„Und das sollte man in Deutschland doch wohl noch sagen können dürfen. Meine Meinung!“ „Gut, und der Nächste.“ Sintzbacher notierte etwas auf dem Klemmbrett, der kleine Mann im mausgrauen Kaufhausanzug blickte nervös um sich, machte aber keinerlei Anstalten, aus dem Scheinwerferlicht zu gehen. „Der Nächste!“ Die Stimme des Aufnahmeleiters bekam einen leicht drohenden Unterton, aber es half nichts. Siebels selbst musste nach vorne laufen. „Lieber Herr äääh…“, sprach der routinierte Fernsehproduzent und blickte verstohlen auf Sintzbachers Liste, „Größle, wenn Sie jetzt freundlicherweise aus dem Bild gehen könnten, danke.“
„Ich möchte Sie ungern kritisieren, aber dieses Format ist ungewöhnlich sperrig.“ Er ließ sich auf den Klappstuhl neben meinem fallen und griff nach dem Plastikbecher mit dem Plastikkaffee. „Wir werden sehen“, schlürfte Siebels, „bis jetzt bin ich ganz zufrieden.“ Mit einem Handzeichen bedeutete er Sintzbacher, die nächste Kandidatin vorzustellen. Es war eine Verwaltungsfachkraft, unscheinbar und vollkommen humorlos. Sie fummelte linkisch am Mikrofon herum. „Der Bundestag sollte sich einmal mit den Kosten der Krankenhäuser befassen – hier wird doch manchmal auch nicht immer so korrekt abgerechnet, habe ich mal gelesen.“ „Etwas mehr Action“, ermunterte Sintzbacher. „Sie dürfen ruhig in die Kamera schauen.“ „Der Bundestag…“ Sie brach ab, überrascht von ihrer eigenen Stimme. „Ja, das war schon recht schön, aber bitte beachten Sie, dass das hier keine Fragestunde ist. Sie wollen doch schließlich Ministerin werden, richtig? Also bitte.“ Verwirrt fuhr sich die amtsverschimmelte Bürofrau durch die dunkelgrauen, schlaff herabhängenden Haare. „Wenn ich Ministerin wäre“, setzte sie an, „dann würde ich mal nachsehen, ob man nicht die Krankenhäuser genauer nach den Kosten fragen kann. Also wegen der Krankenversicherung und so. Weil das ja auch teuer ist, dass das…“ „Danke“, schnitt Sintzbacher ihr Wort ab. „Das reicht.“
Siebels hatte den Auftritt der Kandidatin mit stoischer Ruhe ertragen. Ich hatte von ihm, dem Altmeister der Fernsehkultur, der schon so viele Sendungen kommen und gehen sah, auch nicht viel anderes erwartet. Er rührte gemächlich in seinem Becher, zündete sich eine neue Zigarette an und paffte den Rauch in die stickige Studioluft. „Da sehen Sie, wie die Gesellschaft inzwischen drauf ist.“ „Sie meinen, weil sich die Menschen gar nicht mehr richtig klar ausdrücken wollen?“ Siebels schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Sie sind so mutlos und verzagt. Kein Selbstbewusstsein. Keine Fantasie.“ „Fantasie?“ „Eben.“ Er nickte. „Man sagt den Leuten: Du wirst Minister. Du kannst alles ändern, Du hast jetzt die Macht. Und sie? Hätte, wäre, könnte, aus. Keiner traut sich, es beim Namen zu nennen. Total chloroformiert.“ Er zog hastig an seinem Glimmstängel.
Der junge Mann war mit federnden Schritten in den Kamerabereich gelaufen, was heißt gelaufen: gehüpft. Strotzend vor Selbstzufriedenheit und im Vollbesitz seiner ganzen Männlichkeit warf er sich in Pose vor dem Stahlrohrgestell, öffnete zwei Knöpfe seines Jacketts und schmetterte los: „Mein Name ist Dirk Werner Lotzmann und ich bin Ihr Innenminister. Wir werden Sie wirksam schützen – auch in Zukunft werden Terroristen keine Chance haben, unsere Sicherheit in Deutschland zu…“ Blitzartig fuhr Siebels auf und langte nach der Flüstertüte. „Fertig“, brüllte er. Der eben noch vor lauter Ego aufgepumpte Law-and-order-Bulle sank in sich zusammen wie ein Gummischweinchen, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. „Aber ich“, stammelte er, „ich war noch gar nicht…“ „Können wir dann bitte?“ Siebels machte eine ungehaltene Geste. „Wir haben ja nicht den ganzen Tag Zeit. Und Action!“ „Ja also, dass ich der Innenminister bin… und dann werden wir die äääh… die Dings, also hier jetzt… die…“ „Gut“, kicherte Siebels. „Sehr gut, voll draufgehalten. Der Mann blamiert sich bis auf die Knochen!“ „Ihre medienethische Einstellung lässt erheblich zu wünschen übrig“, tadelte ich ihn. Doch er winkte ab. „Die meisten sehen sich Casting-Sendungen doch eh nur an, um zu genießen, wie sich andere zum Affen machen. Sie kommen auch nicht in eine Sendung, wenn Sie nicht ganz genau wissen, dass Sie hier ein Opfer sind. Sie werden fertiggemacht. Vor laufender Kamera und zur besten Sendezeit. Ob Se dann hinterher wirklich Superminister werden, ob Sie überhaupt jemals etwas mit Politik zu tun haben werden – was weiß ich?“ „Sie meinen, man schaut sich einfach Möchtegerns beim Straucheln an und erwartet nicht, dass hier der kommende Minister entdeckt wird?“ Siebels schaute mich beinahe amüsiert an. „Erwarten Sie das? Wer eine solche Plattform braucht, um populistischen Worthülsen abzusondern, ist im Regelfall ohnehin nicht für öffentliche Ämter zu gebrauchen.“ „Aber die politische Klasse“, wandte ich ein, „wird sich doch düpiert vorkommen. Man führt sie ja geradezu vor.“ „Durchaus nicht“, widersprach Siebels. „Es ist eine Win-Win-Situation. Die Zuschauer sehen es und erfahren, dass Politiker auch nicht sehr viel intelligenter sind als die Bevölkerung. Die Politiker sehen es und stellen fest, dass sie auch nicht so sehr viel dümmer sind als die Dümmsten, die sich hier vor die Kamera stellen. Alle sind zufrieden, was verlangen Sie mehr?“
Das junge Mädchen im adretten Kostüm trat von einem Stöckel auf den anderen. „Als Ministerin würde ich mehr Binnenkonsum anordnen.“ Wir sahen einander an. Er hatte ja so Recht.
Satzspiegel