Kind – uns hier gehalten wie im Knast. Hinter Zäunen und Mauern. Es war zum Kotzen.“ Sadowkin lächelte. „Siebentausend pro Monat, dafür kann man eine gewisse Sicherheit verlangen.“ „Nein“, entgegnete Sergej, „das war es nicht. Wenn Du weißt, einen Kilometer weiter ist der Wohnturm für die Fabrikarbeiter, die nur einmal im Monat Freigang haben. Wenn Dir klar ist, dass Du nur einen Knopf auf dem Telefon zu drücken brauchst, und schon kommen bewaffnete Truppen, die jeden niederschießen, den sie nicht als Gast identifizieren können. Wenn Du einmal begriffen hast, dass sie nichts begriffen haben. Dass sie sich eingrenzen und damit ausgrenzen.“ Nika blickte stumm auf den Boden.

„Ich habe es nie ausgehalten“, begann Glaskow, „denn die Bediensteten kamen von draußen. Frau Webler war unser Hausmädchen. Eine liebe, gute Frau.“ Er zeigte auf eine Kinderzeichnung neben dem Sekretär. „Schau, sie hat einen kleinen Sohn. Er hat sich so gefreut, als wir im Zoo waren. Die Elefanten. Nika, ich habe nie ein glücklicheres Kind gesehen.“ „Ja, ich verstehe.“ Sadowkin spürte, wie es hinter seiner Stirn zu hämmern begann. Diese Jahre, sie waren auch ihm ein Albtraum gewesen. Zeit, die ihn zur Bewegungslosigkeit verurteilte, ohne Bewährung, ohne mildernde Umstände. Er hatte das Urteil annehmen müssen, und er hatte gewartet, in Tuschino, wo die anderen waren, die man als Ingenieure ausgebildet hatte, Schnittke und Hartmann. Immer diese Zeit, die wie ein Mühlrad anfing, wenn sie hatte aufhören wollen. „Du kannst ihr nicht einmal die Kleider von der Kleinen geben. Sie wird alleine sein.“ „Ich weiß nicht, was mit ihr geschieht.“ Sergej Andrejewitsch drehte sich abrupt um. „Hoffentlich überlebt sie es. Sie hat ja nichts getan.“ „Natürlich nicht“, bestärkte ihn Sadowkin. „Natürlich nicht.“

Mit einem trockenen Schnalzen sprang die Feder auf; der Sekretär gab sein grünes Tuch preis. „Du weißt, worauf es ankommt. Dies ist der Code. Du kennst den Lageplan. Es sind noch knapp zehn Minuten. Reicht es? Ist es genug? Wird es gehen?“ Nikolai Iwanowitsch streifte die Handschuhe über. „Sechshundert Schuss. Es wird reichen.“